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Der Feldzug im Sudan und Dicks zerschlagener Kopf waren seit einigen Monaten beendigt, respektive wieder geflickt; das Central Southern Syndikat hatte Dick eine gewisse Summe à conto für gelieferte Arbeit gezahlt, welche Arbeit, wie es ihn versicherte, nicht allzusehr nach dem Geschmacke des Syndikates wäre. Dick warf den Brief in den Nil bei Kairo, kassirte den Wechsel in dieser Stadt ein, und sagte auf der Eisenbahnstation Torpenhow herzlich Lebewohl.
»Ich gehe jetzt, mich irgendwo auf eine Zeit lang niederzulassen und auszuruhen,« sagte Torpenhow. »Ich weiß nicht, wo ich in London wohnen werde, doch wenn Gott uns zusammenführen will, so werden wir uns schon treffen. Wollen Sie hier bleiben und die Gelegenheit zu einer zweiten Ruderfahrt abwarten? Bevor nicht das südliche Sudan wieder von unseren Truppen eingenommen ist, wird sich Ihnen keine darbieten. Merken Sie sich das. Leben Sie wohl; der Himmel segne Sie. Kommen Sie zurück, wenn Ihr Geld ausgegeben ist, und geben Sie mir Ihre Adresse.«
Dick bummelte in Kairo, Alexandrien, Ismaïla und Port Saïd herum, – ganz besonders in Port Saïd.
Ungerechtigkeit, Unbilligkeit gibt es in vielen Teilen der Welt, Laster in allen; doch die konzentrirte Essenz aller Ungerechtigkeiten und aller Laster auf sämtlichen Kontinenten findet sich nur in Port Saïd. Und mitten durch diese von Sand eingefaßte Hölle, wo die Luftspiegelung tagelang über den bitteren Seen flackert, bewegen sich, wenn man nur etwas wartet, die meisten von den Männern und Frauen, die man in diesem Leben kennen gelernt hat.
Dick quartierte sich in einem mehr lärmenden, geräuschvollen als anständigen Stadtviertel ein. Er brachte seine Abende auf dem Quai zu und ging an Bord von zahlreichen Schiffen, sah auch manchen von seinen Freunden wieder – anmutige englische Damen, mit denen er nicht allzu weise in der Veranda von Shepheards Hotel geplaudert hatte, eilige Kriegskorrespondenten, Kapitäne von den in diesem Feldzuge kontraktlich gemieteten Transportschiffen, zechende Armeeoffiziere und andere von weniger achtbarem Gewerbe. Er hatte die Wahl unter allen Rassen des Ostens und des Westens zu seinen Studien, sowie den Vorteil, diese Leute unter dem Einflusse einer starken Erregung zu beobachten, an den Spieltischen, in den Salons, in den Tanzhöllen und sonst wo. Zur Erholung hatte er die Aussicht auf den schnurgeraden Kanal, den glühenden Sand, die Prozession der Schiffe und die weißen Hospitäler, in denen die englischen Soldaten lagen.
Er bemühte sich, alles, was die Vorsehung ihm sandte, in Schwarz und Weiß und Farbe zu Papier zu bringen, und wenn die Zufuhr erschöpft war, sah er sich nach frischem Material um. Es war eine fesselnde Beschäftigung, doch sie rannte mit seinem Gelde davon, auch hatte er bereits im voraus die hundertundzwanzig Pfund bezogen, die er als jährliche Rente besaß.
»Nun muß ich wieder arbeiten und hungern!« dachte er, als ein geheimnisvolles Telegramm von Torpenhow aus England eintraf, das lautete: »Kommen Sie schnell zurück, Sie haben reussirt. Kommen Sie.«
Ein fröhliches Lächeln überflog sein Gesicht. »So bald! Das ist eine gute Nachricht,« sagte er vor sich hin. »Heute nacht soll eine Orgie stattfinden. Ich will stehen oder fallen mit meinem Glück. Wahrhaftig, es war Zeit, daß es kam!« Er deponirte die Hälfte seines Geldes bei seinen wohlbekannten Freunden, Monsieur und Madame Binal, und bestellte sich einen Zanzibartanz, aber einen feinen. Monsieur Binal schüttelte sich in seiner Betrunkenheit, doch Madame lächelte sympathisch.
»Monsieur bedarf eines Lehnsessels, natürlich, und Monsieur will natürlich skizziren: Monsieur amüsirt sich eigentümlich.« Binal steckte sein blauweißes Gesicht aus einer kleinen Koje im innern Raume. »Ich verstehe,« stammelte er. »Wir kennen alle Monsieur. Monsieur ist ein Künstler, wie ich einst einer gewesen bin.« Dick nickte ihm zu. »Schließlich,« sagte Binal mit großem Ernste, »wird Monsieur lebendig in die Hölle hinabsteigen, wie ich hinabgestiegen bin.« Er lachte.
»Sie müssen gleichfalls zum Tanze kommen,« sagte Dick. »Ich werde Ihrer bedürfen.«
»Meines Gesichtes wegen? Ich wußte, daß es so kommen würde. Meines Gesichts wegen? Mein Gott! Und wegen meiner so entsetzlichen Degradation! Ich will nicht. Nimm ihn fort. Er ist ein Teufel. Oder verlange wenigstens mehr von ihm, Celeste.« Der vortreffliche Binal begann zu schluchzen und zu schreien.
»Alles in Port Saïd ist zum Verkauf da,« sagte Madame. »Wenn mein Gatte kommt, wird es etwas mehr kosten. He! Wie viel geben Sie, einen halben Sovereign?«
Das Geld wurde bezahlt und der wahnsinnige Tanz in der Nacht aufgeführt, in einem von Mauern umschlossenen Hofraume, hinter Madame Binals Hause. Die Dame, in einem fadenscheinigen, anilinroten Seidenkleide, das beständig ihr von den gelben Schultern glitt, spielte selbst auf dem Piano, und nach der klapperigen Musik eines Walzers tanzten die nackenden Zanzibarmädchen wie rasend bei dem Lichte von Oellampen. Binal saß auf einem Stuhle und starrte mit blicklosen Augen auf den Tanz, bis der Wirbel desselben und die klappernden Klänge des Pianos sich in den Branntwein hineinstahlen, der in seinen Adern an Stelle des Blutes floß, und sein Gesicht glitzerte. Dick erfaßte ihn kräftig beim Kinn und drehte sein Gesicht dem Lichte zu. Madame Binal blickte über ihre Schulter und lächelte mit mehreren Zähnen. Dick lehnte sich gegen die Mauer und skizzirte eine Stunde lang, bis die Lampen zu stinken begannen und die Mädchen sich keuchend auf den hart geschlagenen Boden warfen. Dann machte er sein Buch zu und ging fort, während Binal ihn leise am Ellenbogen zupfte. »Zeigen Sie es mir,« flüsterte er. »Auch ich war einst ein Künstler, auch ich!« Dick zeigte ihm die rohe Skizze. »Bin ich das?« schrie er. »Wollen Sie das mit sich fortnehmen und aller Welt zeigen, daß ich das bin, ich – Binal?« Er stöhnte und weinte.
»Monsieur hat für alles bezahlt,« sagte Madame. »Ich hoffe, Monsieur bald wieder zu sehen,« fügte sie freundlich hinzu.
Das Hofthor wurde hinter ihm verschlossen, und Dick eilte auf der sandigen Straße nach der nächsten Spielhölle, wo er wohl bekannt war. »Wenn das Glück anhält, ist es ein Omen; wenn ich verliere, muß ich hier bleiben.« Er setzte sein Geld planlos auf den Tisch, kaum wagend, einen Blick auf dasselbe zu werfen. Das Glück blieb beständig. Drei Umdrehungen des Rades machten ihn um zwanzig Pfund reicher, worauf er zu den Schiffen hinunterging, um sich mit dem Kapitän eines morschen Güterdampfers zu befreunden, der ihn in London mit weniger Pfunden in der Tasche ans Land setzte, als er gehofft, und an deren kleine Anzahl er gar nicht zu denken wagte.
Ein dünner grauer Nebel hing über der City; auf der Straße war es recht kalt, denn es war Sommerszeit in England.
»Es ist wirklich eine lustige Wildnis, und sie hat gar nicht das Geschick, sich viel zu ändern,« dachte Dick, als er von den Docks westwärts wanderte: »Was muß ich nun thun?« Die Packhäuser gaben ihm keine Antwort. Dick sah die langen, lichtlosen Straßen hinunter und auf den erschreckenden Geschäftsverkehr. »O, ihr Kaninchenkästen!« sagte er, auf eine Reihe von hochrespektablen, vereinzelt stehenden Häusern blickend. »Wißt ihr, was ihr später zu thun haben werdet? Ihr sollt mich mit männlichen und weiblichen Dienstboten versorgen,« hierbei schmatzte er mit den Lippen, »und mit fürstlichen Reichtümern. Inzwischen will ich mir Kleider und Stiefel anschaffen, und nachher zurückkehren und auf euch herumtrampeln.« Er schritt energisch weiter, und bemerkte, daß einer seiner Schuhe an der Seite aufgeplatzt war. Als er still stand, um den Schaden genauer zu besehen, stieß ihn ein Mann in die Gosse. »Ganz gut,« sagte er. »Das ist ein neuer Schnitt ins Kerbholz. Später werde ich dich umstoßen.«
Gute Kleider und Stiefel sind nicht wohlfeil; Dick verließ daher den letzten Laden mit der Gewißheit, daß er zwar für eine Zeit lang anständig ausgestattet sei, doch nur noch fünfzig Schilling in seiner Tasche habe. Er kehrte in die Straßen bei den Docks zurück und mietete sich ein Zimmer, in dem die Bettwäsche in sehr auffälliger Weise gezeichnet war, für den Fall eines Diebstahls, und wo kein Mensch im Hause überhaupt zu Bett zu gehen schien. Nachdem seine Kleider ihm überbracht worden, begab er sich nach dem Central Southern Syndikate, um sich nach Torpenhows Adresse zu erkundigen; er erhielt dieselbe mit dem Bemerken, daß noch einiges ihm zugehörige Geld für ihn bereit liege.
»Wie viel?« fragte Dick, wie jemand, der gewöhnt ist, mit Millionen umzuspringen.
»Zwischen dreißig und vierzig Pfund. Wenn es Ihnen irgendwie erwünscht wäre, so könnten wir es Ihnen natürlich sofort auszahlen, obschon wir gewöhnlich nur monatlich abrechnen.«
»Wenn ich mir merken lasse, daß ich jetzt etwas Geld nötig habe, so bin ich verloren,« sagte sich Dick. »Alles, was ich brauche, werde ich schon später nehmen.« Laut erwiderte er: »Es lohnt jetzt kaum der Mühe; auch will ich für einen Monat aufs Land gehen. Warten Sie, bis ich zurückkomme, dann werde ich darüber bestimmen.«
»Aber wir verlassen uns darauf, Mr. Heldar, daß Sie nicht die Absicht haben, Ihre Verbindung mit uns aufzulösen?«
Dicks Hauptbeschäftigung lag in dem Studium von Gesichtern, er beobachtete daher scharf den Sprechenden. »Der Mann hat irgend eine Absicht mit mir,« sagte er sich. »Ich will nichts thun, bevor ich nicht Torpenhow gesehen habe. Ich glaube, es wird eine große Sache dabei herausschauen.« Er ging daher fort, ohne sich durch Versprechungen zu binden, und kehrte in sein kleines Zimmer bei den Docks zurück. Jener Tag war der siebente des Monats, und dieser Monat hatte einunddreißig Tage, wie er mit schrecklicher Genauigkeit ausrechnete.
Es ist nicht leicht für einen Mann von gewöhnlichem Geschmack und gesundem Appetit, vierundzwanzig Tage hindurch von fünfzig Schillingen zu existiren, ebenso wenig ist es besonders erheiternd, ein solches Experiment allein in all der Verlassenheit von London zu beginnen. Dick bezahlte sieben Schilling wöchentlich für sein Logis, so daß er beinahe weniger als einen Schilling täglich für Essen und Trinken übrig behielt. Sein erster Einkauf bestand natürlich in denjenigen Artikeln, deren er zur Ausübung seiner Kunst bedurfte, er war ja so lange Zeit ohne dieselben gewesen. Die Erfahrungen und Vergleichungen während eines halben Tages hatten Dick zu der Schlußfolgerung geführt, daß Wurst und gerührte Kartoffeln, zwei Pence die Portion, die besten Gerichte seien. Nun, Wurst ein- oder zweimal wöchentlich zum Frühstück ist ja gar nicht so unangenehm; als zweites Frühstück indes, mit gerührten Kartoffeln, wird sie etwas monoton; als Diner wird sie jedoch impertinent. Am Abende des dritten Tages ekelte die Wurst Dick an, er eilte davon, verpfändete seine Uhr und erquickte sich an einem Schafshaupte, das nicht so wohlfeil ist wie es den Anschein hat, in Anbetracht der Knochen und der Brühe. Darauf kehrte er zu Wurst und gerührten Kartoffeln zurück. Etwas später beschränkte er sich vollständig auf gerührte Kartoffeln einmal täglich, und wurde ganz unglücklich, als er Schmerzen im Leibe verspürte. Er verpfändete dann seine Weste und sein Halstuch und gedachte reuevoll des Geldes, das er in früheren Jahren verschleudert hatte. In der Kunst gibt es wenig Dinge, die erbaulicher für ihre Jünger wären, als das Bauchzwicken des Hungers; Dick verlangte durchaus nicht nach Bewegung während der wenigen Ausgänge, die er machte. Wünsche stiegen in ihm auf, die nicht befriedigt werden konnten; er ertappte sich dabei, wie er die Menschen in Gedanken in zwei Klassen einteilte: – solche, die aussahen, als ob sie ihm wohl etwas zu essen geben möchten, und solche, die anders aussahen. »Ich wußte früher nie, was ich noch zu lernen hatte hinsichtlich des Ausdruckes menschlicher Gesichter,« dachte er; und zur Belohnung für seine Demut, bewog die Vorsehung einen Kabkutscher in einem Wurstladen, wo Dick an jenem Abende aß, einen nur zur Hälfte verzehrten großen Laib Brod liegen zu lassen. Dick ergriff denselben – er hätte mit der ganzen Welt um dessen Besitz gefochten – und erquickte sich an ihm.
Der Monat ging schließlich zu Ende, so daß er, fast rasend vor Ungeduld, sein Geld in Empfang nehmen konnte. Dann eilte er sofort in Torpenhows Wohnung und zog den Geruch von schmorenden Speisen längs der Korridore vor den Zimmern in dessen Hause ein. Torpenhow wohnte im obersten Stockwerk; Dick stürzte in sein Zimmer und wurde mit einer Umarmung empfangen, die seine Rippen fast zum Krachen brachte, als Torpenhow ihn zum Lichte hinschleppte und wohl über zwanzig verschiedene Dinge in einem Atemzuge sprach.
»Aber Sie sehen ja ganz eingefallen aus,« schloß er endlich.
»Bekommen Sie hier etwas zu essen?« fragte Dick, seine Augen durch das ganze Zimmer schweifen lassend.
»Ich werde in einer Minute mein Frühstück erhalten. Was sagen Sie zu etwas Wurst?«
»Nein, alles andre, nur keine Wurst! Torp, ich bin fast verhungert bei diesem verfluchten Pferdefleisch während der letzten dreißig Tage und dreißig Nächte.«
»Nun, was für eine Verrücktheit ist denn Ihre letzte gewesen?«
Dick erzählte ihm ganz freimütig, wie es ihm in den jüngst verflossenen Wochen ergangen; dann knöpfte er seinen Rock auf und zeigte, daß er keine Weste darunter habe. »Ich habe es fein durchgesetzt, schauderhaft fein, aber ich bin doch noch gerade durchgewischt.«
»Sie haben nicht viel gesunde Vernunft, doch Sie haben ein starkes Rückgrat, mag dem nun sein, wie ihm sein wolle. Essen Sie jetzt und erzählen Sie nachher.«
Dick fiel über die Eier und den Schinken her und schlang, bis er nicht mehr schlingen konnte. Torpenhow überreichte ihm dann eine gestopfte Pfeife, worauf er rauchte, wie jemand, der seit drei Wochen keinen guten Tabak zu sehen bekommen hat.
»Uf!« machte er. »Das ist himmlisch! Wie?«
»Weshalb sind Sie denn nicht zu mir gekommen, um alles in der Welt willen?«
»Konnte nicht. Ich schulde Ihnen bereits viel zu viel, alter Herr. Außerdem hatte ich so eine Art von Aberglauben, daß dieses zeitweise Verhungern – denn das ist es wirklich gewesen, und es war bös genug – mir später mehr Glück bringen würde. Es ist nun damit vorbei, und kein Mensch vom Syndikat weiß, wie hart es mir ergangen ist. Schießen Sie jetzt los! Wie ist der genaue Stand der Geschäfte, insoweit dieselben mich betreffen?«
»Sie haben mein Telegramm erhalten? Sie sind dann hieher gekommen. Leute wie Sie arbeiten ungeheuer viel; ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist so. Man sagte, Sie besäßen einen frischen Strich und eine neue Manier, die Dinge zu zeichnen; und da die Leute hauptsächlich zu Hause erzogene Engländer sind, so sagen sie auch, Sie hätten Einsicht. Ein halbes Dutzend Zeitungen verlangt nach Ihnen, man bedarf Ihrer, um Bücher zu illustriren.«
Dick grunzte zornig.
»Sie müssen Ihre kleineren Skizzen ausführen und aufarbeiten, und sie dann an die Kunsthändler verkaufen. Diese Leute sind überzeugt, daß das an Sie gezahlte Geld eine gute Kapitalanlage ist. Gütiger Himmel! Wer kann die bodenlose Thorheit des Publikums berechnen?«
»Es ist ein bemerkenswert verständiges Volk.«
»Es ist Launen unterworfen, wenn es das ist, was Sie meinen; Sie sind nun zufällig der Gegenstand der letzten Laune für diejenigen geworden, die sich für das, was sie Kunst nennen, interessiren. Gerade jetzt sind Sie eine Mode, ein Phänomen, oder was Ihnen sonst immer beliebt. Es stellte sich heraus, daß ich die einzige Person bin, die hier etwas von Ihnen wußte, weshalb ich denn auch den am meisten einflußreichen und nützlichen Leuten einige von Ihren Skizzen zeigte, die Sie mir von Zeit zu Zeit gegeben. Es scheint, daß diese Leute, nachdem sie hinter Ihre Sachen für das Central Southern Syndikat gekommen, für Sie gearbeitet haben. Sie haben Glück.«
»Huh! Nennen Sie es Glück! Nennen Sie es Glück, wenn ein Mann wie ein Hund in der Welt herumgestoßen worden ist, immer wartend, ob es kommen wird! Ich brauche jetzt vor allen Dingen einen Ort, wo ich arbeiten kann.«
»Kommen Sie hieher,« sagte Torpenhow, über den Treppenabsatz gehend. »Dieses ist ein großes Zimmer, wie eine kolossale Schachtel, aber es wird für Sie passen. Dort haben Sie Ihr Oberlicht, oder Ihr Nordlicht, oder wie Sie das Fenster sonst noch nennen wollen, und reichlich Raum genug, um darin zu arbeiten; dahinter liegt noch ein Schlafzimmer. Was haben Sie mehr nötig?«
»Gut genug,« erwiderte Dick, in dem großen Gemache sich umsehend, das den dritten Teil des obersten Stockwerkes einnahm, aus dessen Zimmern man auf die Themse sehen konnte. Eine blaßgelbe Sonne schien durch das Oberlicht und ließ den Schmutz im Zimmer recht deutlich erkennen. Drei Stufen führten von der Thür zum Treppenabsatz, während drei andere Stufen nach Torpenhows Zimmer führten. Der Schacht des Treppenhauses verschwand in der Dunkelheit, nur von dünnen Gasflammen unterbrochen, während man in dem warmen Qualm die Stimmen von sprechenden Leuten und das Zuwerfen von Thüren, sieben Etagen tiefer, vernahm.
»Läßt man Ihnen hier in allem freie Hand?« fragte Dick vorsichtig. Er war Ismael genug, um den Wert der Freiheit zu kennen.
»Alles, was Sie wollen; Drückerschlüssel und unbegrenzte Freiheit. Die meisten Bewohner hier sind permanente Mieter. Es ist gerade kein Platz, den ich einem Mitgliede eines christlichen Vereins junger Männer empfehlen möchte, doch es wird Ihnen genügen. Ich nahm diese Zimmer für Sie, als ich Ihnen telegraphirte.«
»Sie sind wirklich viel zu gütig gegen mich, alter Herr.«
»Sie dachten doch nicht etwa, daß Sie sich von mir trennen würden, wie?« Torpenhow legte seine Hand auf Dicks Schulter, während sie beide in dem Zimmer auf und ab gingen, das von nun an das Atelier genannt werden sollte, in freundschaftlicher und schweigender Gemeinschaft. Sie hörten an Torpenhows Thür klopfen. »Das ist irgend ein Kerl, der heraufkommt, um etwas zu trinken zu verlangen,« sagte Torpenhow, worauf er lustig seine Stimme erschallen ließ. Ein stattlicher Herr von mittlerem Alter, in einem mit Atlas eingefaßten blusenartigen Rocke, trat ein. Seine Lippen waren blaß und tiefe Beutel lagen unter den Augen.
»Schwaches Herz,« sagte Dick vor sich hin und, als er mit dem Manne einen Händedruck ausgetauscht, fügte er hinzu: »ein sehr schwaches Herz. Sein Puls macht seine Finger zittern.«
Der Mann stellte sich vor als das Haupt des Central Southern Syndikates und »einer der glühendsten Bewunderer Ihrer Arbeiten, Mr. Heldar. Ich versichere Sie, im Namen des Syndikates, daß wir Ihnen ungemein zu Dank verpflichtet sind, und ich bin überzeugt, Mr. Heldar, daß Sie nicht vergessen werden, daß wir reichlich dahin gewirkt haben, Sie bei dem Publikum einzuführen.«
Er keuchte noch wegen der sieben Stockwerke, die er hinaufgestiegen.
Dick warf Torpenhow, der einen Moment sein linkes Auge schloß, einen Blick zu.
»Ich werde es nicht vergessen,« erwiderte Dick, in welchem sich sein ganzer Instinkt, sich zu verteidigen, regte. »Sie haben mich so gut bezahlt, wie Sie wissen, daß ich es gar nicht anders konnte. Beiläufig, sobald ich mich hier eingerichtet haben werde, möchte ich wohl zu Ihnen schicken, um meine Skizzen abholen zu lassen. Es müssen sich nahezu an hundertundfünfzig Stück bei Ihnen befinden.«
»Das ist es, weshalb ich hergekommen bin, ich wollte mit Ihnen darüber sprechen. Ich fürchte, wir können das nicht so ganz ohne weiteres bewilligen, Mr. Heldar. Bei dem Mangel an irgend einer spezifizirten Uebereinkunft sind diese Skizzen natürlich unser Eigentum.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie dieselben behalten werden?«
»Ja, und wir hoffen, daß wir Ihren Beistand unter Ihren eignen Bedingungen, Mr. Heldar, bei der Arrangirung einer kleinen Ausstellung der Skizzen haben werden, die, unterstützt durch unsern Namen und bei dem Einflusse, über den wir natürlich in der Presse verfügen, Ihnen zu wesentlichem Vorteile gereichen dürfte. Solche Skizzen wie die Ihrigen –«
»Gehören mir. Sie engagirten mich durch Telegramm, Sie bezahlten mir die niedrigsten Sätze, die Sie überhaupt nur wagen durften mir zu geben. Sie können unmöglich beabsichtigen, die Skizzen zu behalten! Gott im Himmel, Mann, es ist ja alles, was ich auf der Welt besitze!«
Torpenhow beobachtete Dicks Gesicht und pfiff.
Dick ging in Gedanken auf und ab.
Er sah das Ganze seines kleinen Besitzes auf dem Spiele stehen, die erste Waffe seiner Ausrüstung, die beim Beginne seines Feldzuges von einem ältlichen Herrn annektirt war, dessen Namen er nicht einmal richtig verstanden, und der ihm gesagt hatte, daß er der Repräsentant eines Syndikates sei, ein Ding, vor dem Dick nicht den geringsten Respekt fühlte. Die Ungerechtigkeit dieses Verfahrens erregte ihn nicht besonders; er hatte in anderen Fällen bereits zu häufig gesehen, wie die Macht und Stärke stets die Oberhand besaßen, um Ekel zu empfinden bei dem moralischen Verhältnis zwischen Recht und Unrecht. Doch er verlangte glühend nach dem Blute des Gentleman in dem blusenartigen Rocke, und als er wieder zu sprechen anfing, geschah es mit einer so gezwungenen Sanftmut, daß Torpenhow dieselbe sehr gut als den Anfang eines Streites erkannte.
»Verzeihen Sie, Herr, aber haben Sie keinen jüngeren Mann zur Verfügung, mit dem ich dieses Geschäft arrangiren könnte?«
»Ich spreche im Namen des Syndikates. Ich sehe keinen Grund, um eine dritte Person zu –«
»Sie werden in einer Minute einen Grund sehen. Haben Sie die Güte, mir meine Skizzen zurückzugeben.«
Der Mann starrte Dick erbleichend an und dann Torpenhow, der sich gegen die Wand lehnte. Er war nicht an ehemalige Angestellte gewöhnt, die ihm befahlen, die Güte haben zu wollen, irgend eine Sache zu thun.
»Ja, es ist so ziemlich ein Diebstahl bei kaltem Blute,« bemerkte Torpenhow kritisch; »doch fürchte ich, ja ich fürchte sogar sehr, daß Sie an den unrechten Mann geraten sind. Seien Sie vorsichtig, Dick; denken Sie daran, daß wir hier nicht im Sudan uns befinden!«
»In Anbetracht der Dienste, die das Syndikat Ihnen erwiesen, indem es Ihren Namen der Welt bekannt gemacht hat –«
Das war keine glückliche Bemerkung; dieselbe erinnerte Dick an gewisse Jahre, die er umherstreifend in Verlassenheit und im Kampfe, sowie in unbefriedigten Wünschen durchlebt hatte. Der Gedanke hieran stimmte nicht besonders zu dem vom Glück begünstigten Gentleman, der ihm vorschlug, sich der Frucht dieser Jahre zu erfreuen. »Ich weiß wirklich nicht recht, was ich mit Ihnen machen soll,« fing Dick nachdenklich an. »Natürlich sind Sie ein Dieb und verdienten halb tot geschlagen zu werden; doch würden Sie, in Ihrem Falle, wahrscheinlich daran sterben. Ich wünsche nicht Ihren Tod hier in diesem Zimmer, und außerdem wäre das recht unglücklich für jemand, der gerade im Begriffe ist, dasselbe zu beziehen. Schlagen Sie nicht, Herr, Sie würden sich nur aufregen dadurch.« Er legte eine Hand auf den Vorderarm des Mannes und ließ die andere unter dem Rocke längs des dicken Körpers desselben hinabgleiten.
»Du lieber Himmel!« sagte er zu Torpenhow, »und dieser grauhaarige Wechselbalg wagt es, ein Spitzbube zu sein! Ich habe in Esneh einen Kameltreiber gesehen, dem man die schwarze Haut in Streifen vom Leibe gezogen, weil er ein halbes Pfund nasser Datteln gestohlen hatte, und er war dabei so zähe wie eine Peitschenschnur. Dieser Mensch hier ist überall so weich wie ein Weib.«
Es gibt wohl wenige Dinge, die empfindlicher demütigend sind, als von einem Manne gestreichelt zu werden, der nicht die Absicht hat zuzuschlagen. Das Haupt des Syndikates begann schwer zu atmen. Dick ging um ihn herum, ihn streichelnd, wie eine Katze. Dann berührte er mit dem Zeigefinger die bleifarbigen Beutel unter den Augen und schüttelte mit dem Kopfe.
»Sie wollten mir meine Sachen stehlen, meine Sachen! Sie, der Sie nicht wissen, wann Sie sterben können. Schreiben Sie einen Zettel für Ihr Bureau – Sie sagen ja, daß Sie das Haupt desselben sind, – und geben Sie den Befehl, an Torpenhow meine Skizzen zu übergeben – jede einzige von ihnen. Warten Sie eine Minute; Ihre Hände zittern. So, jetzt!«
Er legte ein Taschenbuch vor ihn hin. Der Zettel wurde geschrieben; Torpenhow nahm denselben und ging fort, ohne ein Wort zu sprechen, während Dick um den wie bezaubert dasitzenden Gefangenen hin und her wanderte und ihm die besten Vorschläge für das Wohl seiner Seele erteilte. Als Torpenhow mit der kolossalen Mappe zurückkehrte, hörte er, wie Dick beinahe in beruhigendem Tone sagte: »Nun, ich hoffe, diese Geschichte wird eine Lehre für Sie sein; sollten Sie mich, wenn ich mich erst hier zum Arbeiten eingerichtet habe, mit irgend einem Unsinn wegen gewaltthätiger Handlungen belästigen, so werde ich Sie fassen und so bearbeiten, daß Sie daran sterben werden, davon können Sie überzeugt sein. Sie werden doch nicht mehr sehr lange leben. Gehen Sie! Imshi, Fußsack, – hinaus!«
Der Mann ging fort, stolpernd und wie betäubt Dick holte tief Atem und rief aus: »Pfui! Was für eine gesetzlose Bande ist dieses Volk! Das erste, was einer armen Waise begegnet, ist eine Räuberbande, organisirter Einbruch! Denken Sie doch nur an die scheußliche Schurkerei in dem Charakter dieses Mannes! Sind meine Skizzen sämtlich vorhanden, Torp?«
»Ja, einhundertundsiebenundvierzig Stück. Nun, ich muß wirklich gestehen, Dick, Sie haben prächtig begonnen!«
»Er hat mit mir angefangen und sich eingemischt. Für ihn bedeutete die Geschichte nur einige Pfund, für mich aber war es alles. Ich denke nicht, daß er mich verklagen wird. Ich erteilte ihm gratis einige ärztliche Ratschläge über den Zustand seiner Gesundheit. Es war billig für den kleinen Stoß, den es ihn gekostet. Jetzt wollen wir einmal nach meinen Sachen sehen.«
Zwei Minuten später lag Dick auf dem Fußboden und war tief in der Untersuchung seiner Skizzenmappe versunken, liebevoll lächelnd beim Umwenden der Zeichnungen und bei dem Gedanken an den Preis, um den sie erkauft waren.
Es war spät am Nachmittage, als Torpenhow an der Thüre erschien und Dick unter dem Oberlichte eine wilde Sarabande tanzen sah.
»Ich leistete Besseres als ich geglaubt, Torp,« rief er aus, ohne seinen Tanz zu unterbrechen. »Sie sind gut! Sie sind verdammt gut! Sie werden wie eine Flamme aufgehen! Ich werde eine Ausstellung auf meine eigene Rechnung arrangiren. Und dieser Mensch wollte mich darum betrügen! Wissen Sie wohl, daß es mir jetzt leid thut, ihn nicht wirklich durchgeprügelt zu haben?«
»Hören Sie auf,« sagte Torpenhow, »hören Sie auf und beten Sie, daß Sie von der Sünde der Arroganz erlöst werden. Bringen Sie Ihre Sachen her von dem Orte, wo Sie gewohnt haben, und dann wollen wir versuchen, diese Scheune etwas mehr schiffsmäßig einzurichten.«
»Und dann – o dann,« rief Dick aus, einen Luftsprung machend, »wollen wir die Aegypter ausbeuten.«