Ernst Kossak
Historietten
Ernst Kossak

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Die Mauerritzen vor dem Thore.

Eine Sommerwohnung um jeden Preis! Das ist das Ultimatum der meisten Frauen am Anfange des Mai's. Eine Sommerwohnung um jeden Preis – der vierzig Thaler nicht übersteigen darf. Diese vierzig Thaler stehen an der Polargrenze der Sommerwohnungen mit den Gesichtern nach den Wendekreisen der anständig gemäßigten Zone; man kann sie unter eine Kategorie – der Mauerritzen vor dem Thore zusammenfassen.

Um deutlich zu machen, welche Excesse in diesem Gebiete begangen werden können, muß man mit der untersten Klasse der Sommerwohnungen anfangen. Leute aus der Stadt, die sich nie so weit herabgelassen haben, an einem dieser Orte ihren Sommer zuzubringen, Leute, die Abends nach gemachtem Spaziergange ihr Abendessen in einem eleganten öffentlichen Garten verzehren, wissen gar nicht, an was für Orten der mit Sommerwohnungsmanie behaftete unglückliche Mensch hausen kann. An solchen Orten gebehrdet sich selbst der Sommer, dieser grundgütige Herr, der Jedem etwas in den Hut wirft, wie ein verdrießlicher englischer Reisender, nimmt nirgends Platz, rümpft überall die Nase und bleibt lieber im Freien, ehe er seine werthe Persönlichkeit in derartigen Kümmernissen unterbringt und seine sofortige Degradirung in irgend eine schlechtere Jahreszeit wagt. Die Mauerritze der untersten Klasse genießt nie den wohlthätigen Sonnenschein. Das einzige Fenster, über das sie disponiren kann, geht auf Pferdeställe hinaus, deren Hauptreize in den glücklichen Lichteffekten beruhen, die von den Strahlen der untergehenden Sonne auf ihren Dächern gebildet werden. Rechts und links beobachten zwei kolossale Brandmauern ein chinesisch-russisches Absperrungssystem. Neben dem Fenster der sommerlichen Mauerritze gähnt vor dem Hause ein tiefer Abgrund. Er wird nicht von der Mistgrube gebildet, denn diese ist etwas weiter und näher an den Pferdeställen 8 gelegen, sondern von einer eingegrabenen Tonne zum Auffangen des Regenwassers für die Herren Domestiquen im Vorderhause und in den Stallungen. Der erste Sterbliche, der diese Tonne eingrub, hatte schon eine Ahnung von der Bedeutung, die sie im Laufe der Jahre gewinnen sollte. Man kann nämlich, vor dieser Tonne stehend, Alles sehen, was in der Mauerritze geschieht. Die Kutscherfrauen und Bedientendamen sind deshalb unaufhörlich mit dem Schöpfen von Regenwasser beschäftigt, so unwahrscheinlich an und für sich auch diese ewige große Wäsche jedem unparteiischen Kenner von Reinigungsangelegenheiten vorkommen mag. Links, neben dem Eingange und unter seinem Fenster besitzt der Sommerbewohner der Mauerritze ein kleines Beet zu Lehen, ihm vom Vermiether feierlich durch einen großen Lehensakt für den Sommer überlassen. Die unvermeidliche Kresse, ein eingesetztes Monatsrosenstöckchen und der hartnäckige und zähe türkische Weizen theilen sich in die vegetativen Kräfte dieses traurigen Stückchens Erde und wachsen gegen das Ende des Sommers allmälig bis an das Fenster empor, wie unheilbar kranke Kinder, die man in der sicheren Voraussicht ihres Todes doch so zärtlich verpflegt, als ob sie die Stütze unseres Alters werden sollten. Oft sterben sie aber auch vorzeitig eines gewaltsamen Todes durch die Gefräßigkeit des Hammels, der als Spielgefährte und Vertrauter der Kutscherkinder allen Willen genießt.

In so beschaffenen Mauerritzen wohnen immer Leute mit wankender Gesundheit und schwindsüchtiger Kasse, arme Leute, denen die Aerzte geboten haben, zur Erhaltung ihres Lebens, an dem gesunden Tisch der Sommerluft Theil zu nehmen, Morgenfrische zu trinken, in Schattenkühle zu baden und fern vom Getreibe des Weltlärms zu wohnen, Leute, für die eine Sommerwohnung nur der Hausflur des Grabes ist. Noch ist es keinem Staate eingefallen, Sommerhospitäler für seine unglücklichsten, hoffnungslosen Angehörigen einzurichten. Hier wohnt ein überarbeiteter kleiner Beamter, oder eine junge schwindsüchtige 9 Mutter mit ihrem einzigen Kinde. Allein wie in jedem Menschen noch Etwas ist, worauf das Auge mit Behagen haften kann, so hat auch jede Sommerwohnung ihren Rest Poesie. Neben den Pferdeställen öffnet sich eine Spalte, nicht breiter als die ganze Mauerritze, mit der Aussicht auf eine grüne Wiese.

Auf ihr weilt, wie auf einem Firmament des Sommers, das Auge des armen Bewohners. Wenn die ersten Maiblumen auf dem Grase erscheinen, wenn der Regen das junge Grün erfrischt hat, wenn die Schnitter Heu machen, wenn der Teppich dann seine Pracht wieder herstellt, giebt es ebenso viele Festtage und Fernblicke. Und darum sind sie nicht ärmer als alle Sterblichen, denn der Menschen Bewußtsein ist Fernblick in die Vergangenheit und Zukunft, ihre Gegenwart aber nicht besser als Pferdestall, Wassertonne und hohe schreckliche Brandmauern. Wären nur nicht noch die Fliegen in der Mauerritze. Sie machen es sich bequem, trotz der Schattenseite. Nur die Anfänger in den Naturwissenschaften sind nämlich noch der kindischen Ansicht, daß die Fliege sich wie der Adler, des Blickes in die Sonne vorzugsweise erfreue; die Fliege liebt den Schatten wie der Mensch. Am gemüthlichsten und anhänglichsten zeigt sich aber ihr Naturell, wenn sie bei einem unglücklichen Sommergaste eingezogen ist. Wenn Alle ihn verlassen haben, bleibt sie bei ihm, sie verharrt wie der Hund des Armen selbst bei seiner Leiche. Morgens weckt sie ihn aus dem süßesten Schlummer, sie prüft mit ihren zierlichen Füßen, ob der Kaffee nicht zu heiß, ob der Zucker hinlänglich süß, ob die Semmel nicht zu fett geschmiert sei. Sie ißt mit ihm Mittags aus einer Schüssel, sie leidet nicht, daß er nach Tische sich dem schädlichen Schlafe hingiebt, sie umgaukelt ihn auf seinen Spaziergängen, sie erhält ihn endlich Abends so lange als möglich munter, ehe sie selbst zur Ruhe geht und ihn ihrer Freundin, der Mücke, empfiehlt, die mit zartem lang ausgesponnenen Gesäusel um sein müdes Haupt schwebt, und seine Haut als ein Album betrachtet, um die 10 Nachtgedanken der talentvollen Insekten darein zu schreiben. Ergreift der gegen so viele Freundschaft undankbare Mensch die Klappe der Vernichtung, so weiß sie scherzend und neckisch auszuweichen, stellt er den bitteren Trank der Quassia auf, so naschen nur die Nachgebornen des geflügelten Geschlechts davon, eine alte erfahrene Fliege vermeidet den Todtenkopf des Fliegenpapiers und den noch schändlicheren Fliegenleim, diese grausamste Todesart eines anmuthigen Zweiflüglergeschlechts. Die alte Fliege der Sommerwohnung ist durch nichts abzuschrecken; sie ist ein unvermeidliches Uebel wie der Tod und – die Geburt.

Nicht Jeder erleidet in der bescheidensten Art von Sommerwohnungen all dieses aufgezählte Unglück; es giebt Bewohner von Mauerritzen, mit denen auch der gefühlvollste Studiosus der menschlichen Zustände kein Mitleid empfinden kann, sondern vielmehr über sie in namenlose Wuth geräth.

Ein alter Rentier mit fünfhundert Thalern jährlicher Einnahme bezieht in jedem Jahre eine Mauerritze. Seit zwanzig Jahren hat kein anderer Mensch darin gewohnt, die verfallenen Möbel bleiben den Winter über darin, die Sommerpfeife wird mit jedem Frühling wieder zur Hand genommen, derselbe uralte Sommerrock wieder angezogen, dasselbe heillose verrunzelte Gesicht wieder zum Fenster hinausgesteckt. Der alte Rentier ist trotz seiner Mauerritze in dem Bezirk des ganzen Grundstückes die wichtigste Person; er ist Vicewirth. Der eigentliche Herr wohnt in der Stadt und kommt nie heraus; er verachtet die Leidenschaft des Menschen für Sommerwohnungen als eine alberne Schwäche, wie die Neigung, sich satt zu essen, das Gesicht zu waschen, die Nägel abzuschneiden und reine Wäsche anzulegen. Er thut für sich und seine Häuser nicht eher etwas, als bis ihm das Dach über dem Kopfe und das Hemde auf dem Leibe in Stücken geht. Aus diesem Grunde braucht er einen Vielgetreuen, und dieser Vielgetreue ist der alte Rentier, der umsonst in der Mauerritze wohnende Vicewirth. Seiner Beobachtung ist 11 ein halbes Dutzend Familien anvertraut, Familien mit Kindern! Der alte Rentier weiß weder, wie einem Familienmitgliede, noch wie einem Kinde zu Muthe ist, er selbst ist nämlich, beglaubigten Nachrichten zufolge, gleich als »der alte Rentier« zur Welt gekommen, hat seiner Amme mit der Tabackspfeife in die Zähne gestoßen und ist unmittelbar darauf in die Mauerritze gezogen, um seinen Lebenslauf zu erfüllen, der darin besteht, anderen Menschen Lust und Freude am Leben zu vergällen. Sein erster Blick am Morgen gilt der Sonne, doch würde man irren, wollte man daraus auf ein Wohlgefallen an dem schönen Stern schließen; er berechnet nur das Wetter für den Tag und ob die Kinder heute im Garten spielen werden. Dann füttert er den alten Dompfaffen, einen widerwärtigen Kerl, trotz ihm selber, einäugig und mit abschreckender Physiognomie, der in seiner Jugend einmal weggeflogen war, aber am andern Tage freiwillig wiederkam, weil er sich mit keinem anderen Vogel vertragen konnte. Nun beginnt des Herrn Tagewerk. An allen Sommerwohnungen geht er vorüber und wünscht mit einem Gesicht, das die Einwohner betrachten, wie nicht assekurirte Aecker ein aufsteigendes Hagelwetter, »allerseits einen schönsten guten Morgen!« Er weiß seine täglichen Glückwünsche so gewandt einzurichten, daß er jedesmal wenigstens eine Person bis auf den Tod erschreckt, bald den Hausherrn, wenn er sich rasirt, bald die Hausfrau, wenn sie vor dem Spiegel steht, bald das kleine Kind, wenn es die volle Milchtasse zum Munde führt. Dann geht er den Vormittag über im Garten umher und sieht alle Kinder mit dem bösen Blick an. So gewiß ist die Thatsache, daß auf diesem Complexus von Sommerwohnungen die kleineren zarteren Kinder immer kränkeln und sich nie aus der Stube zu gehen trauen. Nachdem er in seiner Mauerritze – kein Mensch weiß was – zu Mittag gespeist hat, vergnügt er sich nach Tisch, Bettelleute aus dem Garten zu jagen, Jungen mit Blumenbouquets oder großen Waldhörnern abzuknuffen, Leierkästen zu verscheuchen, kleine 12 Mädchen mit Kornblumen anzubrüllen, Kuchenfrauen anzudonnern. Hat er zu allen diesen Vergnügungen keine Gelegenheit, weichen ihm die Gemißhandelten endlich für einige Tage aus, so stellt er sich wenigstens an die Gartenthür und droht ihnen von Weitem mit seinem kurzen und verschmirgelten Weichselrohr. Dann durchstreift er wieder den Garten, und sieht nach, was die Miether zum Abendbrod essen, wer Besuch hat, ob ein Kind eine Blume abgerissen und ob Jemand einen Hund mitgebracht hat. Ist Letzteres der Fall, so genießt er den Silberblick seines Lebens. Mit ihrem unnachahmlichen Instinkt errathen die Hunde sowohl, ob sie sich an irgend einem Orte contractwidrig befinden, als auch, wer ihnen wohl oder übel will. So wie sie den alten Rentier sehen, bemächtigt sich ihrer eine unermeßliche Niedergeschlagenheit; ihr richtiger Takt sagt ihnen, daß er in seinem verbrieften Recht sei und ein erbarmungsloses Herz habe. Sie sehen jammervoll ihre Herren an, sie winseln, sie suchen sich unter Damenkleidern zu verbergen – vergebens! Der alte Rentier setzt mit teuflischem Grimme die Contractbedingungen auseinander, spickt sie mit Argumenten und dringt auf sofortige Exmission der Importirten. Es muß nachgegeben werden. Cane Moppelino riecht den Braten und beeilt sich, gesenkten Schwanzes die Gartenthür zu erreichen, aber der Vicewirth kennt einen ganz nahen Richtweg und Moppelino erhält im Augenblick seines Entweichens einen Hieb mit dem Weichselrohr, den er zu den unvergeßlichsten Erinnerungen seines Lebens rechnet. Der alte Rentier in seiner Mauerritze wird deßhalb, wie ein nicht zu vertreibendes bösartiges Ungeziefer von der ganzen Nachbarschaft betrachtet.

Die anmuthigste Gestalt nehmen die Mauerritzen an, wenn sie wie Bienenzellen nur Theile eines großen Sommerstaates sind, wenn jeder Mauerritze auch eine kleine schattige Laube entspricht und eine niedliche schattige Wiese Gemeingut Aller ist. Unter so glücklichen Bedingungen entwickelt sich ein anmuthiger Communismus 13 zwischen den mit geringen Glücksgütern gesegneten, aber zufriedenen Familien. Die Hausväter kommen Abends zusammen hinaus, die Hausfrauen haben das Abendessen gemeinschaftlich servirt, man spielt, man plaudert vor Schlafengehen, man sieht das Feuerwerk in dem öffentlichen Garten des Nachbarn, über den Zaun, von der Kehrseite an, man hilft sich in Verlegenheiten des Haushaltes; man entwickelt, mit kurzen Worten, die angenehmen Seiten des Menschen, wie sie auch zur Zeit der aufstrebenden Vegetation vorzugsweise rasch zur Blüthe kommen. Man irrt sich nicht, wenn man diese kleinen Gemeinden, falls der Zufall wohlwollende und sanfte Naturen zusammengewürfelt hat, unter die schönsten und segensreichsten Formen der Sommerwohnungen rechnet. Die Kranken genesen, die Gesunden erstarken, die Kinder gedeihen und der Sinn für einfache Freuden wächst in den Herzen wie ein junger kräftiger Sprößling empor.


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