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Am nächsten Morgen fand man das zertrümmerte Automobil mit den beiden Toten.
Weil das Flußbett an dieser Stelle nicht sehr tief war, ragten Kühler und eines der Vorderräder aus dem Wasser und gaben so die erste Kunde von dem grausigen Unglücksfall, der die Gemüter einer ganzen Gegend erregte. Der Schmerz auf dem Scheithauer-Hofe war tief und aufrichtig. Am meisten trauerte Markus, und es war ein Glück für ihn, daß er Hanni zur Seite hatte. Die Leiche Marions wurde auf Wunsch der Baronin von Hesterberg nach München überführt, während Adam Scheithauer auf dem stillen Friedhof von Wasserburg seine letzte Ruhe fand. Die Behörden hielten einen Unglücksfall für erwiesen, da die Autopsie von Adam Scheithauer das Platzen einer verkalkten Gehirnarterie ergeben hatte. Man mutmaßte, daß der Sterbende seine Begleiterin bei der Steuerung des Wagens behindert habe.
Tagelang grübelte Hanni darüber nach, was Frau Marion in Altenbuch zu suchen hatte, und wie Marks Vater in ihren Wagen gekommen war. Bis schließlich ein Brief von Justizrat Hultschiner die Lösung brachte. Hanni schauderte bei dem Gedanken, wie nahe sie und ihr Verlobter an einem Abgrund geschritten waren, ohne es zu wissen. Gleichzeitig überfielen sie Zweifel, ob tatsächlich ein Unfall vorliege. War es nicht möglich, daß sich der Vater für den Sohn geopfert hatte, um das Verhängnis von ihm abzuwenden? Aber diese Frage würde wohl nie beantwortet werden. Man mußte sie ganz tief in sich begraben, um die anderen nicht noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Eines Tages bat Markus seine Braut, mit ihm nach München zu fahren. Er müsse die Ackermann besuchen. Ob Hanni ihn nicht begleiten wolle? Diese hatte nichts dagegen. Der Untersuchungsrichter, bei dem sie um die Erlaubnis, Frieda Ackermann im Gefängnis aufsuchen zu dürfen, einkamen, war derselbe, der seiner Zeit die Sache Marks bearbeitet hatte. Er war von vollendeter Liebenswürdigkeit, sprach Markus seinen Glückwunsch aus und bewilligte schließlich eine halbstündige Unterredung ohne Zeugen, nachdem er die Gründe Marks erfahren hatte. Er sagte:
»Wir sind in Ihrer Schuld, Herr Doktor, und darum will ich von meinen sonstigen Gepflogenheiten diesmal abgehen. Ich weiß, daß wir von Ihnen keine Verdunkelung des Tatbestandes zu befürchten haben; darum sei es. Außerdem zeigt die Gefangene so viel werktätige Reue, daß man ihr diesen kurzen Besuch wohl gönnen kann. Sehen wir uns heute noch einmal?«
»Ich glaube nicht, Herr Untersuchungsrichter. Wir haben nämlich noch sehr viel zu besorgen. Wohnungsamt und so weiter.«
»Sie werden sich wieder in München niederlassen?«
Markus bejahte.
»Recht viel Erfolg in der neuen Praxis. Sollten Sie auf dem Wohnungsamt Schwierigkeiten bekommen, so verweisen Sie die Herren nur an mich. So, und hier ist die gewünschte Erlaubniskarte.«
Sie bedankten sich und gingen. Dann fuhren sie nach der Corneliusstraße. Mit leichtem Schauder betrat Scheithauer an der Seite Hannis den ihm wohlbekannten, lieblosen Bau. Ein Beamter führte sie in das Besuchszimmer, das durch eine Schranke in zwei Hälften geschieden war. Nach einigen Minuten erschien die Untersuchungsgefangene. Sie sah gelb und verfallen aus. In ihrem abgemagerten Gesicht glühten gespenstisch groß die dunklen Augen. Sie ging langsam und schleppend auf Markus zu, als mache ihr jeder Schritt unendliche Mühe. Als sie dicht vor der trennenden Schranke stand, senkte sie den Kopf und flüsterte:
»Verzeihen Sie mir … bitte, verzeihen Sie mir …«
Markus erinnerte sich des Leides, das diese Frau über ihn gebracht hatte, und trug eine schroffe Antwort auf den Lippen. Aber er beherrschte sich und sagte ruhig:
»Was geschehen ist, ist geschehen. Lassen wir es gut sein. Ich bin hierher gekommen, um mich eines Auftrages zu entledigen. Mein Bruder Michael hat geschrieben.«
Bei dem Namen des Verhaßten zuckte Frieda Ackermann schmerzlich zusammen und schloß feindselig die Lippen.
Ohne dem Bedeutung beizumessen, fuhr Markus fort: »Michael schreibt aus Neuyork, er habe nach vielerlei Irrfahrten und Enttäuschungen endlich einen festen Posten ergattert und sei darüber sehr glücklich. Nachdem der Brief in der Hauptsache Sie angeht, Fräulein Ackermann, lese ich ihn vielleicht am besten vor. Michael schreibt also:
›Lieber Bruder! Das Leben hier drüben hat mich bös gezaust und durcheinandergeschüttelt, ehe es mir gelang. Grund unter den Füßen zu bekommen. Arbeiten oder untergehen, heißt es in diesem Lande, das so ganz anders ist, als man es sich bei uns in der Heimat vorstellt. Für Tagediebe und Luftikusse ist hier kein Platz. Seit drei Monaten bin ich bei Overland-Brothers, einer großen Textilwarenfabrik, als Maschinist und verdiene wöchentlich sechzig Dollars. Das ist viel für ein Greenhorn, wie sie hier sagen, und ich bin stolz darauf. Meine Freude hierüber wird allerdings durch zwei Erwägungen getrübt. Einmal dadurch, daß ich von unserm guten, alten Vater im Unfrieden geschieden bin, und zum Zweiten dadurch, daß ich unschön an einem vertrauensseligen Mädel gehandelt habe. Ich hoffe, daß der Vater mir verzeiht, wenn du ihm diesen Brief vorliest. Den anderen Punkt habe ich dir gebeichtet, damit du mir hilfst, ein Unrecht gutzumachen. Ich habe damals in Cuxhaven, kurz vor der Abreise, ein Mädchen, namens Frieda Ackermann kennengelernt, die Verkäuferin in einem großen Münchener Warenhaus war und bei Verwandten zu Besuch weilte. Weil du mich damals mit Gewalt zur Abreise drängtest, bin ich ohne Gruß und Abschied auf das Schiff, und die Kleine wird nun denken, ich sei ein treuloser Lump. Der Gedanke hat mir manche Stunde verbittert. Denn ich habe erst hier einsehen gelernt, wieviel eine brave, deutsche Frau wert ist. Lieber Markus, habe die Güte und forsche nach Frieda Ackermann. Einen Abzug ihrer Photographie füge ich bei. Ebenso mein erstes erspartes Geld, zweihundert Dollars, die ich Frieda zu übergeben bitte, damit sie sieht, daß es mir ernst ist. Vielleicht vergibt sie mir und kann sich entschließen, später meine Frau zu werden. Das Geld für die Überfahrt würde ich nach und nach schicken. Zum Schluß noch ein Geständnis. Ich habe mich damals in Cuxhaven Frieda gegenüber mit fremden Federn geschmückt und mir leichtfertig deinen Namen und Titel beigelegt, um die Kleine in Sicherheit zu wiegen. Dieser kindische Streich tut mir heute so leid wie alles andere. Du siehst, ich war ein großer Taugenichts vor dem Herrn, aber das Leben hat mich in seine unerbittliche Schule genommen und von Grund aus umgekrempelt‹ – – –«.
Markus schwieg und faltete bedächtig den Briefbogen zusammen. Dann sah er das Mädchen erwartungsvoll an.
Frieda hatte wortlos und mit gesenkten Lidern zugehört. Sie kämpfte mit sich. Dann siegte der gute Engel in ihr. Sie fragte schüchtern:
»Würden Sie mir diesen Brief überlassen, Herr Doktor? Es ist sehr einsam im Gefängnis.«
Scheithauer nickte freundlich. Er hatte verstanden.
Hanni ergriff bewegt Friedas Hand und sagte:
»Kopf hoch, Fräulein Ackermann! Alles nimmt ein Ende. Ein Leid, an dem zwei tragen, ist nur halb so schwer. Wir werden Michael schreiben, wie alles gekommen ist. Und Markus wird die Richter um Milde für Sie bitten. Es sind genug Tränen geflossen um diese unselige Verwechslung.«
»Ich danke Ihnen«, flüsterte Frieda, und große Tropfen rollten über ihre Wangen. Sie verbarg den Brief von Michael unter ihrem Kleide.
Der diensttuende Gefängnisbeamte erschien, räusperte sich und warf einen bedeutsamen Blick auf die Uhr. Mit einem Händedruck schieden die Drei voneinander.
Markus und Hanni verließen nachdenklich das freudlose, vergitterte Haus. Draußen auf der Straße schlug ihnen Frühlingsluft entgegen. Sie wanderten langsam die Isar entlang. In den kahlen Kronen der Anlagenbäume hatten es Spatzen und Stare wichtig. Aus den Seitenstraßen floß die Melodie der großen Stadt. Plötzlich begann Markus:
»Nun geht also das neue Leben an, Hanni. Eigentlich habe ich ein wenig Angst davor. Und du?«
»Oh, ich habe Mut. Mut für zwei«, lächelte sie zuversichtlich.
Da preßte er dankbar ihren Arm.
»Was finge ich ohne dich an, du mein liebes, tapferes Hannele?«
Ende