Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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VI.

Es gab eine junge Dame, mit der Valär einmal in der Woche zu Mittag aß, regelmäßig am Donnerstag. Denn an diesem Tag machte er nachmittags frei.

Die junge Dame hieß Dinah. Sie hatte vor kurzem das vierzehnte Lebensjahr überschritten und besuchte die Töchterschule der Stadt. Sie war Brunos Schwester.

Dinah holte Valär regelmäßig auf seinem Büro zum Essen ab. Immer kam sie heiß bei ihm an; denn sie legte die ziemlich weite Strecke grundsätzlich nur im Galopp zurück, um ja nicht zu spät zu kommen. Mit den Restaurants, in denen sie speisten, wechselten sie. Das machte Dinah viel Freude. Hatte ihr etwas besonders geschmeckt, so ließ sie sich zum Küchenchef führen und fragte ihn nach dem Rezept und nach allem, was ihr wichtig schien, zum Beispiel nach der Stärke des Feuers, und ob man bei dem fraglichen Pudding die nötige Milch kalt oder warm dazugeben müsse. Die dicken Männer mit den hohen weißen Mützen und den roten heißen Gesichtern logen Dinah nach Noten an oder sagten ihr auch die Wahrheit, während sie dastand und alles ernsthaft notierte. »Da habt ihr mich wieder schön am Seil heruntergelassen«, antwortete sie und starrte kopfschüttelnd auf ihr Konzept. Trotzdem sagte sie mit einer drolligen Würde und Wichtigkeit: »Danke!« – Diese Küchengänge hatte sie vor einigen Wochen ganz plötzlich aufgegeben. Valär sagte nichts, aber es fiel ihm auf, und er ahnte weswegen: es ging mit Dinahs unbefangener Kindheit zu Ende.

Als Dinah dieses Mal zum Abholen kam, trug Valär einen Touristenanzug, den sie noch nie an ihm gesehen hatte. Er wollte am Nachmittag wandern.

»So gefällst du mir am besten«, beteuerte Dinah, spreizbeinig vor ihm stehenbleibend und ihn von oben bis unten betrachtend. »Mein Gott, wie ist das flott!«

»Ich komme mir vor wie ein Zigerkrapfen, der Ferien hat«, sagte Valär.

Sie jauchzte. »Surrimutz«, fragte sie, »und an mir merkst du nichts?« 64

»Doch! Daß du am Kinn einen ganz prächtigen Tintenklex hast.«

»Aber das meine ich jetzt doch nicht!« sagte sie, leckte mit der Zunge schnell kinnwärts und versuchte den Tintenfleck mit dem Taschentuch abzuwischen. »Sieh mich doch richtig an!« – Gestrafft trat sie vor ihn und blinzelte mit ihren leicht kurzsichtigen Augen erwartungsvoll zu ihm hinauf. Diese Augen hatten es auf sich. Denn das eine war blau und das andere braun, und sie hatte es sich von einem berühmten Augenarzt schriftlich geben lassen, daß so etwas sehr selten sei und unter vielen hunderttausend Menschen höchstens einmal vorkäme.

Valär bemerkte zum erstenmal, daß ihre Brüste im Kommen waren. Sie waren noch klein, aber sie waren da und von jetzt an nicht mehr zu übersehen. Auch die Hüften hügelten sich.

Er stellte sich blind.

»Aber Mann! Zum erstenmal trage ich doch eine richtige Damenkleidung: – Rock, Jumper, Gürtel, päng! Der Rock ist ein Springfaltenrock – das freut mich gewaltig. Den Gürtel kann man auf zwei Seiten tragen, und er hat deswegen ein Wendeschloß. Das freut mich auch.« – Sie nahm den Gürtel herunter und wies ihn vor. Auch die Falten im Rock ließ sie springen.

»Großer Gott! Da werden wir nächstens ja wohl heiraten müssen?«

Sie lachten, und da Dinah den prächtigen Tintenfleck mit ihrem Gefummel nur wenig beschädigt hatte, nahm Valär ihren heißen dunklen Kopf in den Arm, schob ihr das Kinn in die Höhe wie einem Kind, das sich weigert, seine Schnuddernase putzen zu lassen, und wischte ihr, während sie die Backen aufblies, den Tintenfleck mit einem nassen Zeichenschwamm ab. Auf die nasse Backe gab er ihr einen Kuß, und sie lachten von neuem. Dann gingen sie. Sie gingen diesmal ins »Grotto«.

Nachdem sie die Speisekarte durchstöbert und jedes sich etwas Leckeres ausgesucht hatte, sagte Valär:

»Und nun erzähle! Wie war's beim Geburtstagsfest deiner Mutter? Du weißt ja, daß ich leider nicht kommen konnte.«

»Lustig war's! Und so einen Tisch voll Geschenke hat sie 65 bekommen! Aber am meisten hat sie doch dein Photoapparat für Selbstaufnahmen gefreut. Sofort hat sie ihn aufgestellt und hat sich in allen möglichen Posen geknipst. Zwei Filme sind dabei draufgegangen. Sie war rein aus dem Häuschen.«

Valär nickte und lächelte. Photographieren war Nanys Leidenschaft. Auch die Folgen konnte er prophezeien: Bei ihrem nächsten Stadtbesuch würde Nany die Filme entwickeln und Abzüge davon herstellen lassen. Und wenn dann die Filme und die Abzüge von ihr begutachtet waren, so blieben sie in dem Umschlag, in dem sie geliefert wurden, in Dr. Elmenreichs großem Haus irgendwo auf Nanys schlupfwinkelreichem Tummelfeld liegen. Wenn dann Frieda, die Wirtschafterin, den Umschlag beim Aufräumen fand und seinen Inhalt festgestellt hatte, kam er in eine kunstvoll bemalte Schachtel, in der schon ein Vorrat von hundert und noch mehr solchen Umschlägen mit Filmen und Photos vorhanden war. Dort war er verlocht und vergessen, bis eines Tages Nany, die Besitzerin, bestimmte Bilder, die sie gerade im Kopfe hatte, jemand vorweisen wollte und in der prächtigen Schachtel heftig zu suchen begann. Da die Umschläge jedoch keine Aufschriften trugen und in der Schachtel alles bunt durcheinander lag, fand sie alles, nur nicht das, was sie suchte.

»Da muß ich aber mal Ordnung machen«, rief sie dann aus, »– oh, ganz energisch!« – und stopfte die Schachtel wieder in den »Kasten für alles«.

»Aber warum schreibst du nicht einfach jedesmal ein Inhaltsverzeichnis auf das Kuvert und ein Datum dazu?« konnte dann Dinah in ihrer Ordnungsliebe und Verständigkeit fragen.

»Natürlich, eine Idee – ganz ausgezeichnet, diese Idee!« würde die Mutter bestürzt entgegnen. »Aber meinst du, ich werde jedes Mal einen Bleistift haben? – Wie ich mich kenne, habe ich keinen.«

Auch den neuesten Selbstaufnahmen würde es auf diese Weise ergehen.

»Und im übrigen?« fragte Valär. »War sonst noch was los?«

»Ach, um das Uebrige habe ich mich nicht so bekümmert. Zum Mittagsdessert gab's eine Bombe – nachmittags war ich in der Schule, und am Abend – –« 66

Allein bevor Dinah berichtet hatte, was am Abend gewesen war, schreckte sie so heftig zusammen, daß sie sogar das Weiteressen vergaß. Sie starrte Valär ins Gesicht und flüsterte:

»Denk, Bruno war da!«

»Was du sagst!«

»Mittags ist er gekommen, und bis zum andern Morgen ist er geblieben. Vater hatte gemeint, daß sein Kommen nicht nötig wäre. Weihnachten stehe ja bald vor der Türe, und es sei auch nicht ratsam, daß Bruno seine Tätigkeit unterbreche, nachdem er erst so kurze Zeit bei dem Bauer sei. Auch Bruno selbst wollte nicht kommen, er hat es mir später gesagt. Aber Mutter hat keine Ruhe gegeben, und zuletzt hat sie ihm sogar telegraphiert.«

»Hat sich's gelohnt?« fragte Valär.

»Wir haben fürchterlichen Krach zusammen gehabt. Schlimm ging's zu! Bruno war wie ein Teufel.«

»Wieder einmal!«

»Ja! Aber so war's schon lange nicht mehr. Wir haben uns zerkratzt und verhauen. Das heißt«, berichtigte sie, »er hat mich verhauen, und ich hab ihn zerkratzt. Dahinten bin ich immer noch farbig.«

»So! Nette Geschichte! Und weswegen?«

»Ich bin mit ihm im Garten gewesen. Da hat er sich beklagt, daß die Burschen im Dorf so wüst zu ihm seien. Früher, als er noch auf die Schloßschule ging, habe keiner gepiepst, wenn sie sich im Dorf sehen ließen. Jetzt schimpften sie ›Chaibe Schwob‹ hinter ihm her und sonst wüste Namen. Aber die Bande sei feig. Denn sie schmierten ihr Maul nur dann an ihm ab, wenn sie klumpenweise beisammen seien. Einzeln hätten sie nicht die Courage. Nun sei ihm aber einer der ärgsten Schreier neulich allein vor die Fäuste gekommen. Da habe er ihn gestellt. Dann habe er ihn niedergeschlagen und in den Dorfbach geschmettert.«

»Wahrscheinlich hat Bruno gemeint, daß das eine Heldentat sei«, fuhr Dinah fort, »und hat gewollt, daß ich ihn dafür bewundern solle. Aber ich habe nur daran gedacht, daß er schon wieder solche Geschichten hat, und wie es Vater kränken muß, wenn er es 67 erfährt. Das hat mich ganz unanständig gemacht«, beteuerte sie, mit einer jener überraschenden Wendungen, die ihr manchmal entschlüpften, »und ich habe Bruno gesagt, alles komme nur davon, daß er sich in der Schule so schlecht aufgeführt habe. Das wüßten die Burschen, und nun giggelten sie dafür mit ihm. Ob er sich denn nicht schäme, Vater immerfort solche Sorge und solche Schande zu machen und ihm schon wieder mit etwas anzuliegen, was ihn betrübt? – Da hat der Lausbub seelenruhig gesagt: ›Herr Lüscher ist ganz auf meiner Seite. Prügel seien die einzige Art, wie man sich bei diesen Burschen Achtung verschafft. Und was das Schandemachen angeht‹, hat Bruno hinzugefügt, ›so bin ich mit Vater quitt. Vater ist ein Landesverräter‹.«

Valär war über diese Aeußerung Dinahs so erschrocken, daß seine Bestürzung ihr nicht entging. »Landesverräter?« wiederholte er, als ob er seinen Ohren nicht trauen könne.

»Ja, Landesverräter! Ich war wie erschlagen.«

»Aber wie kommt er zu dieser unsinnigen Anschuldigung?«

Tränen traten in Dinahs Augen, und während ihr die Tropfen hell über die Backen rannen, erwiderte sie, ein würgendes Schluchzen tapfer bekämpfend:

»Bruno sagt, Vater habe sein großes schönes Vaterland abgeschworen und sich in diesem kleinen Drecksland für zweitausend Franken eingekauft. Das sei Verrat. ›Nun laufe ich hier herum‹, sagte er, ›und für diese dickranzigen Wirtshausschweizer und ihre Brut bin ich ein Chaibe-Schwobe-Huresohn, und für die Deutschen bin ich ein armer, aus dem Nest gefallener Vogel. Das macht mich krank‹.«

Valär kannte Dinah gut genug, um zu wissen, wie sehr sie getroffen war. Denn für das Mädchen gab es keine verehrungswürdigere Gestalt als ihren Vater. Und nun diese Herabsetzung – zu allem noch aus dem Mund des leiblichen Bruders.

Auch in Valär kochte der Zorn.

»Bruno ist doch manchmal ein trauriger Bursche! Was müßte es für sein eigenes zerfahrenes Leben bedeuten können, wenn er ein wenig die Augen aufmachte und sich die Mühe nähme, herauszubekommen, was sein Vater in Wirklichkeit ist! Aber vor lauter 68 Eigenliebe ist Bruno blind, und so entgeht ihm das Beste, was er jetzt haben könnte.«

Schon während er sprach, wurde Valär sich bewußt, daß er zu weit ging mit seinen Worten, daß das aber nicht schlimm war, weil Dinah ihn kaum ganz verstand. Hunde, die sich nicht wohl fühlen in einem Haus, an das sie gebunden sind, beschmutzen die Zimmer und beschmutzen die Möbel, und mit keinen Mitteln wird man dieser Untugend Herr. Es ist eine triebhafte blinde Abwehrbewegung, die einzige, die den Tieren in ihrer Lage bleibt, um sich zu erleichtern . . . Und hatte nicht Brunos Vater im Sommer gesagt: »Ich glaube, er schämt sich meiner . . .«? Oh, mit einem Schlag begriff Valär vieles. Irgendwer mußte bei Bruno geklatscht haben über eine gewisse Geschichte in seines Vaters Vergangenheit; vielleicht war es die eigene Mutter gewesen. Wahrscheinlich war dabei alles ganz lückenhaft und verzerrt dargestellt worden; es konnte ohne jede böse Absicht geschehen sein – gleichsam nur so im Spiel. Nun war Bruno fassungslos und beschmutzte sein eigenes Haus, genau wie ein unglücklicher Hund, nur um sich Luft zu verschaffen. Daher im Hintergrund aller seiner Pläne dieser Südseetraum. Es war nichts als Flucht, weil er mit dem Daheim nicht mehr zu Streich kam.

Dinah, von ihrem Tränenausbruch bestürzt, hatte sich langsam gefaßt.

»Nicht wahr«, sagte sie schluckend, »es ist keine Schande, wenn einer wegzieht in ein fremdes Land?«

»Guter Gott! Das haben schon viele Männer getan, die in ihrem Vaterland nicht die Möglichkeit zu voller Entfaltung gefunden haben, und die dann auf fremdem Boden so prächtig gediehen sind, daß man sie zu den Großen und Größten zählt auf der Erde. Manch ein berühmter Schweizer ist von fremden Eltern geboren. Auch mancher berühmte Deutsche kommt von woanders her.«

Dinah suchte nach einem rettenden Balken in der Erklärung Valärs; sie sagte:

»Vater hat Mutter geliebt. Da ist er zu ihr ins Land gezogen.«

Valär überlegte. 69

»Ganz so war es nun allerdings nicht. Der Hauptgrund war ein anderer.«

Wieder füllten sich ihre Augen mit Wasser.

»Kennst du den Grund?«

»Ich kenne ihn.«

»Darf ich ihn wissen?«

,Ja.«

»Dann sag ihn mir, bitte!«

Wieder mußte er überlegen. Wie sollte er es formulieren, damit es Dinah begriff? Schließlich sagte er:

»Dein Vater hat sich mit den Männern, die in seinen jungen Jahren in Deutschland die Mächtigen waren, in einer bestimmten Frage nicht einigen können. Und weil er sich ihrem Gutdünken nicht unterwerfen wollte, ist er schließlich gegangen.«

Dinah blickte ihn aufmerksam, aber verständnislos an. Dieses Nichtverstehen war ganz natürlich. Sie war bisher ein Kind gewesen, das so vollbeschäftigt in der eigenen Gegenwart lebte, daß so entfernte Dinge wie die Gründe dafür, daß ihr Vater trotz seiner deutschen Abstammung Schweizer war, ihr Interesse nicht hatten berühren können. Aber jetzt stand sie vor einem Problem, das zu entwirren ihr von sich aus unmöglich war, und er mußte ihr helfen.

»Paß auf, was ich dir sagen werde.« – Valär nahm einen Schluck Wein, um dann fortzufahren: »Du weißt, daß deines Vaters Vater Pfarrer im Hessischen war. Dort wurde dein Vater geboren. Dort hat er auch die Schulen besucht.«

Sie nickte.

»In diesem damaligen Deutschland gab es eine Einrichtung, die wir in der Schweiz nicht kennen und die auch im heutigen Deutschland abgeschafft ist, sehr mit Recht. Sie hieß das Einjährigenjahr. – Hast du davon schon gehört?«

»Niemals!«

»Es war folgendermaßen: Ein Knabe, der nur die Volksschule durchgemacht hatte, mußte später zwei oder drei Jahre lang zum Militär. Ein Knabe dagegen, der auf einer höheren Schule sieben Klassen mit Erfolg durchgemacht hatte, mußte nur ein Jahr lang 70 dienen. Das war eine große Vergünstigung, ein Privileg, recht angenehm für die bevorzugten Klassen, die ihre Kinder in eine höhere Schule tun konnten, aber im Grunde sehr ungerecht. Denn wer zwei oder drei Jahre gemeiner Soldat sein muß, ist länger aus dem Arbeiten- und Verdienenkönnen oder dem Lernenkönnen herausgerissen, als wer nur ein Jahr Soldat ist. Dafür mußte man als Einjähriger seinen ganzen Unterhalt dann allerdings selber bezahlen, einschließlich Wohnung, Uniform und so weiter. Das konnten aber wieder nur die Söhne wohlhabender Eltern sich leisten. Denn so ein Einjährigenjahr – das kostete ja mindestens seine dreitausend Mark.

»Ui!« rief das Mädchen, »da hat Vater aber schwer blechen müssen!«

»Hätte er sollen!«

Das war der entscheidende Punkt. Deswegen hatte Valär das »Sollen« auch so stark betont.

»Ja – ja – hat er es nicht getan?« stotterte Dinah.

»Nein!«

»Warum denn nicht?«

»Weil er so viel Geld gar nicht mehr hatte.«

»Herrje, hatte er schon alles verbraucht?«

»Ja. Sein Vater hatte nur ein sehr bescheidenes Gehalt, und was von dem kleinen Vermögen auf jedes der sechs Kinder entfiel, das war restlos für ihre Ausbildung draufgegangen.«

»Da hätte ich aber gewußt, was ich täte!« versicherte Dinah.

»Was denn?«

»Ich wäre an Vaters Stelle einfach zu Mutter gegangen. Mutter hätte ihm das Geld sicher sofort gegeben.«

»Zu deiner Mutter, meinst du?«

»Natürlich!« beteuerte Dinah. »Wenn Mutter weniger als fünfstellig erbt, macht sie ja bloß ›pa!‹ Weniger, das ist für sie gar nichts. Es hätte ihr sicher nichts ausgemacht, Vater mit dreitausend auszuhelfen.«

»Dinah! Was träumst du zusammen! Dein Vater und deine Mutter haben sich damals doch noch gar nicht wirklich gekannt. Sie hatten sich Jahre vorher ein einziges Mal gesehen, auf einem 71 Ball. Aber keines hat an diesem Ballabend daran gedacht, daß sie sich je wieder begegnen würden.«

Dinah machte ein Mäulchen und krauste die Stirn.

»Ach so! – Ja, dann war's schlimm!« seufzte sie. »Dann hat Vater sicher nicht mehr gewußt, was er anfangen soll.«

»O doch! Ein Mann wie er wirft nicht so schnell die Flinte ins Korn. Er ist einfach aufs Bezirkskommando gegangen – das war die Stelle, die damals alles Militärische unter sich hatte, – und dort sagte er alles so, wie es war. Er sagte, daß er das Geld für das Einjährigenjahr jetzt nicht habe, und bat, daß man ihn noch drei Jahre zurückstellen möge. Er habe eine Stelle, die er sofort antreten könne. In drei Jahren werde er sich die nötige Summe ersparen können, und dann werde er dienen.«

»Du, das ist prima! Das ist ohnmächtig prima!«

»So dachte er wahrscheinlich auch. Aber als er mit seinem Vorschlag kam, da wurde er schön angeschnauzt! Er habe in diesem Hause nichts vorzuschlagen – man treibe hier keine Handelsgeschäfte –, man nehme auch keine Anregungen entgegen. Er sei jetzt dreiundzwanzig gewesen und könne nicht länger zurückgestellt werden. Wenn er das Geld nicht habe, müsse er eben zwei Jahre dienen und damit Schluß. – Dein Vater gab sich mit diesem Bescheid nicht zufrieden. Er machte eine Eingabe an das Kriegsministerium, in der er dasselbe vorschlug, – es war ein wunderschöner Brief, den er schrieb, – ich selbst habe später eine Abschrift davon gelesen. Aber auch dort sagte man nein, mit den schroffsten und härtesten Worten. – Da merkte dein Vater zum erstenmal, wozu der Mensch gegenüber den Mitmenschen fähig ist, wenn er glaubt, im Rechte zu sein, und wenn er die Macht hat, seine Forderung durchzusetzen.«

Valär war sehr ernst geworden, und Dinah starrte ihn an. Sie fühlte, daß dies alles hart an die Grenzen ihrer Begriffe ging und im Grunde nur traurig war, und sie konnte doch auch den schönen Apfelkuchen mit Schlagrahm, der eben vor sie hingestellt worden war, nicht vergessen. Schließlich siegte der Apfelkuchen. Sie griff nach Gabel und Löffel und sagte mit einem herzhaften Ruck:

»Und dann war es aus!« 72

»Dein Vater schrieb einen letzten Brief, einen allerletzten, diesmal an den Kriegsminister persönlich. Er sagte, daß das Einjährigenrecht ein Ehrenrecht sei, sozusagen ein kleiner persönlicher Adelsbrief, den er sich auf Grund bestimmter wohlbekannter Leistungen im Einverständnis aller erworben habe. Aber es sei schmachvoll, wenn der Staat, der durch sein sittliches Verhalten allen seinen Bürgern doch als Vorbild zu dienen habe, einem seiner Angehörigen den Adelsbrief wieder nehmen wolle und ihn in die Klasse der Gemeinen zurückversetze, nur weil der Betreffende arm oder in einem bestimmten Zeitpunkt von Mitteln entblößt sei. Armut sei keine ehrenrührige Eigenschaft. Zu einem Staat, der seine Macht mißbrauche, um in einer Sache, in der er höchstens Partei sein könne, diese unmoralische Auffassung durchzudrücken, fühle er sich in so unversöhnlichem Gegensatz, daß er auf die Ehre weiterer Zugehörigkeit zu ihm verzichte.

Nachher packte er seine Koffer und fuhr in die Schweiz. Hier hat er dann alle seine Examina noch einmal gemacht, und das sogar gut.«

»Recht hat Vater gehabt!« rief Dinah eifrig. »Was die von ihm wollten, das wäre ja gerade, wie wenn ich nicht das Geld zur Schulreise hätte und der Lehrer deswegen sagte: ›Dann bleibst du eben daheim und machst zur Strafe zwei Stunden Arrest.‹ – Die ganze Klasse würde vor Wut einfach heulen.«

»Ja, so wäre es«, bestätigte Valär. »Das hast du sehr gut erfaßt.«

Dinah dachte nach.

»Aber dann ist Vater doch auch kein Landesverräter?«

»Klar!«

»Was fällt dann Bruno überhaupt ein?«

»Tja, das habe ich mir auch schon überlegt, wie Bruno dazu gekommen sein könnte, über euren Vater bei dir so ungerecht loszuziehen. Wahrscheinlich hat er nur seinen ganzen Zorn über die Anrempeleien einiger unflätiger Burschen auf den Vater geworfen, weil er diesen dafür verantwortlich glaubt, daß jene meinen, so von ihm sprechen zu dürfen, wie sie es tun. Bruno ist ja so überempfindlich, daß er leicht über eine Kleinigkeit stolpern kann, 73 und an das, was er anstellt mit seinem unvernünftigen Draufgängertum – an das denkt er niemals.«

»Wenn es so ist, wie du sagst, dann sollte man es ihm aber doch schreiben«, meinte das Mädchen, plötzlich gerührt, und wieder kamen ihr Tränen. »Ich fürchte Bruno und hasse ihn, wenn er so wüst tut wie neulich im Garten. Aber ich habe ihn doch auch wieder lieb. Er ist ja mein Bruder, und vielleicht bessert er sich, wenn man ihm klarmacht, wie sehr er im Unrecht ist mit seinen Beschuldigungen.«

Valär fand diesen Vorschlag gut, und sie einigten sich, daß Dinah den Brief übernehmen solle.

 

Beinahe postwendend kam Brunos Antwort. Er schrieb:

Liebes Röstirösli!

Es wird immer mein Trost sein, daß du die Vortrefflichkeit in unserer Familie so unwiderstehlich verkörperst, neben mir räudigem Hund. Ich freue mich auch, daß Vater den Bonzen seinen Krach gemacht hat. In diesem Sinn danke ich dir für Deine Predigt. Aber an der Hauptsache segelt Dein Brief vorbei. Denn man kann im Ausland leben und doch Deutscher, Franzose oder Engländer bleiben. Viele halten es so, durch Generationen.

Warum hat Vater das nicht getan? Warum ist er in dieser Murmeltierhöhle untergekrochen, in der wüste Räuel wie unser Pfarrer die große Posaune blasen und prächtige Menschen wie Lüscher nur unbekannte Statisten sind? – Krach mit einer Obrigkeit ist kein Grund, um sich vom Vaterland loszulösen. Obrigkeiten und Regierungen wechseln. Das Vaterland bleibt, sagt Thornton, mit dem ich über diese Sache gesprochen habe. Frag einmal den Götti deswegen! –

Hier bringt jeder Tag etwas Neues. Vorgestern zum Beispiel haben wir eine Sau geschlachtet, Därme geputzt und Würste gemacht, und gestern hat die Kuh Weißbleß gekalbt. Ich habe als Hebamme fest mithelfen müssen. Das ist was anderes, als wenn droben auf Wartenweiler der Lehrer Kleinert fragt: ›Nun, lieber van Hoegstrad, sagen Sie mir einmal: Was ist das, ein Dogma?' . . . 74 Das Kalb kam ganz naß und verschlafen heraus, zuerst mit den Beinen. Wir haben um die Hufkehlen Stricke gebunden, und dann hieß es: ›Ho ruck!‹, bis es da war. Wir haben es mit Kleie bestreut, und dann hat die Alte es abgeschleckt. Dir wäre schön übel geworden! Wir waren aber auch alles nur Männer.

Bist Du immer noch blau?

Tschau!
Bruno 

Auf die Frage, über die Bruno in diesem Briefe gestolpert war, versuchte ihm anläßlich seines kurzen Weihnachtsbesuchs Valär unter vier Augen eine Antwort zu geben. Die Unterredung dauerte lang, war gründlich, und schließlich sagte Valär zu Bruno:

»Du darfst nicht glauben, daß dein Vater seinem Geburtsland leichten Herzens den Rücken zugekehrt habe. Als nach dem Weltkrieg das alte System zusammenbrach, hat er sich zwar entschädigt gefühlt. Aber als sie dann den Versailler Vertrag unterschrieben, die neuen Demokraten von drüben, da sind sie in seinen Augen doch beinahe Verbrecher gewesen, und er hat um das geschlagene Volk getrauert wie um ein Unglück, das ihn selber getroffen hat. Ich sage das, damit du begreifst, daß dein Vater sein Vatervolk nie vergessen hat. Aber die Form, die er als junger Mann wählte, um sein Ehrenrecht zu verteidigen gegen die Obrigkeit, ist offene Rebellion gewesen, Rebellion gegen die Staatsgewalt, und diese Rebellion ist ihn teuer genug zu stehen gekommen. Denn sie hat ihn zu einem staatenlosen Menschen gemacht. Ein Mensch kann aber in unserer zivilisierten Welt nicht staatenlos leben, so wenig, wie er nackt oder ohne einen Namen herumlaufen kann. Irgendwo muß er hingehören. Irgendwo muß er in einem Größeren wurzeln, muß in ihm einen Halt und eine Heimat haben, wenn er tätig ins Leben eingreifen will. Irgendwo muß er deswegen auch wieder Anschluß suchen, Anschluß an eine Gemeinschaft, die schon besteht und bereit ist, ihn als den ihrigen anzuerkennen. Dein Vater hat diesen Anschluß bei uns gesucht und gefunden. Dabei ist er zu einem großen Gewinn geworden für seine Gemeinde und für unser Volk. Denn dein Vater, so wenig er sich auch in öffentlichen Angelegenheiten bemerkbar macht, 75 gehört zu jenen Männern, von denen kein Volk viele verlieren kann, ohne daß es recht spürbar verarmt.«

Von dieser langen Aufklärungs- und Verteidigungsrede hatte alles mögliche bei Bruno eingeschlagen, am stärksten aber doch das Wort Rebell. Ein paarmal hatte er es nachgesprochen, leise, verwundert und wie im Traum: – es schien ihm zu schmecken und ihn doch auch ganz erbärmlich zu würgen. Dabei war er um die zusammengebissenen Lippen herum vor Erregung bald weiß geworden, bald rot, und zuletzt hatte er ratlos an sich hinuntergeblickt. Als Valär schwieg, siegte die Ratlosigkeit vollends, und ganz niedergeschmettert sagte er:

»Warum hat mir das niemand früher gesagt! Götti, das ändert ja vieles – das ändert ja alles!« – Bruno war nahe daran, vor Erregung zusammenzubrechen.

»Ja – was dachtest denn du?«

»Ich? – Nichts, was jetzt noch von Belang sein könnte«, erwiderte Bruno. »Ich habe mich nur gewundert, daß Vater seit Jahr und Tag sich und uns von diesem krummen Kirchenhund hat ankläffen lassen, ohne ihm eins auf die Schnauze zu geben, und ich habe schon gefürchtet, daß der Kirchenhund recht haben könnte, wenn er Vater wie ein Ungeziefer behandelt. Aber jetzt begreife ich, daß es Vater einfach zu wenig ist, sich mit ihm abzugeben.«

Bruno wandte sich plötzlich um, schlug beide Hände vor das Gesicht, und Valär hörte ihn mit einem Aufschluchzen sagen:

»Götti, wie ich mich schäme: vor ihm – vor dir – und vor mir – –.«

 


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