Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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I.

»Valär, da ist etwas für Sie«, sagte der Rechtsanwalt Heß, »zweite Seite, ungefähr Mitte. Ich mache einen roten Balken daran.« – Seine leise Stimme war noch leiser als sonst. Er schob das Zeitungsblatt, auf das sich seine Bemerkung bezogen hatte, geräuschlos in die Mitte des Tisches, an dem sie beisammen saßen, wartete aber eine Antwort nicht ab, sondern stand auf, zog die Weste herunter und ging weg, um im Hintergrund des Lokals jemand zu begrüßen.

Valär, der soeben gekommen war, ließ sich im Studium der Speisekarte nicht stören. Ohne aufzublicken, schob er die linke Hand suchend über den Tisch, und erst als in der Umgebung helles Frauenlachen erklang, hob er den Kopf und starrte eine Sekunde lang wie geblendet ins Leere. Dann zog er die dargebotene Zeitung zu sich heran und beförderte sie unter den Tisch. Dort klemmte er sie zwischen die Schenkel.

Valär war der einzige Uniformierte in diesem berühmten Wein- und Speiselokal einer Deutschschweizer Stadt, das von dem Tessiner Simondo bewirtschaftet wurde. Am Kragen seines Rockes waren die Rangabzeichen eines Oberstleutnants zu sehen, und an den Hosen liefen die schwarzen Generalstabsstreifen hinab. Hohe Reiterstiefel nahmen sie auf. Vor knapp zwei Stunden war er aus den Herbstmanövern zurückgekehrt, die er als stellvertretender Kommandant eines Infanterieregiments mitgemacht hatte, und nun saß er hier, ein schmaler, abgehärteter, hungriger und von den Manöverstrapazen ein wenig ermüdeter Mann, um nach einem unruhevollen Entlassungstag endlich etwas Rechtes zu essen und auf einen freundlichen Uebergang in das kommende Leben bedacht zu sein. Morgen würde er wieder sein Zivilgewand tragen und der Architekt Andrea Valär sein. 6

»Ich weiß, was Sie nehmen werden«, sagte die Kellnerin Betsy, ein sehr gepflegtes, großes, schwarzhaariges Mädchen, das inzwischen wieder an seinem Tische erschienen war. Sie hatte während der Wartezeit ihr Notengeld nachgezählt und war gleichzeitig dem über die Speisekarte hin- und hergleitenden Blick Valärs mit den Augen gefolgt. »Bestimmt weiß ich es«, versicherte sie kurz danach noch einmal, zog den Bestellblock unter dem weißen Feigenblattschürzchen hervor und machte sich zur Entgegennahme des Auftrags bereit.

»Ich weiß es auch«, sagte Valär.

»Auch ein schöner Hasenrücken kann den Kenner hoch entzücken«, gab sie leise und beinahe singend zurück, wobei ihre dunkle melodische Stimme sich zärtlich in das Wort Rücken vergrub.

Draußen, auf dem Weg durch den klatschenden Regen der stürmischen kalten Oktobernacht und aus lauter Bedürfnis nach Wärme, hatte er an einen Lonaz gedacht, ein saftiges Eintopfgericht aus den Balkanländern, das es nur in diesem Restaurant gab: unten war Hammelfleisch, gewürzt mit Thymian und übergossen mit Bier, und darüber folgten in Schichten Kohl, Karotten, Kartoffeln, Lauch, Bohnenkerne, Sellerie, Zwiebeln und Paprikaschoten, das Gemüse immer wieder unterbrochen von einer Lage Fleisch: – Hammelfleisch, Hühnerfleisch, geräuchertem Speck, Leber und kleinen Würstchen. Jetzt, in dem behaglich geheizten Raum, lockte ihn das nicht mehr. Außerdem hatte er während der Manövertage so oft den obligaten Spatz aus der Feldküche gegessen, daß er sich bereits für den Hasenbraten entschieden hatte, bevor Betsy mit ihrem Spruch herausgerückt war.

»Getroffen, Betsy«, sagte er und blickte sie an. »Dazu gebackene Spätzli und Preißelbeeren.«

Sie schrieb es auf.

»Wie wäre es außerdem mit ein paar Gabeln voll Peperonisalat, Herr Valär? Es sind bald die letzten, und bis zum nächsten Sommer ist's lang.«

»Eine Idee! Aber die Peperoni als zweiten Gang und dazu eine einzige Bertillonschnitte.« 7

Betsy schnalzte.

»Und was darf ich zu trinken geben?«

»Einen Dreier Malanser Sauser.«

»Süßdruck?«

»Wenn's hat.«

»Es hat!«

»Um so besser.«

»Und mir machen Sie nachher die Rechnung zuweg«, sagte der Rechtsanwalt, sich wieder am Tisch niederlassend. Er war ein umfangreicher, an Wohlleben gewöhnter Junggeselle mit schweren verträumten Augen, vielbeschäftigt und als Gast sehr beliebt, weil er immer große Rechnungen hatte und reichliche Bedienungsgelder in den Taschen der Mädchen verschwinden ließ.

Auch jetzt bekam er seine Beliebtheit wieder zu spüren. Denn kaum hatte sich Betsy mit ihrer Bestellung davongemacht, als die Kellnerin vom Nebenservice wortlos an seine Seite trat und ihm mit fraulicher Aufmerksamkeit das zweite Täßchen seines Schwarzen einschenkte. Auch zwei Stück Zucker gab sie hinzu, und den Zucker verrührte sie. Da das Kännchen nun leer war, löschte sie die Spiritusflamme des Speisewärmers, auf dem es gestanden hatte, und da der Wärmer jetzt nur noch unnötig Platz versperrt hätte, trug sie ihn weg, um ihn an dem ihm zugewiesenen Ort zu versorgen. Sie war überzeugt, wieder einmal ein nettes Mädchen gewesen zu sein, und in diesem Bewußtsein segelte sie davon, noch ein wenig stärker schaukelnd als üblich.

Der Rechtsanwalt blickte ihr nach und holte plötzlich tief Atem, weil er das Schnaufen einen Moment lang völlig vergessen hatte. Dann trank er den heißen und starken, süßen Kaffee in einem Zug aus, den Rest des Zuckersatzes genießerisch im Munde zerdrückend und noch lang in die leere Tasse starrend, als sähe er dort ein traumhaftes Bild.

Valär hatte inzwischen die Zeitung entfaltet, und sein Tischgenosse begann ihn gespannt zu betrachten.

Die angestrichene Stelle war eine Lokalnotiz. Sie besagte, daß das seit drei Wochen tagende Preisgericht seine Entscheidung in dem großen städtischen Bauwettbewerb für ein neues 8 Ball-, Konzert- und Ausstellungshaus im Laufe des nächsten Tages fällen werde.

Valär las die Notiz noch ein zweites Mal. Dann sagte er:

»Na, zu früh ist's ja wahrlich nicht, wenn sie die arbeitslosen armen Teufel endlich wieder ins Brot bringen wollen. Man hätte ja beinahe glauben können, die vielen Millionen reuten sie wieder, und das ganze Projekt würde überhaupt nicht mehr wahr.«

Der Rechtsanwalt beugte sich über den Tisch.

»Valär, ich hoffe, daß Sie der Sieger sein werden«, flüsterte er. »Ich wünsche es Ihnen und mir und allen, die nach uns kommen werden. Wären Sie unser Stadtbaumeister, so hätten manche Straßen und Plätze ein anderes Gesicht.«

»Sehr gütig von Ihnen«, versetzte Valär, die Zeitung beiseiteschiebend. »Auch mich würde es natürlich freuen, wenn mein Projekt sich durchsetzen könnte. Aber den Stadtbaumeister, lieber Doktor, den schlagen Sie sich, bitte, aus dem Kopf. Das kommt gar nicht in Betracht.

»Oh!«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Auch bei mir hat so ein Partei-Leithirsch angefragt, ein dicker prächtiger Sechzehnender. Aber ich gebe meine Unabhängigkeit auf keinen Fall preis . . . Immerhin: die Nachricht da war mir interessant. Im Dienst rückt das alles ja so weit in die Ferne. Zeitungen sieht man tagelang nicht. Sie werden auch gar nicht vermißt.«

»Dann sehen Sie sich nur auch die Kopfseite an! Auf der Kopfseite hat's ebenfalls Neuigkeiten.«

Valär hatte schon von der Schlagzeile genug. In dicken Buchstaben verkündete sie den Ausbruch des italienisch-abessinischen Krieges.

»Lieblich – nicht?« schnaufte Heß und schüttelte seine Armbanduhr, weil er soeben festgestellt hatte, daß sie schon wieder nicht ging.

Zuerst dachte Valär bei dieser Nachricht daran, daß er in diesem Fall seinen alten Freund Abgottspon wohl nicht mehr zu sehen bekäme. Der liebe alte Zinnsoldat, der den Schlachten nach um den Erdball reiste, weil dort der Tod einen purpurnen Mantel trug und das Leben ganz heiß verschlungen wurde! . . Zuletzt war er 9 für ein amerikanisches Syndikat als Kriegskorrespondent in China gewesen. Im Vorgefühl der Ereignisse, die kommen und die Ränder Europas in Blut tauchen würden, war er vor einigen Wochen in die Heimat zurückgekehrt. Inzwischen hatte er mit dem amerikanischen Zeitungskonzern vermutlich einen neuen Abschluß gemacht und flog bereits, Richtung Afrika, durch die Nacht, um so schnell wie möglich an Ort und Stelle zu sein und ja nichts zu versäumen. Aber das mit dem purpurnen Mantel war wirklich sein Glaube.

Dann fiel Valär ein, was sein Tischgenosse soeben geäußert hatte.

»Was sein muß, muß sein«, erwiderte er in seiner festen ruhigen Art. »Man hat diese Auseinandersetzung ja kommen sehen.«

»Hat sie kommen sehen und hat nichts dagegen getan . . . Niemand, der berufen gewesen wäre dazu, vor Gott und der Welt, hat sich dazwischengeworfen. Ein Blutbad muß sein!«

Valär nickte zerstreut. »Muß sein!« sagte er. »Es ist die einzige Lösung.«

Fast erschrocken starrte Heß auf sein Gegenüber. Dann sagte er leise:

»Krieg ist nie eine Lösung. Schießen macht nie etwas besser. So gut wie ich wissen Sie das, lieber Valär. Krieg ist Bankerott. Nur der Tod triumphiert und reibt sich die Hände.«

Valär streckte die Beine. Man hörte Sporengeklirr.

»Sie rechnen, Doktor. Sie machen sich's leicht. Sie dürfen aber nicht rechnen. Eine Sache ist nicht darum schon schlecht, weil sie ein Verlustgeschäft ist.«

»Ich sage, wie mir zu Mut ist. Und mir ist übel.«

»Wem wäre wohl! Niemand ist es wohl, der gezwungen ist, täglich auch an andere zu denken. Mir ist auch nicht wohl, so wenig, wie mir wohl wäre im Schneesturm an einer Kletterwand in den Wetterhörnern. Deswegen ist ein Schneesturm aber doch eine sehr achtunggebietende, große und saubere Sache.« – Valär schob die Vase mit den Astern zur Seite. »Genau so ist's mit dem Krieg.«

Wie kühl und illusionslos das klang! Und zugleich wie geheimnisvoll! Es klang wie verstimmte Bewunderung. Oder steckte noch 10 mehr dahinter? Heß musterte ihn. Aber Valärs Gesicht war verschlossen, und eine starke senkrechte Furche schnitt den Raum zwischen den Augen entzwei. Das beunruhigte den Rechtsanwalt, und fast bestürzt fragte er:

»Großer Gott, ja billigen Sie denn, was da unten geschieht?«

»Ich billige nicht und verwerfe nicht. Ich sehe nur, daß zwei sich gegen einander erheben, gereizt bis aufs Blut, und keinen Ausweg mehr finden. Da fallen sie übereinander her, um festzustellen, wer von ihnen der Stärkere ist und über den andern Recht haben soll: Recht auf Grund seiner Kraft. So etwas hat Größe . . . Man trägt seinen Kampf auch nicht im Halbdunkel diplomatischer Spielhöllen aus, wo Nationen und Völker, zwischen Empfängen und Dinners, mit Nennwerten eingesetzt werden, die sie vielleicht schon längst vor Gott und der Welt nicht mehr verdienen, sondern man trägt ihn aus im vollen Licht der Oeffentlichkeit und der Geschichte. Wie viele saftige Selbsttäuschungen und fette Propagandalügen gehen plötzlich entzwei! Dafür wissen die Völker endlich wieder über sich selber Bescheid. Das nenne ich sauber.«

»Perspektive des Feldherrnhügels!« verwahrte sich Heß. »Ich bin leidenschaftlicher Nichtheld, wie Sie ja wissen. Und ich bin entsetzt. Gute Sitte, Vernunft, Duldsamkeit, gegenseitige Achtung und Zartgefühl sollen wieder einmal gar nichts mehr gelten dürfen. Sie werden verhöhnt. Das macht mich traurig. In einer derartig verwilderten Welt fühle ich mich heimatlos und entehrt.«

»Sollte man daraus nicht eher schließen, daß man Vernunft, gute Sitte und so weiter fortwährend arg überschätzt? Daß die Fluten jederzeit stärker als die Dämme sein werden?« – Er blinzelte ins Lokal. Ah, dort ging ja Alma Studer mit ihrem dritten Mann! . . . Wie gut, daß man ihn nicht gesehen hatte! Wer würde ihr vierter Mann werden? Noch jedesmal, wenn er ihr ein Haus gebaut hatte, war kurz danach die Scheidung erfolgt. Das Haus war die Abfindung. Und gerade jetzt entwarf er ihr drittes . . .

Valär strich sich über die Nase und lachte kurz auf. Er wußte im selben Augenblick auch, daß er sich seinem Tischgenossen gegenüber ein wenig zu stark ausgedrückt hatte. Kreuzunglücklich blickte dieser zu ihm herüber. Er sagte daher: 11

»Wir wollen nicht so weiterfahren. Ich will Ihnen lieber sagen, daß ich Sie verstehe. Sie sind ein weichmütiger Mensch und werden es Ihr Leben lang bleiben. Aber, bester Doktor, sagen Sie mal: wer hätte denn dreinfahren sollen?«

»Alle, die den Weltkrieg miterlebt haben! Alle, die nicht vergessen haben, daß er nichts hinterlassen hat als verwüstete Länder und Völker, die verarmt, verroht und betrogen waren. Alle, die wollen, daß Aehnliches, zur Schmach und Schande des Menschengeschlechts, sich nicht wiederholt.«

»Oh«, unterbrach ihn Valär, »es hat auch Weltkriegsverdiener gegeben, recht unverschämte sogar! Weshalb stehen denn, rings da um uns herum, die Verarmten und Betrogenen auf?«

»Zugegeben!« meinte der Rechtsanwalt. »Irgend etwas stimmt nicht in der Welt, die man damals geschaffen hat. Sie ist krank, das ist klar. Sie ist krank, weil die denkbar größte Macht in die Hände denkbar kleinster Leute geriet – in die Hände unfähiger, boshafter, rachedurstiger, kleinlicher Geister, die die Gelegenheit, etwas wirklich Gutes zu schaffen, in geradezu strafbarer Weise versäumten. Es gab Wortbruch und Ueberheblichkeit, Ränke, Verrat und wie Sie es nennen wollen – ich bin darin ganz einig mit Ihnen. Aber wenn daraus Mißhelligkeiten und ernsthafte Schäden entstanden sind, so braucht man doch nicht sofort mit dem Schwert dreinzufahren. Man kann doch auch guten Willens sein und kann verhandeln.«

»Man hat's ja versucht. Aber die Waffen des Geistes sind stumpf geworden dabei. Zuletzt sind sie überhaupt ausgegangen. Was bleibt da noch als die Faust?«

»Sie irren, Valär. Es gibt auch Waffen des Herzens. Man kann vergeben. Man kann vergessen.«

Valär schüttelte den Kopf.

»Man soll nicht vergeben! Man soll nicht vergessen, wenn es nicht um Frauen und Kinder geht! Man soll hingehen und soll heimbezahlen. Eine große Wohltat bezahlt man mit einer noch größeren heim. Wo aber Treulosigkeit, Betrug, gewollte Grausamkeit und Verrat im Spiele sind, da greift man zum erstbesten Knüppel, den man erwischen kann, und haut damit drein, daß die 12 Fetzen fliegen. Nur das reinigt die Luft, wenigstens für eine Weile.«

»Damit widerlegen Sie nicht, daß der Weg des guten Willens und der Versöhnlichkeit mehr Beherztheit erfordert als der Weg der Gewalt«, entgegnete Heß.

Valär mußte lächeln. Er trank einen Schluck von dem trübroten schaumigen Wein, den Betsy vor ihn hingestellt hatte, und erwiderte angeregt:

»Lieber Doktor, die Weltgeschichte kann mit gutem Willen, Versöhnlichkeit und so weiter gar nichts anfangen, wenn sie am Gang ihrer Uhr etwas ändern will. Sie braucht Umsturz, Aufruhr, Donnergetöse, Not, Elend, Verzweiflung und Schicksalsschläge zu ihrem Werk. Sie braucht Blutergüsse und Wehegeschrei, genau wie ein Weib, das gebiert. Selbst zu einer Fehlgeburt braucht sie das noch . . . Außerdem scheinen Sie mir zu vergessen, daß Verhandlungen nur dort möglich sind, wo zwischen den Partnern Vertrauen besteht. Was aber, wenn das Vertrauen zwischen den Völkern gebrochen ist? Bitte, was dann?«

»Dann muß das Vertrauen wiederhergestellt werden. Man bekennt seine Schuld und zahlt Buße. Dann spricht man weiter.«

»Mit solchen Methoden mag einer beim Bezirksgericht sein Glück machen können«, gab Valär spöttisch zurück, »– und beim Obergericht und beim Bundesgericht, wo alles hübsch nach Paragraphen geht und Reue die Tugend ist, die man am meisten belohnt. Aber für den, der in den weiten Jagdgründen des Lebens den Frieden für seine Seele sucht: in diesen wilden, unermeßlichen, pfadlosen Räumen, und dort eines Morgens erwacht, mit einer fremden Hand an der Gurgel – für den zählt alles das nicht. Er kann nur sagen: Hände weg, oder 's gibt Knochensplitter!«

»Sie vergessen, Valär, daß es auch Sterne gibt, die uns verpflichten, zu ihnen emporzublicken! Auch über Ihren wilden Jagdgründen strahlen sie noch und funkeln ihre ewigen Wahrheiten zu uns herunter.«

»Gewiß gibt es sie. Und wir freuen uns, daß sie uns leuchten . . . Wenn aber die zwei, die jetzt miteinander im Kriege sind, sich entschlossen haben, keine Sternenpredigt mehr anzuhören, sondern in die Wüste zu gehen und ihren Konflikt mit Gewaltmitteln 13 auszutragen, so hat ihnen niemand dreinzureden, nicht der Völkerbund und nicht Sie und nicht ich oder ein anderer politischer Uhrenmacher, der einen Sack voll guter Ratschläge hat, aber keinen Beweis dafür beibringen kann, daß seine Ratschläge außerhalb unserer eigenen kleinen Welt etwas taugen. Oder glauben Sie, mit uns prachtvollen Hirtenknaben sei so viel los, daß wir das Recht hätten, uns überall dreinzumischen, ohne dazu gebeten zu sein?«

Der Rechtsanwalt seufzte:

»Dann wird es eben kommen, wie es im Weltkrieg war. Da unten geht ein Feuerchen an, und eines Tages steht die ganze Erde in Brand.«

»Ja, dachten Sie, daß es bei dem . . . Feuerchen bliebe?« – Valär schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. »Es wird nicht bei dem Feuerchen bleiben! Was jetzt geschieht, da unten in Afrika, das ist nur das schwächliche Wetterleuchten vor einem ganz großen Weltenbrand. Das ganze menschliche Dasein wird wieder in Frage stehen – nicht bloß die Formen, in der wir es leben.«

»Scheußlich, Valär!« murmelte Heß und blickte mit tiefunglücklicher Miene über den Tisch. »Dann wird man wieder täglich lesen müssen von blutigen Siegen und blutigen Niederlagen und wird denken müssen an die Hunderttausende von Kriegermüttern und Kriegerfrauen und Kriegerkindern, die bei jedem Sieg hoffen, nun werde bald Friede sein und des Blutvergießens ein Ende. Aber der Friede kommt nicht, und die Männer und Söhne kehren nicht wieder.«

»Begreiflich, daß Sie das sagen. Für alle diese Frauen und Kinder und für Sie und für mich und für hunderttausend andere, die in gesicherten Verhältnissen sind, wäre es angenehmer, in ruhiger Arbeit dahinzuleben, ohne Aussicht auf Leid, und sooft uns der Hunger plagt, es nicht schlechter zu haben als jetzt, in dieser Stunde. Weil man das alles und noch einiges mehr nur im Frieden ungestört haben kann, sind wir für den Frieden. Außerdem sind wir dafür, weil uns seit den Tagen Napoleons kein anderes Volk mehr gezwungen hat, unsere Friedfertigkeit so weit zu treiben, daß sie zur Schmach für uns geworden wäre. An diesem Heldentum der Entsagung ist sicher nicht wenig. Aber«, fuhr Valär mit 14 erhobener Stimme fort, »wenn ich von mir und von meinem Privatglück weg auf die andern blicke; wenn ich an die ungezählten Männer und Frauen denke, die in allen Ländern Europas arbeitslos und zukunftslos auf der Straße liegen; wenn ich bedenke, daß auch wir in der Schweiz nicht imstande sind, mit all unserer Demokratie und Schwärmerei für die Menschenrechte das nationale Arbeitsvolumen unter die Eidgenossen so zu verteilen, daß jeder davon ein Stück bekommt, nämlich so viel, als er im Minimum braucht, um die Seinen und sich damit durchzubringen – und solche Männer sind in diesen Tagen zu Dutzenden bei mir unter den Waffen gestanden, tief beschämt ob ihrer gemeinen Not –: wenn ich das alles zusammenhalte, so fühle ich unsere ganze Gesellschaftsordnung und mich und Sie und alle Friedenstrompeten tief ins Unrecht versetzt! Denken Sie nicht, daß ich prahle. Revolutionen und Kriege sind niemals des Menschen Freunde. Aber der Zustand von heute ist gleichfalls ein Fluch. Sie dürfen es mir deswegen auch nicht verargen, wenn ich sehr viel Verständnis habe für alle, die bereit sind, einen hohen und sogar sehr hohen Preis für die Herrichtung einer anders beschaffenen Zukunft zu zahlen.«

»Anders – ja! . . . Wird sie aber auch besser sein?«

»Die sie herbeiführen wollen, glauben daran. Das allein ist entscheidend.«

Heß seufzte tief. Nicht einmal seine Havanna schmeckte ihm mehr. Er hatte sie in den Aschenbecher gestoßen und dort langsam zerstampft.

»Wenn um der Ideale willen nur nicht immer müßte gewürgt und getötet werden!« entgegnete er.

»Sollte man nicht besser umgekehrt sagen, daß es zum Würgen und Töten und zum Einsatz seines Lebens im Kampf keinen edleren Vorwand gebe als das Ideal?«

Und wieder klirrten die Sporen.

»Dann billigen Sie also doch, was geschieht«, sagte Heß niedergeschlagen.

»Ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, daß davon nicht die Rede sein kann. Denn ich bin nicht die Weltgeschichte. Ich bin auch 15 nicht der liebe Gott, der über das Weltgeschehen zu richten hat. Ich sehe der Welt nur kühl ins Gesicht und versuche mit ihr auf meine Weise fertig zu werden. Dazu gehört allerdings auch, daß ich es ablehnen muß, mich auf die Seite jener zu stellen, die auch jetzt wieder sagen, für Neues sei auf Erden kein Platz, nur weil das Alte für sie so bequem ist.«

Die Kellnerin brachte das Essen. Valär begann dreinzuhauen. Der Rechtsanwalt zahlte. Sie schwiegen. Dann stand der Rechtsanwalt auf, um sich mit Hilfe Betsys zum Weggehen fertigzumachen.

Er hatte die ganze Zeit nachgedacht, und nun sagte er:

»Valär, ich bewundere Sie! Wo nehmen Sie nur Ihre Gelassenheit her? Darf man das wissen?«

Die Frage mißfiel Valär. Er wußte gut, daß er nicht gelassen war, und es lag ihm auch gar nicht daran, es zu scheinen. Besonders heute war er es nicht. Denn die Erfahrungen der Manövertage hatten ihn aufs tiefste erschreckt. Sie hatten in ihm das Gefühl hinterlassen, daß man auch im eigenen Lande schweren Zeiten entgegenging, weil der alte soldatische Geist in gefährlicher Weise geschwächt worden war durch den von politischer Seite verbreiteten, aber in nichts begründeten Glauben, daß die Schweiz allein in ihrer idealen Verbundenheit mit möglichst vielen andern Nationen jene Form von Sicherheit finden könne, die eine starke Armee als Werkzeug der Selbstbehauptung entbehrlich macht. Seit Generationen weder bedroht, noch vor einer Bedrohung in Furcht, hatte man sich so sehr in Illusionen vergraben, daß das Soldatsein für viele nur noch etwas Symbolisches war, etwas Dekoratives und im Grund Ueberlebtes.

Das war zu ertragen gewesen und hatte sich kaum als Schwäche bemerkbar gemacht, solange man hatte glauben können, daß der herrschende Zustand niemals werde ein Ende nehmen. Seit aber an den nördlichen und südlichen Grenzen des Landes mächtige Diktaturstaaten entstanden waren, von denen rücksichtslos an den Grundfesten der alten Welt- und Gesellschaftsordnung gerüttelt wurde, war dieser Geist der Lässigkeit nicht mehr zu ertragen. 16

Nicht als ob es den Männern, mit denen Valär im Felde gestanden war, an gutem Willen gemangelt hätte. Aber es fehlte ihnen die Unerbittlichkeit und Härte gegen sich selbst. Anstatt sich in jeder Lage zu fühlen als der unbekannte Soldat, der aus dem eisernen Willen zur Pflichterfüllung heraus das tut, was von der Führung befohlen wird, und wenn es das Schwerste war, begann dieser und jener plötzlich darüber nachzugrübeln, ob er zu dem Auftrag auch Ja sagen könne, und wenn er meinte, er könne es nicht, weil er das, was von ihm gefordert wurde, nicht als »menschenwürdig« oder als »vernünftig« empfand, so tat er das Befohlene nicht, sondern tat etwas anderes oder tat gar nichts. Mancher meinte wohl auch, daß er in seinem Zivilberuf bereits zu erfolgreich gewesen sei, als daß man von ihm bedingungslose Unterordnung unter den Anspruch des Dienstes erwarten dürfe. Damit aber waren der Soldat, die Kompanie, das Bataillon, das Regiment und die Armee aus den Fugen.

Das alles zitterte jetzt noch in Valär nach und machte ihm die Frage des Rechtsanwalts zuwider. Aber es wäre sinnlos gewesen, den gutmütigen Menschen deswegen anzufahren. Er hob daher den Kopf und sagte mit wohlwollendem Blinzeln:

»Abhärtung, Doktor! . . . Um fünf Uhr früh Wecken und ein kaltes Bad, um die Mittagszeit sich von ein paar krummen Hunden anbellen lassen und nach einem reichlichen Tagewerk ohne Weiberbeine ins Bett, mit dem Bewußtsein, daß die Zeit, in der man lebt, von allen Zeiten zuletzt doch die schönste und beste ist, weil sie die einzige ist, die von mir und dir etwas verlangt. – Sind Sie jetzt im Bild?«

»Ein großartiger Tip!« meinte Heß mit verträumtem Blick und streckte Valär die Hand zum Abschied entgegen. »Hoffentlich haben wir bald Gelegenheit, unser heutiges Garn noch ein wenig weiterzuspinnen. Aber für Ihren Tip will ich Ihnen jetzt auch einen geben.« – Er beugte sich nieder an Valärs Ohr und sagte im Flüsterton: »Wenn Sie Ihren Hasenrücken hinter sich haben, empfehle ich Ihnen einen Zabaione zu nehmen. Der Chef hat heute eine extragute Flasche erwischt.«

Zunächst nur von Betsy, dann von zwei und schließlich von 17 drei der Kellnerinnen begleitet und nach allen Seiten hin grüßend, ging der Rechtsanwalt nach dieser Eröffnung von dannen. Sein Entsetzen über das Kriegsgeschehen schien verflogen zu sein.

 


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