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Richtlinien für einen wahren Völkerbund

Entwurf einer Prinzipienerklärung als Grundlage eines Aktionsprogramms

(1920)

Leitsätze:

Ohne den Völkerbund ist keine aufbauende, dauerhafte Politik mehr möglich; ohne eine alles umfassende Weltorganisation kann die Zerrüttung der Weltwirtschaft und des öffentlichen Geistes der Welt nicht behoben werden.

Wir fordern daher, alle Kräfte darauf einzustellen:

  1. daß sämtliche Staaten, insbesondere Amerika, Rußland und Deutschland baldigst in dem Versailler Völkerbund Aufnahme finden;
  2. daß dieser zu einem demokratischen Bunde der Völker ausgebaut werde, der in erster Linie von den Werktätigen (Hand- und Kopfarbeitern) getragen und beherrscht wird. Der Versailler Völkerbund entspricht nicht den Anforderungen wirklicher Demokratie, weil er alle Macht ausschließlich den Regierungen verleiht, während die letzte Entscheidung einer Vertretung der Völker gebührt;
  3. daß dieser von den Völkern getragene Bund in den Stand gesetzt werde, die Weltproduktion, Weltfinanz und Weltverteilung zu regeln und Produktion und Verteilung dem Bedürfe anzupassen;
  4. daß hierfür die Voraussetzungen unverzüglich geschaffen werden:

    a) durch schnellsten Zusammenschluß der großen Produktionszweige zu nationalen und internationalen Selbstverwaltungskörpern, in denen alle in einem Produktionszweige Beschäftigten mit den an ihm interessierten Verbrauchern teilhaben an der Mitherrschaft über seine Produktionsmittel;

    b) durch einen möglichst nach ähnlichen Grundsätzen durchgeführten nationalen und internationalen Zusammenschluß der Finanz;

    c) durch Schaffung eines Zentralorgans, das die selbstverwaltenden, internationalen Produktionszweige untereinander und mit der Finanz verbindet;

    d) durch Erhebung dieses Organes zu einem mit den nötigen Rechten und Gewalten ausgestatteten Organe des Völkerbundes;
  5. 5. daß auch die großen geistigen, ethischen, religiösen Körperschaften diesem Zentralorgan des Völkerbundes angegliedert werden;
  6. 6. daß dieses wirtschaftliche und geistige Weltorgan ebenso wie das Weltparlament autonom werde, d. h. im Rahmen der ihm zugestandenen Befugnisse frei von der selbständigen Einmischung einzelner Staaten.

Um aber diese Umwandlung einzuleiten und in Anbetracht dessen, daß im Pariser Völkerbund wenigstens die Anfänge einer Organisation der Weltproduktion und Weltfinanz erkennbar sind, nämlich das » Internationale Arbeitsamt« die jährliche » Hauptversammlung« aller Mitgliedstaaten zur Beratung von Arbeitsfragen (Art. 388), die » Wirtschaftliche Abteilung« des Völkerbundes und besonders die » Internationalen Kommissionen«, die für die Verteilung von Rohstoffen und die Regelung der Transport- und Finanzfragen geplant sind, daß indessen diese Einrichtungen, wenn sie mit Erfolg der Sicherung des Weltfriedens dienen und den Weg zu einem wahren Völkerbunde bereiten sollen, demokratisch aus den selbstverwaltenden Produktionszweigen und Verbrauchergruppen hervorgehen und mit den nötigen Rechten und Machtmitteln ausgestattet sein müssen:

richten wir an die Hand- und Kopfarbeiter aller Länder den Ruf, zunächst und unverzüglich den unwiderstehlichen Druck, den ihre wirtschaftlichen und politischen Organisationen auf ihre Regierungen ausüben können, anzuwenden, damit diese ersten Anfänge einer demokratischen und universalen Organisation der Wirtschaft weiter ausgebildet werden;

indem die geplanten ständigen Internationalen Wirtschaftlichen Kommissionen sofort ins Leben gerufen,

diese Kommissionen, sowie die anderen wirtschaftlichen und sozialen Organe des Völkerbundes zu demokratischen Vertretungskörpern der organisierten Produzenten und Konsumenten umgebildet,

und diese Vertretungen mit gesicherten gesetzgeberischen und exekutiven Rechten im Rahmen des Völkerbundes ausgestattet und untereinander als Vorstufen des erstrebten wirtschaftlichen Zentralorgans zu direkter, geregelter Zusammenarbeit verbunden werden.

Begründung:

I

Der Versailler Völkerbund ist unbefriedigend. Er hat bisher in keiner von den großen Fragen, die den Frieden und die Ruhe der Welt gefährden, Wesentliches leisten können. Es zeigt sich, daß ihm nötige Vorbedingungen zu einer nützlichen Betätigung in den großen internationalen Dingen fehlen. Andererseits verfügt er über eine Fülle von Gewalt, die Unheil droht, wenn sie leichtsinnig oder parteiisch verwendet wird. Er ist also sowohl gefährlich wie schwach. Schuld hieran sind seine geographischen Lücken (das Fernbleiben Amerikas, der Ausschluß Mitteleuropas und Rußlands); mehr aber noch,

  1. daß er keinen direkten Einfluß den Völkern und deren werktätigen Schichten ( Arbeitern) einräumt;
  2. daß er alle Macht ausschließlich den staatlichen Regierungen verleiht;
  3. daß er auch die Regierungen in zwei Klassen teilt: in solche der im »Rate« des Völkerbundes vertretenen Hauptstaaten und solche der nicht im »Rate« vertretenen minderen Staaten; und die zur zweiten Klasse gehörigen Regierungen und mit ihnen deren Völker, in lebenswichtigen Fragen entrechtet; insbesondere dem »Rate«, in dem diese schwächeren Völker nicht vertreten sind, das Recht gibt, Rüstungspläne ihnen aufzuzwingen (Art. VIII), sie aufzurufen zur Verteidigung auswärtiger Staaten und fremder Grenzen (Art. X), sie zu nötigen, Handels- und sonstige Beziehungen zu anderen Völkern, mit denen sie in Freundschaft leben, abzubrechen (Art. XVI), sie unbefragt in einen Krieg hineinziehen (Art. XV Abs. 6 und Art. XVI, Abs. 2)und so eine Herrschaft aufrichtet und mit unbeschränkter Macht ausstattet, die den Gewalthabern nicht bloß zu Kriegen, sondern auch gegen ausgebeutete Völker und gegen die Werktätigen aller Länder im Klassenkampfe zur Verfügung steht;
  4. daß er trotz dieser Häufung von Gewalt praktisch ohnmächtig ist in allen Fragen, die nicht wie die Niederhaltung ausgebeuteter Völker oder Klassen alle im »Rate« vertretenen Regierungen von vornherein einigen, weil er innerlich gelähmt wird durch das Erfordernis der Einstimmigkeit bei seinen Beschlüssen (Art. V), das jeder Reform seiner Verfassung, jeder Revision der von ihm einmal genehmigten Verträge oder Grenzen und jedem schnellen und erfolgreichen Handeln bei internationalen Verwicklungen fast unüberwindlich im Wege steht;
  5. daß er überhaupt die Aufgabe der Weltorganisation nur negativ als die einer Weltpolizei auffaßt und daher auf eine tiefere und sichere Begründung des Weltfriedens Verzicht leistet.

II

Demgegenüber muß betont werden, daß der Weltfrieden nur gesichert werden kann durch ein Organ, das die Weltproduktion, Weltverteilung und Weltfinanz regelt, d. h. dem Bedarf im Ganzen und im Einzelnen anpaßt, und das von den Werktätigen selbst unter Heranziehung der Verbraucher gebildet und beherrscht wird:

weil unausgeglichene wirtschaftliche Gegensätze unvermeidlich politische und internationale Konflikte nach sich ziehen,

weil die durch den Krieg verminderte Produktion und in Unordnung geratenen Verteilungs- und Geldverhältnisse weitere und schlimmere nationale und internationale Umwälzungen nach sich ziehen müssen, wenn nicht alle Produktivkräfte bewußt und unverzüglich den unabweisbaren Bedürfnissen der breiten Massen angepaßt werden,

weil diese notwendige Anpassung nur durch ein besonderes Organ bewirkt werden kann, das alle Produktivkräfte zusammenfaßt und lenkt,

weil dieses Organ, von dem nicht bloß die Produktion, sondern auch die Produzenten abhängen werden, deren Vertrauen besitzen muß als Wahrer ihrer Menschenrechte und insbesondere des Rechtes jedes Werktätigen auf anständige Arbeit, auf möglichste Gleichheit des Ausgangspunktes im wirtschaftlichen Kampfe, auf einen gerechten Anteil an den Erträgnissen der Erde und auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Freiheit;

vor allem aber, weil grundsätzlich die gesammelte Macht der Menschheit nur einem demokratischen, von unten aufgebauten, unmittelbar und unterschiedslos von allen Beteiligten getragenen Organe anvertraut werden darf.

III

Die Ansätze zu einem solchen Organe sind bereits im Entstehen. Sie sind zu finden:

  1. in den von den Hand- und Kopfarbeitern selbst in wachsender Erkenntnis ihrer gemeinsamen Interessen geschaffenen beruflichen und geistigen Organisationen (Verbänden, Gewerkschaften, Genossenschaften, geistigen und wissenschaftlichen Berufsvereinigungen);
  2. in den aus den Grundbedingungen der modernen Produktion, und insbesondere aus der fortgesetzten Vergrößerung und Spezialisierung ihrer Produktionsmittel entspringenden, immer zahlreicheren und festeren Verbindungen zwischen Arbeitsprozessen (Kartellen, Trusts, Syndikaten);
  3. in den aus der Not des Weltkrieges geborenen internationalen Kommissionen, die jetzt in den geplanten Internationalen Wirtschaftlichen Kommissionen des Völkerbundes für die Verteilung der Rohstoffe und Regelung der Transport- und Finanzverhältnisse ihre Fortsetzung finden sollen.

In Verbindung mit der vom Versailler Vertrage geschaffenen Internationalen Organisation der Arbeit (Art. 387–427), insbesondere der in ihrem Rahmen vorgesehenen jährlichen Versammlung der Mitgliedstaaten des Völkerbundes (Art. 388) und dem von dort vorgesehenen Internationalen Arbeitsamt, an denen beiden bereits gewählte Vertreter der Werktätigen (sowohl der Produktionsleiter wie auch der Arbeiter) teilnehmen,

in Verbindung ferner mit der in der Bildung begriffenen Wirtschaftlichen Abteilung des Völkerbundes

zeigen die genannten Ansätze den Weg, auf dem ein von den Werktätigen getragenes Selbstverwaltungsorgan der Weltproduktion und des Weltbedarfs erreicht werden kann.

IV

Dieses wirtschaftliche Zentralorgan bietet, sobald es da ist, aus den in Abschnitt II angeführten Gründen eine natürliche und feste Grundlage für einen wahren Völkerbund. Die Friedenssicherung verlangt daher, daß sein Zustandekommen beschleunigt, insbesondere von den Organisationen der Werktätigen einhellig und mit ihrer ganzen Wucht gefördert, seine unbehinderte Wirksamkeit völkerrechtlich gesichert, seine Tätigkeit und wirtschaftliche Macht als die wahren Grundlagen der Weltorganisation erkannt werden. Folglich ist:

  1. der Zusammenschluß aller Einzelunternehmungen in den großen Produktionszweigen zu Selbstverwaltungskörpern auch unter diesem Gesichtspunkte zu fordern: sowohl innerhalb der einzelnen Wirtschaftsgebiete wie auch international; wozu die immer unentbehrlicher werdenden Industrieverbände (Syndikate), Gewerkschaften und Genossenschaften sowie die bereits genannten internationalen Kommissionen für Rohstoffe, Transportmittel und Finanzen Handhaben bieten;
  2. die Demokratisierung der Produktion und Verteilung durch Heranziehung aller in einem Produktionszweige Beschäftigten sowie der Verbraucher zur Mitbestimmung über seine Produktionsmittel und Produkte zu fördern;
  3. die Einstellung der Produktion auf den Bedarf, unter Mitbeteiligung der Verbraucher und der Allgemeinheit national und international zu erzwingen.

Gleichzeitig ist der Imperialismus in seiner Wurzel zu zerstören, dadurch, daß die ihn fortgesetzt neu erzeugende direkte Verbindung zwischen einzelstaatlicher Politik und internationaler Wirtschaft gelöst wird, und zwar:

indem schon jetzt alle Eingriffe des Einzelstaates in das internationale Wirtschaftsleben, die den wirtschaftlichen Imperialismus fördern, besonders aber die der wirtschaftlichen Expansion dienenden Austausch- und Verkehrsbeschränkungen sowie die demselben Zwecke dienenden militärischen und maritimen Rüstungen einschließlich der Wehrpflicht auf das energischste bekämpft werden,

und später, sobald das erstrebte weltwirtschaftliche Zentralorgan im Völkerbunde geschaffen ist, jeder Eingriff überhaupt der einzelstaatlichen Politik in die Weltwirtschaft, der unter Umgehung dieses Zentralorgans versucht werden sollte, völkerrechtlich ausgeschlossen, die Autonomie der Weltproduktion den Einzelstaaten gegenüber zu einem Grundsatze des Völkerrechtes erhoben wird.

V

Als gegenwärtig gangbarster und kürzester Weg zu einem im vorstehenden Sinne wahren Völkerbunde erscheint die Umbildung des Versailler Völkerbundes.

Die wichtigsten und nächsten Schritte auf diesem Wege wären:

  1. der Eintritt, bzw. die Zulassung der noch draußen stehenden Staaten, insbesondere Deutschlands, Österreichs, Rußlands und Amerikas, in den Völkerbund, damit dieser das ganze Gebiet der Weltproduktion und alle in ihr Tätigen umfasse;
  2. die Aufhebung der Rechtsungleichheit (»Hauptmächte« rechtlich bevorzugt gegenüber bloß »alliierten und assoziierten Mächten«) und Rüstungsungleichheit (Art. VIII) zwischen den Staaten und Völkern, indem die Völker in erster Linie berücksichtigt, alle Völker mit gleichen Rechten ausgestattet werden und die gleiche, vollständige Abrüstung aller Staaten durchgeführt wird;
  3. der Ausbau der sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen des Völkerbundes (siehe oben) zu demokratischen Vertretungskörpern und zu wirklichen und mit der nötigen Macht ausgestatteten Mittelpunkten der Weltwirtschaft: mit der Aufgabe, die Zusammenarbeit zwischen selbstverwaltenden internationalen Produktionszweigen und Verbrauchergruppen im Sinne einer Produktionssteigerung und einer dem Bedarfe angepaßten Verteilung zu fördern und die hierbei auftauchenden Gegensätze auszugleichen;
  4. die Schaffung eines diese sozialen und wirtschaftlichen Völkerbundseinrichtungen und die selbstverwaltenden Produktionszweige und Verbrauchergruppen demokratisch verbindenden Zentralorgans.

VI

Da aber ein Völkerbund nicht bestehen kann, wenn er bloß die materielle Produktion sichert, ein solcher vielmehr ebenso nötig einen geistigen und ethischen Inhalt und Zusammenhang braucht,

insbesondere heute die unentbehrliche Grundlage für den geistigen und ethischen Wiederaufbau der Weltgemeinschaft bieten soll, jederzeit auch gegen einseitige Eingriffe die unbehinderte Entfaltung der geistigen und ethischen Kräfte der Menschheit wahren sowie die Würde, das Glück und die Freiheit des Menschen schirmen muß,

so darf er nicht auf eine bloße Wirtschaftszentrale beschränkt bleiben, sondern muß auch die großen geistigen und ethischen Organisationen und Gemeinschaften zur Mitbestimmung heranziehen bei allen das Glück, die Schaffenskraft und die Freiheit des Menschen oder einzelner menschlicher Gemeinschaften betreffenden Entscheidungen.

VII

Die Sonderinteressen solcher geschlossenen Gemeinschaften, insbesondere der einzelnen Völker, Staaten und Wirtschaftsgebiete werden innerhalb des Völkerbundes völkerrechtlich und organisatorisch gesichert sein müssen bis zu der Grenze, wo sie mit den übergeordneten Gemeininteressen der Weltproduktion oder mit den durch den Völkerbund zu sichernden Rechten des Menschen in Widerspruch geraten;

wobei aber zu betonen ist, daß die internationale Sicherung der bedarfsmäßigen Produktion und geistigen Freiheit die Voraussetzung der nationalen Sicherung dieser Güter ist; und daß daher eine Mitarbeit an diesem internationalen Werke nötig ist, um der Arbeit an der nationalen Wirtschaft, Kultur und Freiheit Erfolg zu schaffen.

VIII

Ein wahrer Völkerbund kann nicht das Werk Einzelner, auch nicht einzelner Staatsmänner sein, sondern nur durch die organisierte Zusammenarbeit von Millionen in allen Völkern und durch den Druck der öffentlichen Meinung der Welt verwirklicht werden. Das mächtige Instrument der Welterneuerung ist heute die international organisierte Arbeiterbewegung. Der gewaltigste geistige Antrieb die überall erwachende Sehnsucht nach ethischer und religiöser Erneuerung. Deshalb richten wir an diese beiden unermeßlichen, neuen Kräfte den Ruf, daß sie sich ihrer höchsten Aufgabe bewußt werden:

eine neue wirtschaftliche und ethische Weltgemeinschaft zu schaffen;

und daß sie mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln an der praktischen Verwirklichung dieses Zieles mitwirken.


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