Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLI.

Auch Rosa ging mit einer pelzigen Zunge ins Bett. Der Tag war für sie nicht gut gewesen. Aber der folgende wurde noch schlimmer: Egli, ihr langer verstaubter Gehilfe, der längst zu einer unersetzlichen Kraft für sie geworden war, erschien nicht auf dem Büro; er, der nicht ein einziges Mal weder seinen Dienst versäumt noch sich verspätet hatte, blieb aus. Hatte er einen Unfall gehabt? War er erkrankt? Rosa ging ans Fenster und blickte hinaus. Egli kam nicht. Sie ging in den Garten und spähte die Straße hinunter. Von Egli war nichts zu sehen.

Als Egli auch um neun Uhr noch fehlte, telephonierte Rosa der Frau mit dem kleinen Milch‑, Butter- und Käseladen, bei der er wohnte.

Ach, Herr Egli! seufzte die Frau. Dieser stille vornehme Zimmerherr! Aus dem warmen Bett heraus sei er heute morgen verhaftet worden. Augenblicklich durchsuche man seine Habseligkeiten. Näheres wisse sie nicht.

Rosa wurde es ungemütlich. Egli war zwar der gewissenhafteste Buchhalter und Korrespondent, den sie sich denken konnte. Seine Ordnung war mustergültig und sein Interesse an einem vorteilhaften Gang ihrer Geschäfte bewundernswert. Aber schließlich hatte er doch einmal gesessen – er selbst hatte es ihr erzählt. Rosa hob daher abermals den Telephonhörer ab und bestellte sich bei der Treuhandgesellschaft einen Revisor zur sofortigen Nachprüfung der von Egli verwalteten Bücher. Im Anschluß daran telephonierte sie dem Rechtsanwalt Heß, daß er sich über die Gründe der Verhaftung Eglis geeigneten Ortes erkundigen möge. 410 Aber die Auskunft wurde verweigert. Vor Abschluß der Voruntersuchung könne darüber nichts mitgeteilt werden. Heß hatte ihr das sofort gesagt, aber sie hatte es nicht geglaubt, bis sie selbst von der Behörde mit dem gleichen Bescheid wieder heimgeschickt wurde. Noch viel ärgerlicher war, daß ohne vorherige Ankündigung auch auf ihrem Büro eine Fahndungsabteilung der Polizei erschien, um Eglis Arbeitspult zu durchsuchen. Das verdroß sie am meisten. Denn es war gerade ein Herr vom Gemeinderat zu einer Besprechung da, und diesem war der Herr Wachtmeister vom Fahndungsdienst sehr gut bekannt. Was würde man denken!

Erst zwei Wochen danach, als Rosa schon wußte, daß ihre Bücher und ihre Kasse vollkommen in Ordnung waren, erfuhr sie den wahren Sachverhalt, und zwar durch Egli persönlich; denn er stand mit einemmal wieder da, nicht frei von jeglicher Schuld, aber doch auf freien Fuß gesetzt bis zur Verhandlung.

Was er erzählte, war dieses:

In der Strafanstalt Bethalden saß seit fünf Jahren ein Mann, der von Zeit zu Zeit ein starkes Bedürfnis nach Veränderung hatte. In fast jeder Woche ging er deswegen aus, einmal für gewöhnlich, zuweilen auch öfter. Er saß zwar hinter einer Zellentüre, die nur von außen zu öffnen war; überdies war die Türe durch einen Riegel gesichert. Aber das störte den Insassen nicht, und wenn er wollte, so ging er. Kein Beamter der Anstalt war seiner Pflicht so vergessen, daß er ihm dabei geholfen hätte; man hatte von seinem Verschwinden in Wirklichkeit nie etwas bemerkt, hatte nie auch nur etwas Verdächtiges wahrgenommen.

In seiner Anstaltskleidung wäre der kleine schmächtige Mann nicht weit gekommen. Aber nur eine geringe Strecke von der Anstalt entfernt hatten verschiedene städtische Bauunternehmer ihre Schuppen und Lagerhäuser, und Hindernisse, um sie zu betreten, gab's keine. In einem dieser Schuppen hing für den kleinen Mann ein Mantel bereit, und den zog er an. Den Mantel hatte Egli dort aufgehängt, denn der Mann war seit vielen Jahren sein Freund. Auch ein Hut lag für ihn parat, und auch ein paar Handschuhe befanden sich in dem Mantel sowie stets etwas Geld.

Ostwärts von den Schuppen und Lagerhäusern fing nach wenigen 411 hundert Metern bereits die Vorstadt an, und in einem der äußersten Vorstadthäuser hatte Egli sein Domizil. Hierhin lenkte der Mann seine Schritte. Sie waren beide bei dem Notar und Grundbuchverwalter Kunz in Stellung gewesen und waren zusammen verurteilt worden. Das Urteil hatte sie getrennt, aber jetzt kamen sie wieder zusammen. Denn die Schlüssel zu Eglis Haus und Eglis Wohnung steckten ebenfalls in dem Mantel, der die Anstaltskleidung verdeckte. Diese Einrichtung hatte das Gute, daß der Besucher jederzeit ohne Schwierigkeit bei dem Freunde eintreten konnte. Einmal im Flur, war er aber auch schon am Ziel; denn Egli wohnte Parterre, und damit war die Gefahr einer unliebsamen Begegnung mit mißtrauischen Hausgenossen so gut wie behoben.

Gewöhnlich wollte der Freund noch etwas unternehmen, was er sich in der Anstalt nicht leisten konnte – deswegen war er ja da, das begreift jeder. Er zog sich also um, machte sich nicht zu fein, aber auch nicht zu schäbig, und dann gingen sie zusammen aus. Sie bestiegen das Tram und fuhren nach der Innenstadt, tranken irgendwo ein Glas Wein oder ein paar Gläser Bier oder auch beides und besprachen mit andern Gästen dieses und jenes Ereignis. Denn für ein Kino war es in der Regel zu spät, weil der Freund nicht früh genug abkommen konnte. Manchmal konnten sie aber doch noch für die zweite Hälfte des Abends dort untertauchen. In langen Gesprächen, die sie sehr in Anspruch nahmen, versuchten sie später die erste Hälfte des Films zu rekonstruieren, und das war von allem beinahe das Schönste. Mitunter ging der Freund auch zu einer Frau oder hatte sonst etwas zu tun, wovon zwischen ihnen niemals gesprochen wurde. Dann verschwand er allein in der Stadt; Egli blieb zu Hause. In eine Bar oder in andere unsolide Lokale gingen sie nie. Den Heimweg legten sie grundsätzlich immer zu Fuß zurück. Der Freund zog sich wieder um, und zu gegebener Zeit machte er sich davon, um in seinem Bau den Morgenappell nicht zu versäumen.

Noch lieber war es Egli, wenn sie es sich, anstatt auszugehen, bei ihm auf seinem Zimmer gemütlich machten. Dann tranken sie Flaschenwein, den allerfeinsten, der sich auftreiben ließ, aßen ein kaltes gebratenes Hühnchen und andere Delikatessen dazu, 412 rauchten gute Zigarren, und konnten sich das alles auch leisten.

Denn Egli machte Geschäfte für sie – Geschäfte, die in den meisten Fällen gewinnbringend waren.

Das Anfangskapital dazu hatte der Freund auf sehr einfache Weise beschafft: als der Notar, bei dem sie zusammen in Stellung gewesen waren, in den Ferien weilte, machte der Freund in dessen Büro einen Nachtbesuch. Er versah ein Kaufbriefformular, von denen er ja wußte, wo sie aufbewahrt wurden, mit den nötigen Stempeln und Stempelmarken, und nachdem er sich auch der Katasternummer eines gewissen städtischen Grundstücks vergewissert hatte, war es so weit, daß er im intimsten Kreis als Brasilianer auftreten und dieses Grundstück einer gewissen Frau Ellegast gegen eine Anzahlung von fünftausend Franken als Bauplatz verkaufen konnte. Egli, der behauptete, daß er damals nicht wußte, woher das Geld stammte, das ihm der Freund zur Versorgung übergab, hatte damit spekuliert, und zwar hatte er unter gewissen Börsengeschäften, die Rosa, seine Brotherrin, machte, einige so vorbildlich gefunden, daß es ein Jammer gewesen wäre, wenn niemand von dem Vorbild Gebrauch gemacht hätte. Nachdem das Anfangskapital auf diese Weise schließlich mehr als verdoppelt war, hatte der Freund das Geld der Spenderin mit bestem Dank wieder zurückerstattet. Rosa war fast bis zu Tränen gerührt, als Egli behauptete, auch für dieses Verhalten habe sie mit ihren Hypothekenrückgaben als Vorbild gedient.

Nun hatte aber, so berichtete Egli weiter, gerade an diesem Ehren- und Freudentag, der auch für die Engel im Himmel vermutlich ein solcher war, der Freund von seinem Zuhause nicht so zeitig abkommen können, wie er gewollt; es war sogar außergewöhnlich spät geworden, so daß alle Wirtschaften schon geschlossen waren. Auch der häusliche Weinvorrat war aufgebraucht und nicht rechtzeitig erneuert worden. Womit sollten sie das Fest also feiern?

Aber der Freund sagte nur: »Das macht nichts. Ich geh schnell ins Gotthelfbrünneli. Dort gibt's immer etwas. Hopp, gib mir ein Zwanzigernötli. Niemand soll sagen, ich hätte mich lumpen lassen. 413

»Zieh wenigstens die Gummihandschuhe an«, habe er ihm warnend erwidert.

»Nicht nötig. Ich sitze ja«, habe der Freund überlegen zurückgegeben und sei verschwunden.

Nach einer Weile kam er mit zwei wirklich ausgesucht guten Flaschen zurück und mit einer prächtigen Mailänder Salami. Aber den Rat wegen der Gummihandschuhe hätte er doch lieber befolgen sollen. Denn das Verschwinden der großen Wurst und des Weines wurde entdeckt und von deren Besitzer, trotz der Zwanzigernote, so übel genommen, daß er zum Kadi lief. Auf Grund des Fingerabdruckverfahrens konnte auch der Täter in Kürze ermittelt werden. Da sich aber gleichzeitig ergab, daß der vermeintliche Sünder sich hinter Schloß und Riegel befand, entstand im gesamten Polizeidepartement eine große Verwirrung, und diese breitete sich allmählich über sämtliche Stellen des Geheimen Erkennungsdienstes im Lande aus. Denn wenn der Inhaber der vorgefundenen Fingerbeerenmuster wohlverwahrt in einer Strafanstalt saß, konnte er unmöglich der Täter sein. Wenn er aber nicht der Täter war, so mußte das ihm eigene Fingerbeerenmuster ein zweites Mal existieren, und wenn es ein zweites Mal existierte, so mußte an der absoluten Beweiskraft des daktyloskopischen Ermittlungsverfahrens gezweifelt werden. Denn dieses war aufgebaut auf der Ueberzeugung, daß das Faltenmuster der Fingerbeeren eines beliebigen Menschen etwas durchaus Einmaliges und Persönliches sei und niemals vollständig übereinstimme mit dem eines andern.

Wie viele amtliche Schreiben und Sachverständigenkonferenzen diese Entdeckung verschuldet habe, sei unbekannt, berichtete Egli. Und die Konferenzen, meinte er, dauerten vielleicht immer noch an, hätte nicht der Freund vor drei Wochen sich selbst verraten.

Eines Morgens, als er auf dem Heimweg war, sei ihm nämlich eingefallen, daß einer seiner Mitgefangenen heute Geburtstag habe und daß er vergessen habe, um ein Geschenk für ihn besorgt zu sein. Der Freund sei daher in seinem Mantel wieder ein Stück stadtwärts gegangen, zu einem Kiosk, habe fünf Franken innen auf das Zahlbrett gelegt und sich mit Rauchwaren und Schokolade 414 in ungefähr diesem Wert eingedeckt. Wieder wurden Fingerabdrücke gefunden, und wieder gehörten sie einem Mann, der in der Strafanstalt saß, und zwar demselben wie früher.

Von nun an habe man in der Anstalt einen besonderen Späherdienst eingerichtet. Und als man den Freund nächtlicherweile seine Zelle verlassen sah, habe man ihn ruhig weggehen lassen und sei ihm überallhin unauffällig gefolgt. Als der Freund dann die Anstalt wieder betreten wollte, habe man ihn geschnappt, und eine Weile später habe man auch ihn, Egli, verhaftet.

»Aber, Mensch, wie hat denn der Bursche alle Türen öffnen und wieder schließen können?« fragte Rosa entgeistert.

Er habe sich die von den Wärtern benutzten Schlüssel so lange angesehen, bis er ihre Form bis ins einzelne kannte. In der Schreinerei, wo er beschäftigt war, habe er sie dann mit den dort vorhandenen Instrumenten in monatelanger Kleinarbeit aus Holzstückchen nachgemacht. Schlüssel aus Holz machten kein Geräusch. Das sei das ganze Geheimnis.

»Aber wenn seine eigene Zellentüre von innen her gar nicht zu öffnen war?«

Den nötigen Zugang habe er sich gebohrt und das Loch bei Nichtgebrauch in passender Weise wieder verschlossen.

Rosa dachte angestrengt nach. Schließlich sagte sie:

»Sie werden nicht erwarten, daß ich Sie lobe, Sir.«

Egli kicherte leise in sich hinein.

»Ich bin ein so geringes Notstandsprodukt, daß ich schon froh sein muß, wenn – –.«

»Sie sind ein treuer Freund«, fiel ihm Rosa ins Wort. »Wenn ich bedenke, an was für nichtsnutzige Menschen ich schon mein Geld und meine Gedanken habe verschwenden müssen und noch immer verschwenden muß – – nein, nicht jeder ist zu solcher Ergebenheit fähig.«

»In unseren Kreisen hilft jeder dem andern. Dabei ist gar nichts. Wie sollten wir uns denn wehren?«

»Sie wollen nicht, daß es Treue ist?«

»Ich will nur sagen, daß ab und zu jeder ein wenig Luft haben möchte, auch wenn er in den Augen der Gesellschaft ein 415 Auswurf ist. Da wartet man eben, bis niemand hersieht, und dann greift man ein. Denn dieser bittere Hunger nach Luft, das ist etwas, was wir verstehen. Also verschafft man sie ihm.«

Rosa schüttelte ihr Haar. Dann ging sie zum Fenster und blickte hinaus.

»Sie haben sehr gut erzählt«, sagte sie schließlich, ohne sich umzuwenden. »Ich habe sogar den Eindruck gewonnen, daß Sie sich Ihr Leben recht spannend einzurichten verstehen, und daß Sie gar nicht unglücklich sind an dem Platz, an dem Sie gelandet sind.«

»Ich steh' an dem Platz, an den mich das Schicksal hingestellt hat«, erwiderte Egli mit leichtem, beinahe vergnügtem Hüsteln. »Und ich habe mich an ihm eingerichtet, so gut es geht: – auf Notstand, Grau und kleine Unredlichkeiten. An einem andern Platz ist der Boden fett. Vielleicht ist dort besser sein. An meinem Standort weht ein staubiger Wind, und wer sich nicht auf ihn einstellt, kommt in ihm um.«

Rosa wandte sich wieder dem Zimmer zu.

»Wenn ich nun sagen würde, daß Sie entlassen sind?«

»Dann würde das ebenfalls zu meinem Schicksal gehören und zu meinem Wind«, entgegnete Egli mit dem gleichen leisen Gekicher wie vorher schon, »und weiter wäre kein Wort zu sagen.«

»Sie würden mich nicht bitten, Sie zu behalten?«

»Ich würde es vielleicht innerlich tun, weil ich es bei Ihnen gut gehabt habe. Aber ich würde es nicht wagen, Ihre Seelenruhe dadurch zu stören, daß ich so etwas sage.«

»Auch wenn Sie hungern müßten?«

»Ich täte mich woanders nach Arbeit um«, sagte er leise. »Außerdem hätte ich ja ein kleines Kapital, das mir über die erste Zeit hinweghelfen würde.«

»Sogar Kapital?«

»Na, ein paar tausend. Aus den Börsengeschäften. Er hat ein paar tausend, und ich habe ebensoviel. Wir haben immer redlich geteilt.«

Rosa ging zu ihrem Arbeitstisch und setzte sich wieder. 416

»Jaja!« sagte sie. »Ich hatte eben vorgehabt, vom nächsten Quartal an Ihr Gehalt zu erhöhen. Da kam diese Geschichte. Und nun liegt es ja geradezu in Ihrer Hand, ob davon auch an mir etwas hängenbleibt oder nicht.«

Egli wehrte sich.

»Ich habe die bestehende Schicksalsordnung nie anzutasten versucht, indem ich das Nest meines Brotherrn verunreinigt hätte.«

»So dramatisch möchte ich meine Bemerkung nicht aufgefaßt wissen. Aber es wäre ja möglich«, fuhr Rosa interessiert weiter, »daß man von Ihnen gewisse Auskünfte wollte – zum Beispiel, was für Geschäfte das waren, die Ihnen als Vorbild dienten bei Ihren Spekulationen.«

»Man hat danach gefragt. Aber in dieser Art habe ich nicht an mir herumfingern lassen.«

»Wirklich? Was sagten Sie denn?«

»Ich habe unter Berufung auf das Geschäftsgeheimnis die Auskunft verweigert.«

»Und Ihre Belege daheim? Man hat doch alles bei Ihnen durchsucht?«

»Die waren schon längst in den Ofen gewandert.«

»Dann wird es das Beste sein, wenn Sie sofort an die Arbeit gehen, bis der Staatsanwalt mich für eine Weile Ihrer beraubt. . . . Ueber Ihr zukünftiges Gehalt sprechen wir später.«

Rosa nickte ihm zu, sprach aber bereits im Ton des Befehls und griff nach ihren Papieren.

In diesem Augenblick schnurrte die Telephonrassel. Am Apparat war der Rechtsanwalt Heß.

 


 << zurück weiter >>