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Rodins Zeichnungen

(1904)

Rodins Bedeutung als Bildhauer ist bekannt. Er hat das Licht dem Stein wiedererobert. Zum erstenmal seit der griechischen Antike schuf er Bildwerke, die im Licht wie in einer ihnen eigenen Atmosphäre schwimmen.

Er erreicht dies durch die Feinheit der Beziehungen zwischen Licht und Schatten, durch die raffinierte Verknüpfung von Licht- und Schattenwerten zu einer deutlichen, das Gefühl und Auge fesselnden Arabeske. An anderen Gegenständen in ihrer Verworrenheit unterscheidet das Auge nicht das Licht als besonderes Element. An Rodins Figuren fühlt es das Licht klar heraus, wie das Ohr die Töne einer Melodie aus dem Straßengeräusch: deshalb scheint an ihnen dann das Licht zu haften und zu ruhen. Sie sind wieder wie der Parthenon, wie der Barberinische Faun in München, Lichtarabesken, im Gegensatz zu der lichtlosen, »kalten« Plastik der Klassizisten, etwa Canovas oder Thorwaldsens.

Aber das Ziel, das Rodin verfolgt, ist dann weiterhin noch etwas anderes: er gelangte zu seiner Beherrschung des Lichts auf der Suche nach dem Leben. Er fand im Licht, in der zarten Flüchtigkeit des Lichts, das vollkommenste Ausdrucksmittel für die Flüchtigkeit des Lebens, für das ewige Werden der Dinge, und vor allem für das Blühen und Verwelken des menschlichen Körpers und Fleisches. Mit seiner Klaviatur von Licht will er in das Leben bis in seine intimsten, bis in seine seelischen Regungen eindringen. Die Flüchtigkeit des körperlichen Scheins ist ja nichts als der Fluß des inneren Erlebens. Wer jene packt, hat auch dieses. Das Äußere wird dann allein durch die Verfeinerung seines Lebens, ohne Symbol oder literarische Beimengsel, zum vollkommensten Ausdruck des Inneren. So faßt Rodin durch das Licht auch die Seele.

Selbstverständlich lassen solche flüchtigen Lebensmomente sich nicht in die Umrisse bannen, die für antike Kultbilder geschaffen sind und deren Wesen gerade im Gegenteil das »Typische« ist; sondern dieser Ausdruck des intimsten Lebens fordert jedesmal neue Umrißlinien der Figur. Aber andererseits will Rodin, daß die Silhouette seiner Figur ebenso packend wie der Umriß einer Antike sei als Ornament. So ist er denn fortgesetzt auf der Suche nach Stellungen und Silhouetten, die das Leben in seiner Flüchtigkeit ohne Korrektur wiedergeben, aber andererseits als packende Arabeske auf das Auge wirken.

Dieses Suchen zeigen die Zeichnungen. Er veranlaßt ein Modell, sich frei im Atelier zu bewegen, und wenn ihn irgend eine Linie, ein Profil am Körper packt, das Leben und zugleich ornamentale Kraft hat, notiert er es rasch hin. Nachher zieht er die Linien mit Tinte nach und füllt die Umrisse mit Wasserfarben aus, um sie auf dem weißen Blatt als Silhouette herauszuheben. Also was er sucht, ist hier nicht die anatomisch richtige Form, die das A-B-C der Kunst ist und die er natürlich meisterhaft beherrscht (siehe hier z. B. die Jünglingsstatue, L'âge d'airain); sondern die meisterhafte Kenntnis dieses A-B-C der Kunst ist die Voraussetzung, von der aus erst solche Skizzen wie Rodins möglich sind, die gerade feststellen wollen, wie und wodurch die Erscheinungen des Lebens von denen des ruhenden Körpers und der toten anatomischen Form abweichen, um aus diesen bewegten Silhouetten ebenso packende Umrißarabesken zu gewinnen wie die ältere Kunst aus den Linien des ruhenden Menschen.

So schafft Rodin wunderbare, vom Hauch des Lebens noch gewärmte menschliche Ornamente, die sich geistesverwandt an gewisse Skizzen Michelangelos und an die Bewegungsstudien der großen japanischen Meister anschließen, und die sich wohl als Gegen- und Seitenstück mit den Ornamentaltypen vergleichen lassen, die die antike Kunst aus der Betrachtung des ruhenden Menschen gewonnen hatte.


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