Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXIV.

Aber noch von anderem wurde Valär unmittelbar nach seiner Rückkehr stark in Anspruch genommen. Die Folge war, daß das, was die Begegnung mit Nele in ihm aufgerührt hatte, allmählich wieder zur Ruhe kam.

Schon am zweiten Tag besuchte ihn Rosa und überraschte ihn mit der Nachricht, daß ihr Vater sein Augenlicht inzwischen vollständig verloren habe und mit seiner Frau und seinem ganzen Gefolge abgereist sei. Der Zusammenbruch sei ganz plötzlich innerhalb weniger Tage erfolgt. Sie stieß seltsam wimmernde Töne aus, als sie das sagte, Töne, die Valär nicht zu dem roten Haar und den grünen Augen zu passen schienen, in welchen sie vor ihm stand, und fügte hinzu, nun lebe der Arme in völliger Nacht. Niemand könne mehr helfen.

Rosas Gefühle interessierten ihn wenig. An den wimmernden Lauten schien ihm ebensowenig alles echt zu sein wie an ihrem Haar. Aber auf die Kunde, die sie ihm brachte, war Valär nicht vorbereitet gewesen. Und obgleich er Rosa nur zwei Minuten Besuchszeit eingeräumt hatte, weil er dringend beschäftigt war, sagte er jetzt: »Setz dich. Erzähle!«

Sie schenkte sich nichts, und Valär begriff schnell, daß Saxer und die, die in jenen Tagen um ihn gewesen waren, Furchtbares hatten durchmachen müssen von dem Augenblick an, in dem er das Unheil unabwendbar über sich hereinbrechen fühlte. Zuerst habe man, sagte Rosa, nur ein wildes tierisches Stöhnen gehört, einen langgezogenen dumpfen Schmerzenslaut, als würden ihm bei lebendigem Leib alle Eingeweide aus dem Körper gezogen und auf eine glühende Spule gerollt. In Strömen sei der Schweiß an ihm heruntergelaufen, und Blut sei von seinen Knöcheln getropft, so habe er sie an allen möglichen festen Gegenständen zerschlagen, während er fluchte und tobte. Kurz danach sei er 239 eingeschlafen, einfach dort, wo er saß, in seinem Stuhl, und die Schwester habe bezweifelt, ob er noch einmal aufwachen werde. Aber nach einigen Stunden sei er wieder zu sich gekommen, und kurz danach habe er herrisch nach Essen verlangt. Mit großem Appetit habe er eine Mahlzeit von drei Gängen verzehrt, was er sonst niemals tat, und dazu eine Flasche Champagner getrunken. Mit Lily zusammen sei sie bei ihm gesessen und habe ihr beim Füttern geholfen. Er habe das Essen gelobt und desgleichen den Wein. Nachdem er mit Essen fertig war, habe er sie alle hinausgeworfen und nach Brüngger, seinem alten Schreiber, verlangt, wahrscheinlich der einzigen Vertrauensperson seines Lebens. Mit diesem habe er sich eingeschlossen in seinem Arbeitsraum.

Und nun habe er diesem hinter verschlossenen Türen diktiert, in Pausen, nüchtern, sachlich und tatsachenfest, als gälte es einen Geschäftsbericht abzufassen, wie die Welt, die er noch um sich hatte, sich für ihn zu verändern begann: in dem Maß, wie sein Auge sich schloß. Fast volle fünf Tage seien die beiden so zusammengesessen, in einem Fauteuil ihr Vater, im andern der Schreiber. Manchmal hätten sie ins Nebenzimmer Essen bestellt. Manchmal hätten sie ein paar Stunden geschlafen. Dann habe ihr Vater weiterdiktiert. Inzwischen war jedermann der Zutritt verwehrt.

Am fünften Tag, als es für immer Nacht um ihn geworden war, habe ihr Vater alle zu sich gerufen: sie, seine Frau, Dr. Streiff, Kälbermatten. Sie hätten sich im Vorzimmer versammeln müssen, und erst, nachdem alle zugegen waren, sei ihnen die Türe zum gemeinsamen Eintritt geöffnet worden. Er sei in seinem Stuhl gesessen, an seinem üblichen Platz, so, wie es früher war, wenn er eine Geschäftssitzung präsidierte. Niemand habe er einzeln begrüßt, niemand einen Platz angeboten. Sie waren für ihn nur eine Herde.

Und nun habe der Schreiber das von ihrem Vater diktierte Protokoll der letzten Tage verlesen müssen: erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag und so weiter. Sogar die Stunden und Minuten der Diktataufnahme waren vermerkt und wurden mitgeteilt.

So seien sie über zweieinhalb Stunden dagestanden, in seinem Zimmer, Nachtgestalten für ihn, eins mit den Schatten, in denen 240 die Welt für ihn versunken war, und seien auf grausamste Weise gefoltert worden. Kälbermatten habe später gesagt, das Protokoll sei ein Meisterstück in bezug auf die Schilderung des Zerfallsprozesses einer Sinnesfunktion und wahrscheinlich wahrer als alles, was jemals ein Arzt über diesen Vorgang geschrieben habe.

Am erschütterndsten, sagte Rosa, seien für sie die Stellen gewesen, in denen ihr Vater die Zustände nackter Angst beschrieb, von denen er zeitweise heimgesucht wurde. Da war ein feuriger Kopf, der vor ihm auf dem Boden durchs Zimmer rollte und ganz schrecklich lachte. Bald war es der Kopf seines Sohnes, bald der seines Vaters und dessen Vaters; ein paarmal war es sein eigener Kopf. Einmal sind die Köpfe auch alle zusammen gekommen. Aber jetzt haben sie nicht mehr gelacht. Sie hätten dunkle große Flecken gehabt wie Aepfel, die faulen, und seien traurig hintereinander dahergerollt, alle auf einen Haufen. Plötzlich sei eine rote Katze mit grünen Augen dagewesen und habe an ihnen herumgespielt, aber nicht lange; denn aus einer Ecke sei Frau Merz, das ist seine alte Putzfrau, herbeigeschlurft. Sie habe die Köpfe und die Katze, eines nach dem andern, in ihre Schürze gestopft und habe sie scheltend weggetragen.

An einer späteren Stelle des Protokolls sei von weißen Gestalten und von schwarzen Gestalten die Rede gewesen, die bei ihm im Zimmer saßen, nebeneinander, wie Hühner auf einer Latte. Sie taten nichts. Sie zeigten sich nur.

»Unter diesen Gestalten seines Berichts«, sagte Rosa, »sind auch Lily und ich gewesen. Jede von uns saß unter den weißen, aber gleichzeitig saß sie auch unter den schwarzen. Mit einemmal hat die schwarze Lily einen schönen nackten Knaben in ihrem Schoß gehabt. Der Knabe hat mit beiden Armen ein Jagdhorn an seinen Mund gehalten und darauf aus dicken vollen Backen ein Lied geblasen, das lustig und laut durch die Welt klang. Währenddessen verwandelte sich die schwarze Lily ebenfalls in eine weiße.«

So erzählte Rosa, und sie erzählte noch mehr. Sie sprach von der grausamen Genauigkeit, mit der ihr Vater an den aufeinanderfolgenden Tagen immer wieder beschrieb, was er an drei bestimmten Gegenständen, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte: 241 einer Landkarte, einem bunten Schal und einem Goldstück aus seinem Hosensack, noch sehen konnte, wenn er sie vor sein Auge hielt, und was er sich bei dem Gesehenen jedesmal dachte. Sie sprach von den unbändigen Schmähungen, die er gegen Gott und den Himmel ausstieß, wenn er entdeckte, daß seine Hilflosigkeit seit dem vorausgegangenen Tag wieder ein Stück weit gewachsen war; auch an dem Hohn, mit dem er Dr. Streiff und seinen Güllewagen begoß, ging Rosa durchaus nicht vorüber. Sonderbarerweise, so meinte sie zu Valär, scheine ihren Vater in diesen furchtbaren Tagen nur eines nicht beschäftigt zu haben: das war seine Zukunft.

»Kurz nachher habe ich freilich auch das begriffen«, schloß Rosa ihren Bericht. »Denn als der Schreiber dann fertig war und er diesen weggeschickt hatte, sagte mein Vater mit einer kurzen überlegenen Geste: ›So. Das war das. Kommentare sind unerwünscht. Wenn ihr nun aber glaubt, daß ein blinder Mann auch ein toter Mann sei, so habt ihr euch getäuscht. – Ihr seid entlassen.‹ – Und während wir abzogen, auf sein Geheiß, gerädert, erschöpft, klimperte er mit den Goldstücken in seinem Hosensack so laut, daß jeder es hören konnte, und zuletzt warf er uns die Goldstücke nach. Aber Lily, denk dir, die drehte sich um, als die Goldstücke hinter uns her auf den Boden fielen, und blieb! Sie machte kehrt, trotz seines Verbots, und bückte sich und begann die Goldstücke aufzulesen. Ganz unheimlich kam sie mir vor, als sie das tat . . . Auch nachher blieb sie, und ich weiß nicht, wie sie ihn gebändigt hat. Aber sie bändigte ihn! Denn sie nahmen zusammen das Mittagsmahl ein und tranken wieder Champagner dazu, und man hörte sie bis auf den Korridor lachen. Später befahl er zu packen, und am Abend fuhren sie weg.«

Während der zweiten Hälfte von Rosas Bericht hatte Valär seine Pfeife entleert, hatte sie sorgfältig gereinigt und mit Andacht wieder gestopft. Gerade, als Rosa zu Ende war, zündete er sie wieder an, und während das Feuer sich tiefer in seine Nahrung fraß, fragte er mit einem schief über die Schulter nach Rosa zielenden und sich schließlich an ihr fixierenden Blick:

»Die rote Katze – das warst dann du?« 242

Rosa wurde durch diese Frage zunächst ein wenig verwirrt, sagte dann aber gefaßt:

»Ach nein! Das glaube ich nicht, daß er so etwas dachte. In dieser Hinsicht ist er ja so primitiv, primitiv wie ein Bauer. Nein, nein – für ihn ist die Katze eine Katze gewesen – schon dein Güllewagen ging als Gleichnis ja beinahe über seinen Begriff. Aber, nicht wahr, Andrea, du verstehst, daß ich nicht zu dir gekommen bin, um dir mit meiner Erzählung die Zeit zu stehlen. Ich bin zu dir gekommen, weil ich gar nicht weiß, was ich nun machen soll, und vielleicht hast du mir einen Rat. Denn«, fuhr sie in sonderbar horchendem Tone fort: »in manchen Fällen ist ein blinder Mann eben doch auch ein toter Mann, selbst wenn er sich noch für lebendig hält. Und gerade in diesem Fall ist mein Vater.«

Sie maßen sich mit den Augen. Valär sog hastig an seiner Pfeife. Schließlich sagte er achselzuckend:

»Dunkel für mich, was du da orakelst.«

»So – jaja – natürlich – ich begreife, daß dir die unerschrockene Haltung meines Vaters gefällt. – Es paßt ja auch wirklich prachtvoll zu ihm, daß er nichts wissen will von Unterwerfung und Uebergabe, sondern daß er auch jetzt noch von einem neuen Waffengang träumt«, entgegnete Rosa, während sie ihr Haar mit beiden Händen zuerst in den Nacken schob und dann wieder sorgsam nach vorn an die Schläfen drückte. »Aber eigentlich hätte er – in seinem Zustand – so etwas nicht sagen dürfen – niemals!«

Valär ließ Rosa nicht aus den Augen. Wo hinaus wollte sie?

Aufs Geratewohl sagte er:

»Soll das heißen, daß du über seinen Zustand mehr weißt als er?«

Leider, ja – leider wisse sie noch einiges mehr. Durch Kälbermatten. Vor einigen Tagen, nach der Abreise ihres Vaters, eine Woche nachher, sei Kälbermatten zu ihr gekommen und habe ihr die Wahrheit gesagt. Und sie erzählte Valär von einer Geschwulst, die den Sehnerv abgewürgt habe, und es war dasselbe, was Kälbermatten schon einige Wochen zuvor auch Lily mitgeteilt hatte, mit der Bitte, es für sich zu behalten und auch Rosa nichts davon zu sagen. 243

»Aber wenn die Geschwulst nur eine neue Erfindung der Aerzte ist?« fragte Valär. »Früher war's nichts, wenn man sie hörte, und jetzt ist's eine Geschwulst. Herrje, so können sie noch manches auf Lager haben, falls sich herausstellen sollte, daß Bedarf dafür ist. Du solltest das ja wohl wissen.«

»Die Geschwulst ist keine Erfindung«, beteuerte Rosa. »Kälbermatten hat sie mir auf seinen Röntgenplatten gezeigt. Sie ist da und ist deutlich zu sehen, wenn ein Sachkundiger es einem erklärt. Aber gerade, weil sie keine Erfindung ist«, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort und versuchte ein Gesicht wie Neuschnee zu machen, »– gerade deswegen habe ich mich gefragt, ob man es nicht meinem Vater selbst mitteilen sollte, damit er seine Angelegenheiten in Ordnung bringen könnte, so, wie es bei klarem Verstand sein Wille gewesen wäre. Denn es ist ja zu befürchten, daß die Geschwulst ihn noch weiter zerstört. Sogar seine Geisteskräfte könnten darunter leiden. Dann wäre es aber gerade so, als hätte er in Unkenntnis seiner Lage sein eigenes Sterben versäumt. – Das alles sind schreckliche Fragen. Fortgesetzt plagen sie mich. Und nun könntest du lieb zu mir sein und mir sagen, was du dazu meinst.«

»Ich? Was ich meine?«

»Ja! Du!«

Allein darauf wollte Valär sich nicht einlassen, in dieser Sache eine Meinung zu haben, die er Rosa preisgab. Ohne auf das sonderbare Gemisch ihrer Gründe einzugehen, erwiderte er daher nur, mit deutlicher Ablehnung, die von Argwohn nicht frei war:

»Liebe Rosa, du bist geplagt, das glaube ich dir. Aber für einen Rat kann ich mich nicht zuständig halten. Zuständig sind die Aerzte. Sie haben deinen Vater und dich hinters Licht geführt, weil sie glaubten, daß es das Richtige sei, an der Wahrheit vorbeizugehen. Halte dich, bitte, an sie, wenn du glaubst, daß man von jetzt an besser einen andern Kurs steuern würde. Von mir kannst du nicht erwarten, daß ich den Piloten mache und dazu noch auf einem Gewässer, das so voller Untiefen ist und so viele Klippen hat wie dieses.«

»Untiefen? – Klippen, sagst du?« – Nun saß sie da und tat, 244 als hätte sie keine Ahnung von dem, was Klippen und was Untiefen sind, und konnte doch mit aller Kunst nicht verhindern, daß sie eher wie ein schwerbewaffneter Spähtrupp aussah, der das Terrain nach etwas ganz Bestimmtem erkunden wollte, ohne daß der andere merkte, worauf es ihr ankam. Das machte Valär fast heiter, aber auch ungeduldig.

»Allerdings! Untiefen und Tiefen, die angefüllt sind mit Interessen sehr menschlicher Art.« – Fast barsch und boshaft war es herausgekommen.

»Oh – du willst doch nicht sagen – –?«

Er schwieg.

Rosas Augen verschmälerten sich. Sie griff nach einem Ring an der linken Hand, spreizte die Finger und versuchte den Ring zu drehen.

»Meine Interessen kennst du«, sagte sie langsam. »Ich habe sie soeben genannt.«

»Du hast sie genannt, zugegeben, daß du sie genannt hast, soweit es dir paßt. Aber wäre es nicht möglich, daß deine Interessen den Interessen anderer zuwider sind? Und daß du das sogar weißt?«

Rosa neigte den Kopf und überlegte.

»Denkst du an Lily?«

»Du hättest dir selbst sagen können, daß ich dir diese Frage nicht beantworten werde.«

»Wie du willst«, nickte sie und drehte weiter an ihrem Ring. »Aber wenn du mir auch wegen Vater keinen Rat geben willst, so wäre doch zu überlegen, ob man nicht wenigstens sie unterrichten sollte, und wäre es auch nur, damit sie sich entsprechend dem Ernst der Lage benehmen lernt, und damit es ihr nicht mehr einfällt, sich so zügellos aufzuführen, wie es während deiner Abwesenheit ja leider geschehen ist.«

Aha, Abgottspon! . . . Diese Füchsin im Busch! Sie suchte nach Witterung und dachte wohl, wenn sie ihm auf die eine Art nicht beikommen könne, ginge es vielleicht anders.

Geradezu vergnügt biß Valär auf seine Pfeife und erwiderte mit Gelassenheit: 245

»Ich kann dir nur abermals sagen: halte dich an die Aerzte.«

»Aber, Andrea, das habe ich doch schon versucht! Ich habe doch mit Kälbermatten deswegen eine Unterredung gehabt. Aber Kälbermatten ist ein Mystiker, und was er sagt, ist so, wie wenn du an die Decke klopfst, weil oben Mäuse rumoren. Das Klopfen macht Lärm, aber die Mäuse, die tanzen weiter.«

»Was sagte er denn?«

»Er sagte, daß so eine Geschwulst sich ganz von selbst auch wieder abbauen könne. Nur selten allerdings komme so etwas vor. Aber er findet, daß der Arzt doch damit rechnen müsse. Er möchte es deswegen nicht auf sich nehmen, Vater oder Lily schon jetzt zu beunruhigen mit einem Hinweis auf die gegenteilige Möglichkeit. Mir scheint allerdings, daß er damit nur seine eigene Haut retten will, und daß er gar nicht bedenkt, wie roh es ist, wenn man zuläßt, daß ein Mensch von seinem Schicksal überfallen wird, einfach wie von einem Räuber. Andrea, sag selbst: würdest du wünschen können, daß das einem Menschen geschieht, den du liebst?«

Aber nun hatte Valär von dieser Vorstellung weiblichen Seelenschmerzes genug. Er stand auf, trat vor Rosa hin und entgegnete, nicht eben sanft:

»Rosa, du liebst deinen Vater nicht nur. Ebenso inbrünstig haßt du ihn auch. Du haßt auch Lily. Dein Gedankengang kann mich deswegen nicht überzeugen.

Rosa griff nach ihrer Tasche.

»Ja, dann hat es wohl keinen Zweck, daß ich dich noch länger von deinen vielen Geschäften abhalte.« – Dann stand sie auf und sagte voll Unterwürfigkeit:

»Ich danke dir trotzdem, Andrea, daß du mich angehört hast. Du weißt nun wenigstens, wie es zurzeit in mir aussieht.«

 

Der Widerstreit der Gefühle Rosas schien nun aber in ihrer Brust keineswegs ein so heilloses Durcheinander geschaffen zu haben, daß ihre geschäftlichen Talente darunter gelitten hätten. Denn sie hatte während Valärs Abwesenheit nicht nur den 246 Dreitannenhof an sich gebracht, sondern ihm auch einen seiner tüchtigsten Mitarbeiter entwendet. Noch am gleichen Abend erfuhr er das, und vermutlich hatte nur Rücksicht auf seine kostbare Zeit sie davon abgehalten, bei ihrem Besuch ihn auch von diesem Streich persönlich zu unterrichten.

Zünd, der nach Fertigstellung des Sanatoriums von Valär mit größeren Aufgaben betraut worden war, kam nach Büroschluß zu ihm, rollte seine schwarzen brennenden Augen, als ob er sich selber beschimpfen müsse für das, was er jetzt vorbringen werde, und sagte mit Würgen und Drücken:

»Herr Valär, Sie sind mir immer ein guter Prinzipal und Kollege gewesen.«

»Freut mich, Zünd, daß Sie das sagen. – Sie fürchten doch nicht, daß sich daran etwas ändern könnte?«

»Nein, das fürchte ich nicht. Ich habe Ihnen ja auch keinen Anlaß dazu gegeben. Aber ich muß Ihnen sagen, daß ich trotzdem nicht länger bleiben kann. Ich bitte Sie, mich zu entlassen, auf den nächsten Termin oder lieber noch vorher.«

Valär war wie aus den Wolken gefallen.

»Ja, was ist mit Ihnen los?«

Der verschanzte Mensch, in außerberuflichen Dingen fast nicht zum Reden zu bringen, wackelte mit dem dunkelbärtigen Petruskopf wie ein Bär, der hilflos hinter einem eisernen Gitter steht, und sagte mit wunderlicher Umständlichkeit, seine Zähne plötzlich unter einem befreienden Lächeln entblößend:

»Meine Frau kommt zurück – meine Kinder kommen zurück – auf Dreitannen sollen wir wohnen dürfen – auch mein Vater zieht mit hinauf – Frau Doktor Streiff hat den Hof gekauft, – auch viel, viel Land hat sie hinzugekauft – ein Haus soll ich ihr bauen oben am Berg – und rund um Dreitannen und von da bis weit über den Berg hinauf soll im Lauf der Jahre eine Musterwirtschaft entstehen, ein Gutsbetrieb zur Selbstversorgung mit allem, was Menschen für ihre Nahrung und für die Schönheit gebrauchen! . . . Ach, Herr Valär, wie oft habe ich zu mir gesagt: Mensch, du paßt nicht in die Stadt – in so einem alten Bauernhaus solltest du sitzen, zwischen Gras, Vieh, Kindern, 247 Holunderbüschen und Stubenfliegen – wärst näher den Sternen und dem Herzen der Welt – könntest den Bauern Säuställe bauen – könntest mit ihnen da und dort eine nützliche Aussprache haben, und niemals wäre die Gegenwart dann so räudig, daß man sie nicht ertragen könnte, bis die neue Welt den Trümmern der alten entsteigt. Alles das habe ich so für mich ausgedacht, weil der Mensch ja nun doch einmal träumen muß, und weil man die Wende der Zeiten da unten nicht einfach abwarten kann . . . Sehen Sie, Herr Valär, und nun kommt diese Frau und bietet mir alles das an! Und sie sagt, daß ich es ruhig annehmen dürfe. Denn Sie hätten ja doch keine Zeit, ihr in diesem Vorhaben beizustehen.«

So sprach Zünd, und Valär blickte ihn an. Aber er konnte Zünds Gesicht fast nicht sehen. Denn um den bärtigen Kopf hing eine dicke dampfende Wolke von Seligkeit, wie ein Schönwetterhut um einen Bergesgipfel im Sommer. Das war ein prächtiges Bild, und Valär freute sich an seinem Anblick. Denn er hatte Zünd sehr schätzen gelernt und hatte ihm längst alles Gute gegönnt.

Trotzdem hatte es ihm einen Stich gegeben, daß Rosa ihn ganz einfach beiseite schob, und daß sie sich für ihr Privatunternehmen außerdem einen seiner fähigsten Angestellten geangelt hatte, während er sich außer Landes befand. Auch vom Bau eines Hauses hatte sie nie geschnauft. Beiläufig hatte sie einmal bemerkt, daß sie das Schwedenhäuschen in absehbarer Zeit seiner früheren Bewohnerin wohl werde zurückgeben müssen, aber weiter war sie in ihrer Vertraulichkeit nicht gegangen.

»Dreitannen – soso – ja, das wird ein schöner Sitz für Sie werden. Dann fliegt die Wirtschaft wohl auf?«

»Damit wären die Bauern schwerlich zufrieden«, erwiderte Zünd, »und auch die Fuhrknechte nicht. Und die Leute aus der Gemeinde, die ihre Sonntagsausflüge machen, wären ebenfalls von einer solchen Aenderung nicht beglückt.« Aber sie sei auch nicht vorgesehen. Sein Vater sei von Beruf Koch. Er sei noch rüstig und würde mit seiner Haushälterin die Wirtschaft gern übernehmen. Vor allem aber habe er das Angebot angenommen, weil seine Frau auf die neuen Aussichten hin wieder zu ihm zurückkommen wolle.

Hier senkte Zünd seinen Kopf auf die Brust – sehr tief –, und 248 sehr schuldbewußt stand er da, und nach einem weiteren kurzen Hin und Her des Gesprächs kam heraus, weshalb Zünds Monatsgehalt immer in so ungleiche Teile gegangen war, und weshalb er den größeren Teil immer durch Valärs Büro seiner Frau hatte schicken lassen, anstatt die Sache selbst zu besorgen: die Frau war ihm mit den Kindern schon vor Jahren davongelaufen, weil sie fand, daß sie keinen Halt an ihm habe, und hatte seitdem mit ihrem Geliebten zusammengelebt. Er aber hing an der Frau und hing an den Kindern, und es wäre ihm unmöglich gewesen, sie fahren zu lassen. Ebensowenig aber hätte er es übers Herz gebracht, persönlich noch mit ihr in Verbindung zu bleiben, solange sie sich von ihrem Geliebten nicht löste. Jetzt hatte Rosa der Frau geschrieben, und die Frau hatte erklärt, daß ihr Geliebter sie schon vor einer Weile verlassen habe, und daß sie mit den Kindern gern zu ihrem Mann zurückkehren wolle, »um von nun an ein Leben zu führen, wie es sich gehört«.

Auch das hatte Zünd mit brennenden Augen erzählt, als ob er sich selber beschimpfen müsse für das, was geschehen war, nicht seine Frau, und wiederum hatten sich seine Zähne hinter dem Bartrand unter einem befreienden Lächeln plötzlich entblößt.

»Zünd, ich freue mich über die Wendung, die das Leben für Sie genommen hat«, sagte Valär. »Sie sollen auch springen dürfen, sobald ich für Sie einen Nachfolger habe. Gern verliere ich Sie ja nicht, das ist ein ehrliches Wort. Eins aber möchte ich von Ihnen jetzt noch versprochen haben: wollen Sie sich mir auch weiterhin zur Verfügung halten, wenn ich Sie brauche?«

Zünd streckte ihm seine Hand entgegen, und mit gar nicht mehr stockender Rede erwiderte er:

»Sie werden mich immer an Ihrer Seite finden, wenn es darauf ankommen soll, aus unserem Vaterland ein Land zu machen, in dem es der Mühe wert ist, zu leben.«

Der Nachfolger war bald gefunden. Zünd zog sofort auf Dreitannen ein. 249

 


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