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Gerhart Hauptmann Bekenntnis und Erinnerung

(1922)

Gerhart Hauptmann kennt nur einen Stoff, der sich in seiner Phantasie bald tragisch, bald tragikomisch, bald märchenhaft gestaltet: die Sünde wider die menschliche Gemeinschaft, die Sünde wider das Herz. Eine Verdunkelung des Herzens ist für ihn der Anfang jeder Tragödie und jeder Komödie: der Sündenfall, der den Menschen aus jedem irdischen Paradiese hinaustreibt. Wo die Herzen dunkel werden, fängt das Zwielicht an, in dem sie aneinander vorbeigreifen, gegeneinander anrennen, einander verwunden, einander über den Rand des Lebens hinabstoßen. Nicht das Gewissen wie bei Ibsen, nicht die Gier wie bei Balzac, nicht die ins Nichts hineinschäumende, wilde Leidenschaft wie bei Shakespeare ist das Schauspiel, das bei Hauptmann aufzieht, sondern das vom Herzen sonnenhaft erhellte oder von der Finsternis des Herzens tragisch verdunkelte und grotesk verzerrte Blühen und Verblühen menschlicher Gemeinschaft. Der Mensch, dessen Herz nicht die Kraft hat, gegen die Verstocktheit anderer Herzen hell zu bleiben, ist sein tragischer Held: ›Fuhrmann Henschel‹, ›Rose Bernd‹, der »Sohn Kramer«, sie gleiten ab aus der menschlichen Gemeinschaft, sie unterliegen der Schwäche ihres Herzens, für das die Undurchdringlichkeit fremder Herzen zum Schicksal geworden ist. Dagegen formen sich, wo durch eine Wand fremder Gleichgültigkeit wenigstens irgendwo noch ein schwaches Licht, wie ein matter Sternenglanz, aus einem Herzen in andere hinüberdringt, tragikomische oder komische Gestalten: meistens Menschen kleiner, grotesker, abseitiger Gemeinschaften, zwischen denen irgendwelche Not eine flackernde Gefühlsverbindung herstellt, Künstlergemeinschaften, Elendsgemeinschaften, Verbrechergemeinschaften: Kollege Crampton oder Peter Brauer mit ihren Kunstschülern, Mutter Wolffen mit ihren Kaschemmenbrüdern, der alte Baumert mit seinen hungernden Webern. Und wo einem Ausgeschlossenen aus der menschlichen Gemeinschaft statt ihrer die Gemeinschaft mit der Natur und ihren Wundern aufgeht, da entsteht ein Mensch, in dem das Märchen blüht: so etwa der griechische Hirte in den duftenden und zwitschernden Wildnissen des Peloponnes, so der Ketzer von Soana auf seiner Berghalde, so auf der einsamen Fahrt jenseits des Todes, die Hannele und der auferstandene Christus: Emanuel Quint.

Die großen Russen sind ebenfalls ganz durchdrungen von der gleichen Sehnsucht nach Brüderlichkeit. Aber während diese bei ihnen wie eine Sonne aufgeht aus dem schmutzigen Sumpf des Lebens, die Wolken in Bewegung bringt und wegfegt, bis das arme Herz rein strahlt in der mystischen Glorie der Erlösung, führt Hauptmann seine Figuren umgekehrt in eine wachsende Vereinsamung, aus dem Licht in die Dunkelheit. Ihr Schicksal ist nicht eine aus ihrem Innern hervorbrechende Flamme, sondern eine von außen sich um sie herumlegende eisige Dämmerung. Sie erinnern weniger an die Märtyrer und Verbrecher Dostojewskis oder Tolstois als an die Figuren, die der große Bildhauer Barlach unter untragbar schmerzhafte Einsamkeit niederbeugt.

Oder richtiger: seine Figuren sind einzig in ihrer Eigenart. Sie gleichen Sternen, die durch Wolken leuchten; ihre Umrisse flackern und fließen wie die eines Lichtscheines, an dem Nebel vorüberziehn. Der Alltag, der sich zwischen sie und fremde Herzen legt, ihr »Milieu«, ist ihr Schicksal, zugleich aber das Kunstmittel, das Hauptmann bevorzugt, um zur fließenden Plastik dramatischer Gestalten zu gelangen. Wie er dieses tut: durch den Tonfall mehr als durch den Inhalt einer Antwort, durch den wechselnden Stimmklang und Dialekt seiner Figuren mehr als durch die Aufrollung ihrer inneren Motive, durch die Mittel nuanciertester Schauspiel- und Bühnenkunst mehr als durch die der gedanklichen Dichtung (seine Regiebemerkungen sind oft kaum weniger wesentlich für die Formung der Gestalten als sein Dialog) ist das Überraschende und Neue an seinem Dramenstil. Er schuf ein bewegtes Helldunkel, in dem sich das Drama hinter Schleiern abspielt, in dem aber seine großen Gestalten, Rose Bernd, Florian Geyer, Fuhrmann Henschel, Doktor Scholz, die Mutter Wolff nicht zerfließen, sondern kernhaft, wie plastische Massen sich verdichten; umgekehrt allerdings auch, wenn er will, die Umrisse andrer Figuren sozusagen ineinanderzittern, durcheinanderlaufen, zu Gruppen und Haufen zusammenfließen, die verblüffende Illusion einer Menge auf der Bühne hervorrufen.

Diese Kunst, Mengen: aufrührerische, heftig bewegte Menschenhaufen wie niemand je zuvor dramatisch zu machen, und zugleich das tiefe Mitleid mit allen aus der menschlichen Gemeinschaft Ausgestoßenen, die innige Sehnsucht nach Brüderlichkeit, haben Hauptmann in den Ruf eines Revolutionärs gebracht. Als solcher wurde er bei seinem Auftreten gefeiert und von der Zensur verboten. Und doch ist er, ganz im Gegensatz zu den großen Russen, durchaus a-revolutionär. Denn jenseits aller Sehnsucht des Herzens, aller Kunst der Gestaltung ist sein Kennzeichen, daß er resigniert. Er weiß von vornherein, daß seine Figuren nie und unter keinen Umständen die innige und unvergängliche Gemeinschaft, die für sie das einzig wahre Gut wäre, finden können. Wozu Umwälzungen, wozu befeuernde, aufreizende Pläne und Gedanken, wenn das Herz doch ewig unbefriedigt bleibt, wenn die Menschheit bis zum letzten Sonnenuntergang das gleiche, durch keinen Mittag zu erwärmende eisige Schattenreich sein muß? In seinem zweiten Stück, dem ›Friedensfest‹, sagt Frau Scholz: »Da mag man wollen und hundertmal wollen, und Alles bleibt doch beim Alten! ... Dein Wille ist sehr gut, aber ob Du damit was erreichen wirst? Ich glaube nicht.« Und das bleibt die Summe seiner Lebensweisheit. Mit großen Plänen, mit »Maßnahmen«, mit Umwälzungen jeder Art läßt sich etwas Wesentliches nicht erreichen: denn das Wesentliche ist das Herz, die freie Bahn von Herz zu Herz, die Entfesselung des in den Bleiketten des »Milieus«, der Dumpfheit, Trägheit, Bosheit, gebundenen feurigen und erhabenen Eros; und diesen kann keine Revolution aus seinem Kerker befreien.

Daher erscheinen Revolutionäre, wo sie bei Hauptmann vorkommen, durchweg als Narren oder als Betrüger, da sie das Übel, an dem die Menschheit krankt, nicht einmal erkennen. Ja, noch mehr: der Eine, der die Krankheit und ihre Arznei erkannt hat, der durch die Liebe die Liebe befreien will, dieser einzige wahre und echte Revolutionär – auch dieser ist ein Narr! Er führt die, die ihm folgen, nicht zu innigerer Gemeinschaft mit ihren Brüdern, sondern im Gegenteil in Entzweiung, Schande, dumpfere Grausamkeit, Verbrechen. ›Der Narr in Christo Emanuel Quint‹, dieses sonderbarste und tiefste Werk von Gerhart Hauptmann, ist gerade durch die zarte Einfühlung in die Gestalt des in die Welt zurückgekehrten Christus, ›Emanuel Quint‹, zu einer um so grausameren Satire geworden: einer Satire auf den Revolutionär in seiner erhabensten Verkörperung als Liebenden. Nicht Christus behält wie im ›Großinquisitor‹ von Dostojewski mit seinem göttlich milden Kuß recht gegen die in greisenhafter Klugheit erstarrte Welt, sondern wie im ›Don Quichote‹ die Welt gegen einen Narren, der ein unerreichbares Gespenst jagt.

In eine revolutionäre Epoche hineingestellt, bedeutet Hauptmanns Lebenswerk ein Fragezeichen: eine Anzweiflung nicht nur der alten Mächte, die den Menschen bisher bedrückt haben, sondern auch der revolutionären Kräfte, die Sturm laufen, um ihn frei zu machen. Ja, selbst der Trieb, der auf Augenblicke wahre Gemeinschaft herstellt, die Liebe, schafft der Gemeinschaft keine Dauer: gegen das Fließen aller Form ist er ohnmächtig; von ihrem gewaltigen Strom werden auch die seltenen Augenblicke wahrer Gemeinschaft mit fortgetragen: der Versuch, sich ihm entgegenzustemmen, eine dauernde Brüderlichkeit oder Liebe unter Menschen zu begründen, ist fruchtlos. Wer eine solche in der Wirklichkeit sucht, ist ein Narr; mit sanftem, aber vernichtendem Hohne sagte es der ›Quint‹! Was ist also dann der Sinn des Lebens? Nur, daß es trotz der unaufhaltsamen Flucht aller Dinge, doch immer wieder feurige Gemeinschaft schafft ... Und vielleicht noch, daß es ein Schauspiel ist, mit dessen Gestalten der Dichter die tragische Gemeinschaft des Mitleids, und trotz Mitleids die göttliche des Lachens schaffen kann. Denn hier wäre endlich das Reich der ewigen Brüderlichkeit; nämlich derjenigen der tragischen Gestalt mit ihrem Dichter und durch diesen mit dem Zuschauer: Hamlets und Antigones und Tassos und Falstaffs mit Shakespeare und Goethe und Sophokles; und in Ewigkeit mit jedem, der sich der Magie ihrer Schöpfungen unterwirft. Und vielleicht irrt man nicht, wenn man annimmt, daß die dunkle Erkenntnis, die Hauptmann zum Drama trieb, eben diese war: daß er hier allein, im Reich der tragischen Kunst, seinen tiefsten menschlichen Instinkt, die Sehnsucht nach unvergänglicher brüderlicher Gemeinschaft mit der flüchtigen Gestalt befriedigen könne.

»Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief –
Aus tiefem Traum bin ich erwacht.
Die Welt ist tief;
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –
Will tiefe, tiefe Ewigkeit.«

Dieser Wille, der Vergänglichkeit der Welt die Unvergänglichkeit seiner Lust abzuzwingen, der Lust an innigster menschlicher Gemeinschaft, ist der letzte erkennbare Antrieb zu künstlerischer Gestaltung auch bei Hauptmann.


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