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Hanni legte die Eisenbahnfahrt München – Wasserburg in gehobener Stimmung zurück. Sie hatte sich Urlaub geben lassen, wobei Herr Löwenherz vielsagend gelächelt hatte. Mochte er. Sie knüpfte an diese Reise so viel Hoffnungen, daß ihr das ganze Warenhaus den Rücken hinunterrutschen konnte. In Wasserburg, einem alten Städtchen mit krummen Gassen und buckligen Häusern, mietete sie zur Feier des Tages ein Auto und wunderte sich sehr, daß es diese Einrichtung in dem verträumten Provinznest überhaupt gab. Sie hatte den schauderhaften Weg nach Altenbuch noch zu frisch in der Erinnerung.
Während der ausgeleierte Wagen seinem Bestimmungsziel zurollte, überlegte Hanni, daß es eigentlich kein inkonsequenteres Geschöpf gab als den Menschen. Da hatte man sich nun geschworen, nie wieder nach Altenbuch zu fahren, und eine Woche später waren alle großen Töne vergessen! Aber schließlich konnte niemand für sein Herz. Um einen Verdammten zu erlösen, lohnte es sich schon, sein Wort zu brechen.
Als das Auto in die Nähe des Scheithauer-Hofes kam, erblickte Hanni auf dem Rücken eines sanftgewölbten Wiesenhanges einen arbeitenden Menschen, der die Gestalt von Markus hatte. Hanni bedeutete dem Chauffeur, zu halten, legte die Hände an den Mund und rief Scheithauers Namen. Der hinter einem Dungfuhrwerk herschreitende, hemdärmelige Bauer drehte sich um – – – sie hatte sich nicht geirrt, es war Markus.
Hanni winkte, entlohnte den Autolenker und hieß ihn umkehren. Dann stieg sie leichtfüßig den Hügel hinan. Sie hatte das Hütchen abgenommen, und ihr widerspenstiges Haar flatterte im Wind. Ihre Augen strahlten, und ihre junge Brust ging rascher. Ihr hübsches, klares Gesicht glühte vor Erregung. Sie hatte das wunderbare Gefühl, ein Engel zu sein, der einem Unglücklichen eine frohe Botschaft bringt.
Markus, nur mit Hose, Hemd und Schuhen bekleidet, lehnte bei dem Pferde, das mit seinen Hufen ungeduldig den Boden schlug. Sein eckig und hager gewordenes Gesicht stand unbewegt im fröhlichen Lichte dieses Februartages. Was zu weich und verträumt in seinen Zügen gewesen war, hatte die stille Qual vergangener Wochen weggelöscht und durch asketische Runen ersetzt. Er sah Fräulein Delius ohne Wimperzucken entgegen und begriff nicht, was sie von ihm wollte. Warum sie abermals kam, seinen Frieden störte und alte, kaum besänftigte Wunden aufriß? Dann verdunkelte Ärger sein Gesicht. Das ist aufdringlich! dachte er …
Nun stand Hanni vor ihm, lachte mit den Augen und streckte ihm die Hände hin. Da wurde er von der Erkenntnis überwältigt, daß eine junge Dame von Hannis Format nicht grundlos in diese Einöde fuhr. Er schämte sich seiner Gedanken, ergriff ihre Finger und sagte: »Grüß Gott, Fräulein Delius; welche Überraschung! Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht entgegengegangen bin, aber ich kann von meinem Gaul nicht weg. Es ist ein neuer, junger, dem nicht zu trauen ist.«
»Macht nichts. Sie wissen doch, daß ich nicht so bin«, lächelte sie. »Können Sie sich denken, weshalb ich komme?«
»Nein, Fräulein Delius.«
»Große Sache. Geht Sie an. Raten Sie mal!«
Er zuckte die Schultern. Seine Miene wurde gequält. Er vertrug diesen Ton nicht.
»Wie kann ich da raten, Fräulein Delius. Sie müssen mir schon daraufhelfen.«
»Es ist etwas sehr Angenehmes, etwas sehr Freudiges«, kam sie ihm zu Hilfe. Sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern ihn erst ein bißchen vorbereiten.
»Freudiges? Für mich gibt es keine freudigen Nachrichten, Fräulein Delius«, erwiderte er dumpf.
»Sie sind ein schrecklicher Pessimist! Ich will Sie bekehren. Denken Sie sich – – – die Ackermann hat alles widerrufen!«
»Was sagen Sie?!« stieß er hervor.
»Die Ackermann hat zugegeben, daß sie damals einen Meineid geschworen hat, um Sie ins Gefängnis zu bringen.«
Markus hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er schwankte wie ein Betrunkener. Mit verlöschender Stimme fragte er:
»Ist das wahr, ist das wirklich wahr?«
Hanni nickte mit glücklichem Gesicht.
»Aber ich habe dieser Person doch nie etwas zuleide getan. Ich kenne sie fast nicht. Was kann sie gegen mich haben?«, fragte er hilflos.
»Das ganze Unheil kommt daher, daß die Ackermann Sie mit Ihrem Bruder Michael verwechselt hat.«
»Was soll das heißen?«, stotterte er. »Woher wissen Sie denn, daß ich einen Bruder habe?«
»Werden Sie gleich erfahren. Nur finde ich, daß hier nicht der rechte Ort für eine so umfangreiche Erklärung ist. Kann man denn diesen Gaul nicht sich selbst überlassen? Das Vieh stört riesig.«
Markus knüpfte statt jeder Antwort den Strang von dem einen Wagscheit, dann folgte er Hanni nach dem nahen Waldrand. Unter den Stämmen lag ein großer Stein, auf dem sie sich niederließen. Hanni schlang die Hände ums Knie und erzählte, was sich seit ihrer Trennung zugetragen hatte. Sie ließ dabei ihre eigene Person und das Anerbieten Mr. Goldwyns im Hintergrund. Scheithauer hörte zu und wagte kaum zu atmen. Er hielt die Augen geschlossen und vernahm die Worte Hannis wie himmlische Musik. Die Viertelstunden verrannen, ohne daß er es merkte …
Als Fräulein Delius zu Ende war, sank sein Kinn auf die Brust. Er war zu erschüttert, um reden zu können. Hundert Gedanken stürmten auf ihn ein. Er versuchte, sich klar zu werden, welche Folgerungen sich aus dem Bericht Hannis ergaben … die Ackermann hatte also gelogen … er war ihr nicht zu nahe getreten … er war unschuldig … er litt nicht an Dämmerzuständen, die ihn seines freien Willens beraubten! Damit entfielen aber auch alle Weiterungen, die er an jenes vermeintliche Verbrechen geknüpft hatte. Seine Furcht vor dem Verrücktwerden war unbegründet. Jene unverständlichen Begebnisse in Florenz, in der römischen Villa, waren plötzlich ihrer Schrecknisse entkleidet. Was er für Triebhandlungen gehalten hatte, waren Regungen, die leicht erklärlichen Haßgefühlen entsprangen. Von der gefürchteten Geistesstörung blieb nur der Name. An allem waren nur die Nerven schuld, nur die Nerven.
Ein ungeheures Glücksgefühl drohte ihm die Brust zu zersprengen. Er warf sich in das feuchte Moos und vergoß hemmungslose Tränen. Als er ruhiger geworden war, stammelte er wie ein Kind mit glänzenden Augen: »Denken Sie nur, Fräulein Hanni, ich bin nicht verrückt! Jetzt glaube ich selber daran.«
Hanni streichelte sein Haar und redete ihm tröstlich zu. Sie malte ihm seine Zukunft aus; sie schilderte ihm die Schritte, die zu seiner Ehrenrettung bereits unternommen seien. Plötzlich ergriff Markus ihre Hand und preßte sein zuckendes Gesicht hinein.
»Sie wissen nicht, was Sie an mir getan haben, Hanni«, sagte er und schmiegte seinen verdurstenden Mund in die weiche Wölbung ihrer Finger. Dann blickte er sie an und flüsterte: »Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch letzthin?«
Sie nickte und sah schamvoll zu Boden.
Er sprang auf, setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Hüfte. Er fühlte in dieser Minute, daß er nie eine andere Frau geliebt hatte als Hanni Delius, die der »Venus von Urbino« so ähnlich sah. Nur war sein Gefühl bisher von Sorgen überwuchert gewesen.
»Ich hab' dir so schrecklich viel zu verdanken, Hannele, daß ich mich fast schämen muß«, sagte er und küßte sie auf den Mund.
Sie hielt still und fühlte alle Seligkeit der Welt durch ihre Adern rinnen.
»Ich bin so froh, daß ich dich bekomme, Hannele«, sagte er nach einer zärtlichen Weile ganz ernsthaft. »Ich bin ein bißchen schwerfällig. Ich hab' zuviel Bauernblut in den Adern. Ich kann eine energische Frau wie dich brauchen.«
»Du bist schon recht, Markus. Bleib nur, wie du bist.«
»Wenn du meinst Hannele – – –? Aber jetzt wollen Wir zum Vater gehen, wenn du nichts dagegen hast.«
Sie erhoben sich und schritten über die Waldwiese nach dem Platz, wo Markus das Pferd sich selbst überlassen hatte. Der Gaul bekam wieder den Strang angelegt. In Hanni brach der Schalk durch: »Hör' mal, Markus, du bist ein ganz unhöflicher Mensch! Mutest du mir wirklich zu, neben diesem Dungwagen herzulaufen und in dieser Situation deiner Familie unter die Augen zu treten?« Drei ernsthafte Falten, um die es verräterisch zuckte, standen auf ihrer Stirn.
»Verzeih, Liebste, daran habe ich gar nicht gedacht«, erwiderte er geknickt. Verlegen spannte er das Pferd aus, ließ das Fuhrwerk stehen und zog den Braunen am Zügel hinter sich her. Die andere Hand wischte er vorsichtig an seiner Hose ab, ehe er sie Hanni um die Hüfte legte. So gingen sie miteinander auf den Hof zu. Unterwegs forschte Hanni:
»Warum hast du eigentlich nie etwas von deinem Bruder verlauten lassen? Und von seiner Ähnlichkeit? Das hätte manches verhütet.«
»Ich habe mich geschämt, Hanni. Der Michael ist nämlich ein wenig aus der Art geschlagen. Vater ist sehr zornig auf ihn, und es darf bei uns nicht von ihm gesprochen werden. Dabei ist der Michael im Grunde genommen kein böser Mensch, nur bodenlos leichtsinnig ist er.«
»Willst du mir jetzt sagen, was du damals in Cuxhaven zu tun hattest?«
»Ich hatte mich hinter dem Rücken der Meinen mit Michael zusammenbestellt, um ihm das Geld für die Überfahrt zu bringen. Es war gut, daß ich selbst hingefahren bin. Michael wollte nämlich partout nicht aus Cuxhaven weg. Ich mußte ihn fast mit Gewalt auf das Schiff bringen. Erst als ich an sein Versprechen appellierte, gehorchte er. Er hatte mir nämlich zugesagt, ein anderer Mensch zu werden und zu arbeiten. Hätte ich doch damals alle Fünfe gerad sein lassen; es wäre mir manches erspart geblieben«, seufzte er.
»Du vergißt, Markus, daß wir dann heute wahrscheinlich nicht nebeneinander hergingen. Denk' an Marion.«
»Du hast recht, Hanni. Frauen wie du haben überhaupt immer recht.«
»Haben wir auch«, neckte sie.
Sie waren inzwischen an das Haus gekommen. Der alte Scheithauer und Marks Schwestern traten verwundert unter die Tür.
»Nanu, wer schneit denn da herein?« lachte Adam Scheithauer dröhnend. »Das ist ja Fräulein Delius! Das lobe ich mir. Sie haben Ihr Wort, wiederzukommen, rasch wahr gemacht.« Er streckte Hanni die Hand hin.
»Vater«, erklärte Markus schüchtern, »ich habe mich vorhin mit Fräulein Delius verlobt.«
Der Alte machte kugelrunde Augen. Dann drückte er Hanni an seine gewaltige Brust und sagte anerkennend: »Guck' einer den Markus an. Soviel Kurasche hätte ich dir gar nicht zugetraut. Das war der beste Gedanke, den du je gehabt hast. Die da ist aus einem andern Holz geschnitzt wie die Hesterbergsche. Mach' sie glücklich, Markus.«
»Noch etwas anderes, Vater«, lächelte der Sohn strahlend. »Die Ackermann hat ihren Meineid eingestanden.«
»Ist das wahr, Bub?« schrie der alte Mann.
»Frag' die Hanni; von der hab' ich's.«
»Was hab' ich immer gesagt, Markus? Der Herrgott macht's schon recht«, sagte der Greis in tiefem Glauben. Ihm schwindelte vor soviel Glück.