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Am nächsten Morgen fand Torpenhow Dick in die tiefste Ruhe des Tabakrauchens versunken.
»Nun, Sie Wahnsinniger, wie fühlen Sie sich?«
»Ich weiß es nicht, ich bin dabei, es herauszufinden.«
»Sie thäten viel besser daran, etwas zu arbeiten.«
»Mag sein, aber ich habe keine Eile. Ich habe eine Entdeckung gemacht Torp, in meinem Kosmos ist zu viel › ego‹ vorhanden.«
»Wahrhaftig! Verdanken Sie diese Entdeckung meinen oder Nilghais Vorlesungen?«
»Sie kam plötzlich über mich, ganz von selbst viel zu viel ego, und nun will ich mich an die Arbeit machen.«
Er drehte einige halb vollendete Skizzen um, zog eine neue Leinwand auf, reinigte drei Pinsel, ließ Binkie in die Zehen der Gliederpuppe beißen, rasselte durch seine Sammlung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen und ging dann plötzlich aus, indem er erklärte, er hätte für den Tag genug gethan. »Das ist entschieden unanständig,« sagte Torpenhow, »und das erstemal, daß Dick jemals an einem hellen Morgen fortgegangen ist. Vielleicht hat er entdeckt, daß er eine Seele besitzt oder ein Künstlertemperament oder irgend etwas ebenso Wertvolles. Das kommt davon, wenn man ihn einen Monat lang sich selbst überläßt. Vielleicht ist er in Abendgesellschaften gewesen. Ich muß doch das herausbringen.« Er läutete dem kahlköpfigen, alten Haushälter, den nichts in Erstaunen versetzen oder beunruhigen konnte.
»Hat Mr. Heldar außer dem Hause gespeist, so lange ich fort war, Benton?«
»Niemals hat er in der ganzen Zeit seinen Gesellschaftsanzug herausgelegt, Herr. Meistens dinirte er hier, aber zuweilen brachte er einige sehr elegant aussehende junge Herren nach dem Theater mit herauf. Auffallend elegant waren sie. Die Herren hier im obersten Stockwerk thun meistens, was ihnen beliebt, aber es scheint mir, Herr, daß, einen Spazierstock fünf Treppen hinunterfallen lassen und dann zu vieren neben einander hinuntergehen, um ihn wieder zu holen und um halb zwei Uhr morgens dabei zu singen: ›Bring den Whiskey zurück, Willie, mein Liebling!‹ – nicht ein- oder zweimal, sondern sehr häufig – gerade nicht viel Mitleid für die übrigen Mitbewohner zeigt. Was ich sagen wollte, ist: ›Was du nicht willst, das dir geschieht, das füg auch keinem andern zu.‹ Das ist mein Wahlspruch.«
»Natürlich, natürlich! Ich fürchte, das oberste Stockwerk ist nicht das ruhigste im Hause.«
»Ich beklage mich nicht, Herr. Ich habe freundlich mit Mr. Heldar gesprochen, doch er lachte und machte mir ein Bild von meiner Frau, das ebenso gut ist wie ein kolorirtes Gemälde. Es hat nicht den hellen Glanz einer Photographie, aber ich sage ›Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul‹. Mr. Heldar hat seit Wochen seine Gesellschaftskleider nicht angehabt.«
»Dann ist alles gut,« sagte sich Torpenhow. »Orgien sind gesund, und Dick hat einen Kopf für sich, doch wenn es sich träfe, daß Weiber mit ihm liebäugeln, so bin ich meiner Sache doch nicht so gewiß.«
Dick hatte sich nördlich durch den Park gewendet aber im Geiste wanderte er mit Maisie auf den Schlammbänken. Er lachte laut auf, als er sich des Tages entsann, an dem er Amommas Hörner mit Papierkrausen geschmückt und Maisie, ganz blaß vor Zorn, ihn geknufft hatte. Wie lang erschienen diese Jahre, wenn er darauf zurückblickte, und wie eng war Maisie mit jeder Stunde derselben verknüpft! Sturm auf dem Meere und Maisie in einem grauen Kleide am Strande, sich ihr nasses Haar aus den Augen streichend und lachend über den Wettkampf der heimwärts fahrenden Fischersmaks; heißer Sonnenschein auf den Schlammbänken und Maisie ärgerlich schnüffelnd mit erhobenem Kinn; Maisie vor dem Winde fliegend, der über den Strand fegte und ihr den Sand wie Schrotkörner um die Ohren jagte; Maisie, sehr ernsthaft und sicher, Mrs. Jennet Lügen erzählend, während Dick sie mit gröberen Unwahrheiten unterstützte; Maisie, sorgfältig ihren Weg von Stein zu Stein suchend, mit einem Revolver in der Hand und zusammengebissenen Zähnen; und Maisie in einem grauen Kleide auf dem Grase zwischen der Mündung einer Kanone und einem nickenden Seemohn sitzend. Diese Bilder zogen eins nach dem andern bei ihm vorüber, doch das letzte verweilte am längsten. Dick war vollkommen glücklich in diesem ruhigen Frieden, der für sein Gemüt ebenso neu war wie fremd für seine Erfahrung. Es fiel ihm gar nicht ein, daß es auch noch andere Ansprüche an seine Zeit geben könnte, als vormittags durch den Park zu bummeln.
»Das ist wirklich gutes Licht zum Arbeiten,« sagte er, gemütlich seinen Schatten betrachtend. »Mancher arme Teufel müßte dankbar dafür sein. Doch da ist Maisie.«
Sie kam vom Marmorbogen auf ihn zu, während er bemerkte, daß die Zierlichkeit ihres Ganges sich nicht geändert. Es war gut, sie noch als Maisie und gleichsam als seine nächste Nachbarin zu finden. Es fand keine Begrüßung zwischen ihnen statt, weil es in früheren Tagen auch nie geschehen war.
»Was thun Sie zu dieser Stunde außerhalb Ihres Ateliers?« fragte Dick wie jemand, der das Recht dazu hatte.
»Faulenzen. Geradezu faulenzen. Ich wurde ärgerlich über ein Kinn und kratzte es aus. Dann ließ ich es zwischen einem kleinen Haufen von gemalten Schnitzeln und ging fort.«
»Ich weiß, was mit dem Palettemesser arbeiten bedeutet. Was war es für ein Stück?«
»Ein Studienkopf, der nicht gelingen wollte – abscheuliches Ding!«
»Ich arbeite nicht gerne über eine ausgekratzte Malerei, wenn ich Fleisch male. Die Striche kommen wollig heraus, wenn die Farbe trocknet.«
»Nicht, wenn man sorgfältig auskratzt.« Maisie schwenkte mit der Hand, um ihre Methode deutlich zu machen. Auf der weißen Manschette befand sich ein Klex von Farbe.
Dick lachte.
»Sie sind noch ebenso unordentlich wie früher.«
»Das kommt wohl von Ihnen. Sehen Sie nur auf Ihre eigene Manschette!«
»Beim Himmel, ja! Es ist noch schlimmer als bei Ihnen. Ich glaube, wir haben uns in nichts viel geändert. Lassen Sie uns doch einmal sehen.« Er blickte prüfend auf Maisie. Der blasse blaue Nebel eines Herbsttages hing zwischen den Baumstämmen des Parkes und bildete einen Hintergrund für das graue Kleid, die Toque aus blauem Sammet auf dem schwarzen Haar und dem entschlossenen Profile.
»Nein, nichts hat sich geändert. Wie gut das ist! Entsinnen Sie sich noch, wie ich Ihr Haar in dem Bügel eines kleinen Handkoffers einklemmte?«
Maisie nickte, zwinkerte mit den Augen und wandte ihr Gesicht voll Dick zu.
»Warten Sie eine Minute,« sagte er. »Der Mund hat sich in den Ecken ein wenig heruntergezogen. Wer hat Ihnen Kummer bereitet, Maisie?«
»Niemand als wie ich selbst. Ich schien mit meiner Arbeit niemals vorwärts zu kommen, obschon ich es hart genug versuchte; auch sagte Kami –«
»› Continuez, mesdemoiselles! Continuez tou-jours, mes enfants!‹ Kami ist entmutigend. Ich bitte um Entschuldigung.«
»Ja, das sagt er immer. Er erzählte mir im letzten Sommer, daß es besser mit mir ginge und ließ mich in diesem Jahre etwas ausstellen.«
»Nicht hier, nicht wahr?«
»Natürlich nicht. Im Salon.«
»Sie fliegen hoch.«
»Ich habe lange genug mit meinen Flügeln angestoßen. Wo stellen Sie aus, Dick?«
»Ich stelle nicht aus, ich verkaufe.«
»Was ist denn Ihr Genre?«
»Haben Sie nicht davon gehört?« Dick riß die Augen auf. War das möglich? Er sann auf ein Mittel, sie zu überzeugen. Sie befanden sich nicht weit vom Marmorbogen. »Kommen Sie ein Stückchen die Oxfordstreet hinauf, so werde ich es Ihnen zeigen.« Ein kleiner Haufe von Leuten stand vor einem Bilderladen, den Dick gut kannte. »Da drinnen befindet sich eine Reproduktion von einer meiner Arbeiten,« sagte er mit verhaltenem Triumph. Niemals zuvor hatte ihm der Erfolg so süß geschmeckt. »Sie sehen die Art von Dingen, welche ich male. Gefällt es Ihnen?«
Maisie erblickte den wilden Wirbel einer Feldbatterie, die im Feuer in Aktion trat. Zwei Artilleristen standen hinter ihr in der Menge.
»Sie haben das eine Vorderpferd verloren,« sagte der eine zum andern. »Es ist schrecklich zerrissen, aber sie kommen mit den übrigen gut vorwärts. Der Vorderfahrer fährt besser als Du, Tom. Sieh, wie verständig er sein Pferd leitet!«
»Nummer drei wird beim nächsten Stoß vom Vorderwagen fallen,« lautete die Antwort.
»Nein, er wird es nicht. Sieh nur, wie er seine Füße gegen das Eisen anstemmt. Es ist alles in Ordnung.«
Dick beobachtete Maisies Gesicht; sein Herz schwoll vor Freude – ein schöner, allgemeiner Triumph. Sie interessirte sich mehr für die kleine Menge als für das Gemälde. Das war etwas, was sie verstehen konnte.
»Und ich brauchte es so nötig! O, ich brauchte es so sehr!« sagte sie schließlich leise.
»Ich – alles ich!« sagte Dick gelassen. »Sehen Sie ihre Gesichter an. Es packt sie; sie wissen nicht, was sie veranlaßt, Augen und Mund aufzusperren, aber ich weiß es. Und ich weiß, meine Arbeit ist gut.«
»Ja, ich sehe es. O, was ist es doch für eine schöne Sache, es zu etwas gebracht zu haben!«
»Es zu etwas gebracht zu haben, in der That! Ich mußte dafür hinausgehen und mich darnach umschauen. Was denken Sie davon?«
»Ich nenne es einen Erfolg. Erzählen Sie mir, wie Sie hinausgingen!«
Sie kehrten in den Park zurück, wo Dick, mit der ganzen Anmaßung eines jungen Mannes einer Frau gegenüber, von seinen Thaten erzählte, wobei anfänglich seine Ich – Ich – Ich durch seinen Bericht blitzten, wie die Telegraphenstangen bei einem Reisenden vorüberblitzen. Maisie hörte zu und nickte mit dem Kopfe. Die Geschichten von Kampf und Entbehrung bewegten sie nicht um eine Haaresbreite. Bei dem Ende einer jeden Episode schloß er: »Und das gab mir die Kenntnis von der Behandlung der Farbe,« oder des Lichtes, oder was immer es sonst gewesen sein mochte, was ihn veranlaßt hatte, seine Zwecke zu verfolgen und zu verstehen. Er führte sie atemlos durch die halbe Welt, zu ihr sprechend, wie er noch niemals in seinem ganzen Leben gesprochen hatte. In der Flut seiner Begeisterung kam das große Verlangen über ihn, dieses Mädchen zu gewinnen, das mit dem Kopf nickte und sagte: »Ich verstehe. Fahren Sie fort!« – es zu gewinnen und mit fortzunehmen, weil es Maisie war, weil es ihn verstand, weil es sein Recht und eine Frau war, nach welcher er vor allen Frauen verlangte.
Dann hörte er plötzlich auf zu erzählen und sagte: »So nahm ich alles, was ich brauchte, und mußte dafür kämpfen. Jetzt erzählen Sie.«
Maisies Bericht war beinahe so grau wie ihr Anzug. Er umfaßte Jahre voll geduldiger, mühsamer Arbeit, unterstützt durch einen rasenden Stolz, der durch nichts gebrochen werden konnte, weder durch das Lachen der Kunsthändler noch durch die ihre Arbeit verzögernden Nebel, während Kami sich unfreundlich und spöttisch zeigte und die Mädchen in anderen Ateliers nur gezwungen höflich waren. Es gab nur wenige lichte Punkte, wenn Gemälde von ihr in Provinzausstellungen angenommen worden; doch sie schloß mit der oft wiederholten Klage: »Sie sehen, Dick, daß ich keinen Erfolg hatte, obgleich ich so hart arbeitete.«
Da wurde Dick von Mitleid ergriffen. Ebenso hatte Maisie gesprochen, als sie den Wellenbrecher nicht treffen konnte, eine halbe Stunde, bevor er sie geküßt. Das war wie gestern geschehen. »Machen Sie sich nichts daraus,« sagte er. »Ich will Ihnen etwas sagen, wenn Sie es glauben wollen.« Die Worte hatten Bezug auf jenen Vorfall. »Das ganze Ding, Schloß, Schaft und Lauf, ist nicht so viel wert, als ein großer, gelber Seemohn unter dem Fort Kerling.«
Maisie errötete ein wenig. »Sie haben gut reden, denn Sie hatten Erfolg und ich nicht.«
»Lassen Sie mich sprechen; ich weiß, Sie werden mich verstehen. Teure Maisie, es klingt thöricht, aber diese zehn Jahre haben niemals existirt, und ich bin zurückgekehrt. Es ist wirklich genau dasselbe. Sehen Sie das ein? Sie sind nun allein, ebenso wie ich. Weshalb soll man sich quälen, was nützt das? Kommen Sie anstatt dessen zu mir, mein Liebling!«
Maisie stocherte mit ihrem Sonnenschirm in dem Kies. Sie saßen auf einer Bank. »Ich verstehe,« sagte sie leise. »Doch ich habe meine Arbeit zu verrichten, und ich muß es thun.«
»Dann thun Sie es mit mir, Teuerste. Ich will Sie nicht hindern.«
»Nein, ich könnte es nicht. Es ist meine Arbeit – meine – meine! Ich bin mein ganzes Leben hindurch für mich allein gewesen und will niemand angehören, außer mir selbst. Ich erinnere mich an alles ebenso gut wie Sie, aber das zählt nicht mit. Wir waren damals Kinder und wußten nicht, was vor uns lag. Seien Sie nicht selbstsüchtig, Dick. Ich glaube, ich sehe meinen Weg zu einem kleinen Erfolge im nächsten Jahre vor mir. Nehmen Sie mir denselben nicht!«
»Ich bitte um Verzeihung, mein Liebling. Es ist meine Schuld, daß ich so thöricht gesprochen habe. Ich kann nicht erwarten, daß Sie meinetwegen Ihr ganzes Leben hingeben. Ich will auf meinen Platz zurückkehren und noch ein wenig warten.«
»Aber, Dick, ich möchte Sie nicht gern aus meinem Leben entfernen, nun Sie gerade zurückgekommen sind.«
»Ich stehe ganz zu Ihrem Befehle, verzeihen Sie mir!« Dick verschlang das beunruhigte kleine Gesicht mit seinen Augen. Es lag in denselben ein Triumph, weil er nicht begreifen konnte, daß Maisie sich weigern würde, ihn früher oder später zu lieben, da er sie doch liebte.
»Es ist schlecht von mir,« sagte Maisie, noch langsamer als vorher, »es ist schlecht und selbstsüchtig, aber ach, ich bin immer so einsam gewesen! Nein, Sie mißverstehen mich! Nun ich Sie wiedergesehen habe – es ist thöricht, aber ich möchte Sie gern in meinem Leben haben.«
»Natürlich. Wir gehören zu einander.«
»O nein, aber Sie verstanden mich stets, und in meiner Arbeit gibt es so vieles, wobei Sie mir helfen könnten. Sie verstehen die Sachen und kennen die Mittel und Wege, sie auszuführen. Sie müssen.«
»Ich thue es, denke ich, oder ich kenne mich selbst nicht. Dann nehme ich also an, Sie wünschen, daß wir uns nicht wieder aus den Augen verlieren und ich Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen möchte.«
»Ja, aber denken Sie daran, Dick, daß nichts weiter daraus folgen wird. Das ist es, weshalb ich mich für selbstsüchtig halte. Lassen Sie die Dinge bleiben, wie sie sind. Ich bedarf Ihrer Hilfe.«
»Sie sollen dieselbe haben. Doch lassen Sie uns darüber nachdenken. Ich muß zuerst Ihre Bilder sehen und Ihre Skizzen durchblättern, um Ihre Richtung herauszufinden. Sie sollten nur sehen, was die Blätter über meine Richtung sagen! Dann will ich Ihnen guten Rat erteilen und Sie werden dementsprechend malen. Ist es nicht das, Maisie?«
Schon wieder lag ein unheiliger Triumph in Dicks Augen.
»Es ist wirklich gut von Ihnen – viel zu gut. Weil Sie sich selbst über das trösten, was niemals geschehen wird, ich weiß es, und dennoch wünsche ich, Sie festzuhalten. Tadeln Sie mich später nicht deswegen, bitte.«
»Ich trete mit offenen Augen in die Sache ein. Ueberdies, die Königin kann niemals unrecht thun. Es ist nicht Ihre Selbstsucht, die mich berührt; es ist Ihre Kühnheit, mir vorzuschlagen, mich benützen zu wollen.«
»Puh! Sie sind nur Dick – und ein Bilderladen.«
»Sehr gut: das ist alles, was ich bin. Aber, Maisie, glauben Sie denn nicht, daß ich Sie liebe? Ich möchte nicht, daß Sie irgendwie falsche Begriffe über Brüder und Schwestern haben.«
Maisie blickte einen Moment auf und schlug dann ihre Augen nieder.
»Es ist Unsinn, aber – ich glaube es. Ich wollte, ich könnte Sie fortschicken, bevor Sie böse auf mich werden. Aber – aber das Mädchen, welches bei mir wohnt, ist rothaarig und sehr empfindlich, und alle unsere Ansichten sind verschieden.«
»Die unsrigen ebenfalls, denke ich. Das thut nichts. In drei Monaten, von heute an, werden wir zusammen über alles das lachen.«
Maisie schüttelte traurig den Kopf. »Ich wußte ja, Sie würden mich nicht verstehen; es wird Sie um so stärker treffen, wenn Sie es einsehen. Blicken Sie mir ins Gesicht, Dick, und sagen Sie mir, was Sie dort sehen!«
Sie standen auf und blickten einander einen Augenblick an. Der Nebel wurde dichter und dämpfte den Lärm von London jenseits der Einfriedung. Dick wandte seine ganze, so mühsam erlangte Kenntnis von Physiognomien an, um jene Augen, den Mund und das Kinn unter der schwarzsammetnen Toque zu betrachten.
»Es ist dieselbe Maisie, und ich bin ebenfalls derselbe,« sagte er. »Wir haben beide genau ebenso viel eigenen Willen, und bei einem oder dem andern von uns muß derselbe gebrochen werden. Jetzt aber wollen wir über die Zukunft sprechen. Ich muß dieser Tage zu Ihnen kommen und mir Ihre Bilder ansehen; ich setze voraus, wenn das rothaarige Mädchen zugegen ist.«
»Sonntags habe ich am besten Zeit, Sie müssen an den Sonntagen kommen. Es gibt so sehr viele Dinge, über die ich mit Ihnen sprechen und Sie um Rat fragen möchte. Jetzt muß ich aber nach Hause gehen und arbeiten.«
»Versuchen Sie, bis zum nächsten Sonntag herauszufinden, was ich bin,« sagte Dick. »Begnügen Sie sich nicht mit meinem Worte für irgend etwas, was ich Ihnen erzählt habe. Adieu, mein Liebling, gesegnet mögen Sie sein.«
Maisie eilte davon wie eine kleine graue Maus. Dick blickte ihr nach, bis sie ihm aus den Augen gekommen; aber er hörte nicht, wie sie ganz nüchtern zu sich sagte: »Ich bin eine Elende – eine abscheuliche, selbstsüchtige Elende. Aber es ist Dick, und Dick wird es verstehen.«
Noch niemand hat erklärt, was wirklich geschieht, wenn eine unwiderstehliche Gewalt mit einem unbeweglichen Pfosten zusammentrifft, obgleich manche tief darüber nachgedacht haben, gerade wie Dick. Er versuchte sich selbst die Versicherung zu geben, daß Maisie in wenigen Wochen, allein durch seine Anwesenheit, sich würde leiten und auf bessere Gedanken bringen lassen. Dann erinnerte er sich wieder viel zu deutlich an ihr Gesicht und alles, was auf demselben geschrieben stand.
»Wenn ich irgend etwas von Physiognomien verstehe,« sagte er, »so steht alles andere auf diesem Gesichte als Liebe. Ich werde das selbst hineinlegen müssen; und dieses Kinn und dieser Mund werden nicht umsonst gewonnen werden. Aber sie hat recht. Sie weiß, was sie braucht, und will es erreichen. Was für eine Unverschämtheit! Mich! Von allen Leuten auf der weiten Welt mich zu benützen! Aber es ist Maisie. Darüber ist nicht hinauszukommen, und es ist so gut, sie wiederzusehen. Diese Sache muß seit Jahren in meinem Kopfe geschlummert haben ... Sie will mich benützen, wie ich Binal in Port Saïd benutzt habe. Sie hat ganz recht. Es ist etwas verletzend. Ich soll sie jeden Sonntag sehen wie ein junger Mensch, der einem Dienstmädchen den Hof macht. Sie ist ihrer Sache sicher; und dennoch – dieser Mund ist kein Mund, der sich ergibt. Ich werde sie jedesmal küssen wollen und muß dabei auf ihre Bilder sehen – und dabei weiß ich nicht einmal, was für ein Genre sie malt und soll über Kunst sprechen – Frauenkunst! Deshalb, im einzelnen und ewiglich, verdammt seien alle Arten von Kunst! Einmal brachte sie mich gut vorwärts, und nun ist sie mir im Wege. Ich will nach Hause gehen und etwas Kunst machen.«
Auf halbem Wege nach seinem Atelier überkam ihn ein schrecklicher Gedanke. Die Gestalt einer allein lebenden Frau erhob sich vor ihm im Nebel.
»Sie ist ganz allein in London mit einem rothaarigen, empfänglichen Mädchen, das wahrscheinlich die Verdauung eines Straußes besitzt. Die meisten rothaarigen Leute haben eine solche. Maisie ist ein galliges kleines Ding. Sie werden essen wie einsame Frauen – Mahlzeiten zu allen Stunden und Thee bei allen Mahlzeiten. Ich entsinne mich, wie die Studenten in Paris sich gewöhnlich durchfütterten. Sie kann jede Minute krank werden, und ich würde nicht im stande sein, ihr zu helfen. Pfui! Das ist zehnmal schlimmer, als eine Frau haben!«
Als es schummerig wurde kam Torpenhow in Dicks Atelier und blickte ihn mit Augen voll strenger Liebe an, die zwischen Männern entsteht, welche zusammen an demselben Ruder gezogen haben und durch Gewohnheit, Gebrauch und die Vertraulichkeiten der Arbeit an einander gefesselt sind. Das ist eine wahre Liebe, die nicht stirbt, obschon sie Streit, Tadel und die größte Aufrichtigkeit gestattet und ermutigt, sondern zunimmt und probehaltig ist gegen Abwesenheit und schlechte Aufführung.
Dick verhielt sich schweigsam, nachdem er Torpenhow die gestopfte Beratungspfeife überreicht hatte. Er dachte an Maisie und deren wahrscheinliche Entbehrungen. Es war für ihn etwas Neues, an jemand anders als Torpenhow zu denken, der für sich selbst denken konnte. Hier war endlich ein Ausgang für jene Kassenbilanz. Er konnte Maisie reichlich mit Juwelen schmücken, – ein dickes goldnes Halsband um den kleinen Nacken, Armbänder um die gerundeten Arme und wertvolle Ringe an den Fingern dieser kühlen, ringlosen Hände, die er zwischen den seinigen gehalten hatte. Es war ein alberner Gedanke, denn Maisie würde ihm nicht einmal erlauben, ihr auch nur einen einzigen Ring an einen Finger zu stecken und über goldne Schmucksachen lachen. Es würde besser sein, mit ihr ruhig in der Dämmerung zu sitzen, mit seinem Arme um ihren Nacken und ihr Gesicht an seiner Schulter, wie es sich für Mann und Frau schickte. Torpenhows Stiefeln knarrten an jenem Abende, während seine starke Stimme schnarrte. Dicks Augenbrauen zogen sich zusammen und er murmelte ein böses Wort, weil er allen seinen Erfolg als ein Recht und eine Abschlagszahlung für frühere Entbehrungen in Empfang genommen hatte und nun im Kampfe von einer Frau aufgehalten wurde, die diesen Erfolg zugab und doch nicht sofort ihn liebte.
»Hören Sie, alter Herr,« begann Torpenhow, der zwei oder drei vergebliche Versuche zu einem Gespräche gemacht; »ich habe Sie doch nicht verletzt, durch irgend etwas, was ich letzthin gesagt, wie?«
»Sie! Nein. Wie könnten Sie?«
»Die Leber nicht in Ordnung?«
»Der wirklich gesunde Mensch weiß gar nicht, daß er eine Leber hat. Ich bin nur im allgemeinen ein wenig verstimmt und ermüdet durch verschiedene Dinge. Ich vermute, es ist meine Seele.«
»Der wirklich gesunde Mensch weiß gar nicht, daß er eine Seele hat. Was haben Sie mit dergleichen Luxusartikeln zu schaffen?«
»Es kam ganz von selbst. Wer ist der Mann, der sagt, daß wir alle Eilande wären, die sich gegenseitig Lügen zuriefen über Meere von Mißverständnissen?«
»Er hat recht, wer es auch sein möge – ausgenommen, was die Mißverständnisse anbelangt. Ich glaube nicht, daß wir einander mißverstehen können.«
Der blaue Rauch ringelte sich in Wolken von der Decke zurück. Torpenhow fragte eindringlich:
»Dick, ist es eine Frau?«
»Gehangen mögen Sie werden, wenn es etwas ist, das nur im entferntesten einer Frau gleicht; und wenn Sie so zu sprechen anfangen, werde ich mir ein Atelier aus roten Ziegelsteinen mieten mit weiß gemalter Verputzung und Begonien, blauen Hungarien zwischen Topfpalmen zu drei Schilling und sechs Pennys, auch werde ich alle meine Bilder in anilinfarbige Plüschrahmen einfassen lassen und jede Frau einladen, die kläfft, jammert und klagt über das, was, wie ihr Guidebuch ihr gesagt, Kunst ist, und Sie, Torp, sollen sie empfangen, – in einem schnupftabakbraunen Sammetrock mit gelben Hosen und einem orangenfarbigen Halstuche. Das wird Ihnen gefallen!«
»Zu dünn, Dick. Ein besserer Mann als Sie leugnete mit Fluchen und Schwören bei einer denkwürdigen Gelegenheit. Sie haben zu stark aufgetragen, gerade wie er es that. Es ist nicht meine Sache, natürlich, aber es ist erquickend, zu denken, daß irgendwo unter den Sternen eine fürchterliche Tracht Schläge für Sie aufbewahrt ist. Ob dieselbe vom Himmel oder von der Erde kommen wird, weiß ich nicht, aber es steht fest, daß sie kommen und Sie etwas zusammenrütteln wird. Sie haben es nötig, etwas durchgehämmert zu werden.«
Dick schauerte es. »Vortrefflich,« sagte er. »Wenn dieses Eiland zerbröckeln sollte, wird es Sie rufen.«
»Ich werde um die Ecke kommen und helfen, es noch etwas mehr zu zerbröckeln. Wir reden Unsinn, kommen Sie mit in ein Theater.«