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Jede Stadt von einiger Bedeutung hat ihre Doctoren, die zweispännig, einspännig und als Infanterie des Asklepios, den großen und kleinen Krieg gegen Tod und Krankheit führen, aber nur Wenige unter ihnen arbeiten sich zum Range eines Feldherrn der Medicin in die Höhe. In der Kunst, Wunden zu schlagen und sie zu heilen, waltet auf gleiche Weise das blinde Glück. Man kann mit dem Talente eines Türenne Lieutenant, und mit den Gaben eines Heim Unterarzt in einem Lazareth, Privatdocent und Laufdoctor bleiben. Freilich giebt es eine Art, das Glück zu corrigiren, doch mehr als einmal haben wir die sieben ächten Bücher der unsterblichen Aphorismen des Hippokrates, und selbst die Sammlung der falschen gelesen, aus denen Schiller sein Motto zu den Räubern entlehnte, ohne den wichtigsten Lehrsatz für einen ehrgeizigen Arzt zu finden. Hippocrates allerdings schrieb nur zum Besten der Kranken und nicht der Doctoren, wie schon aus den Nachrichten der Alten hervorgeht, daß sein Ruf nach seinem Tode bedeutender gewesen sei, als bei seinen Lebzeiten. Der Größte der Aerzte verstand noch nicht die Kunst, ein großer Arzt zu werden; er war es und dachte darum nicht daran, es scheinen zu wollen. Erst der neuesten Zeit blieb es vorbehalten, eine Gattung Männer zu erzeugen, die sich weder durch ihre Schriften, noch durch ihre Kuren ausgezeichnet haben und doch für große Aerzte 123 gehalten werden. Um der jüngeren Generation, zumal der Heilbeflissenen, einen Fingerzeig für ihr Gedeihen in dieser sonderbar zusammengesetzten und wunderlich gearteten Welt zu geben, die wir »unsere Zeit« nennen, haben wir diese, auf jahrelange Beobachtungen gestützten Bemerkungen niedergeschrieben und in das Bild des »großen Arztes« eingerahmt, wie er vielleicht irgendwo existirt, denn auch der Principe des Macchiavelli war nicht ganz ein Werk der combinatorischen Phantasie seines Urhebers, sondern ein wirklicher Cesar Borgia, das Muster des politischen, wie unser Arzt der Mann des medicinischen Scheines.
Der große Arzt hat nichts gemein mit den kleinen Doctoren, gleichsam den Vicaren des Arzneicultus; er gleicht den englischen Bischöfen, die sich nur mit den wichtigsten Angelegenheiten der Kirche beschäftigen, den größten Theil der Einnahmen verzehren, und die Sorge für die Gemeindemitglieder den weniger begünstigten Individuen ihrer Gilde überlassen. Fern von dem hastigen Durcheinander klappriger Doctorwagen, den confusen Consultationen in schlechtem Latein, den spärlichen Jahreshonoraren, und unbehelligt vom nächtlichen Herausklopfen sitzt der große Arzt in seinem Studirzimmer und lauert wie der Ameisenlöwe, was das Schicksal in seine Grube hinabrollen lassen wird. Wie Franz Moor ausrief: »ich bin kein gemeiner Mörder, ich habe mich nie mit Kleinigkeiten abgegeben,« sagt er zu sich selber: »ich nehme keine regelmäßige Praxis an, ich spare mich für die verwickelten Fälle der Menschheit auf, für die Momente, wo es an einem Haare hängt, ob die Aufführung des Daseins ein Lustspiel oder ein Trauerspiel heißen soll. Ich warte, bis die Kunst meiner Collegen erschöpft ist, gelingt es mir dann den Kranken zu heilen, so ist die Ehre mein, so haben sie allein die Schande davon!« Ohne diese Philosophie schwingt man sich nie zu einem großen Arzte empor. Man mag sich mit dem Tode täglich in allen Gestalten umherbalgen, man bleibt eben darum der 124 gemeine Soldat der Medicin; aus sicherer Ferne dem Kampfe zuzuschauen, charakterisirt den Oberbefehlshaber.
Der blinde Autoritätsglaube der Kranken und Doctoren mästet den großen Arzt. Er wird gerufen, wenn das Leben seinen Proceß in allen früheren Instanzen verloren hat. Soll er aber kommen, so ist eine genaue Bezeichnung des Standes ebenso nothwendig, als die der Wohnung. Nur weil sie seiner eigenen Behausung näher liegen, besucht er wohlhabende Stadttheile, ohne zweimal dazu aufgefordert zu sein. Mit ernster strenger Haltung betritt er das Krankenzimmer, sein Gesicht hat durch lange Selbstbeherrschung einen lapidarischen Charakter angenommen: Hals und Kinn steckt er wie der vorsichtige Talleyrand, der die Muskeln um die Unterlippe als die ärgsten Verräther ironischer Gedanken kannte, in eine steife weiße Halsbinde. Die erste Begegnung mit der Umgebung des Kranken zeichnet sich durch ungeheure Grobheit aus. Welches Standes und Vermögens die Familie des Kranken auch sein mag; sie muß einsehen lernen, daß hier ein seltener Mann nur mit äußerstem Widerwillen einen Theil seiner über Alles kostbaren Zeit opfert. Diamant und Perle stecken beide in einer rauhen Hülle. Er fixirt lange den Leidenden, und unbemerkt das Mobiliar, die Teppiche, die Gardinen, die Wandgemälde. Hierauf stellt er ein unermeßlich weitschichtiges Krankenexamen an, welches dem Leidenden und seinen Angehörigen eine ferne Perspective auf alle möglichen Uebel des menschlichen Geschlechts eröffnet. Wenn er sich überzeugt hat, daß nicht Nahrungssorgen oder verfehlte Börsenspeculationen einen Mitantheil an der Krankheit haben, erhebt er sich und sagt mit etwas freundlicheren Mienen: »Ich bin über den Sitz des Uebels noch nicht mit mir einig, ich werde wiederkommen.« Dann entfernt er sich, ein Gebrumm von »Adieu« und »Morgen« ausstoßend. Durch diese unübertreffliche Taktik ist Alles gewonnen und der arme Hausarzt in den tiefsten Pfuhl der Mißachtung hinabgestürzt. Der berühmte Mann ist noch nicht mit sich einig geworden – er wird zu Hause 125 nachdenken – wiederkommen – ja, man sieht klar: wahre Größe ist stets bescheiden. Es wird seinem Honorar in Gedanken schon ein Doppelfriedrichsd'or zugelegt. Sehr pünktlich erscheint der große Arzt am nächsten Morgen wieder. Er hat nachgedacht und gefunden, daß er trotz den Quacksalbern auf den alten holländischen Bildern, das Wasser des Kranken sehen – ist dieser ein sehr wohlhabender Mann – sogar chemisch untersuchen müsse. Solche Gründlichkeit ist noch nicht dagewesen; man beginnt für ihn zu schwärmen; man erklärt ihn für den ersten der Sterblichen und der Bediente muß des Doctors Oberrock am Ofen wärmen und im Vorzimmer mit Hut und Stock auf ihn warten.
Gegen die regulären Aerzte befleißigt sich der berühmte Mann eines kolossalen Hochmuthes;»wir wollen ja sehen,« ist Alles, was er, mit halbgeschlossenen Augen zur Erde blickend, und mit dem Stock imaginaire Buchstaben auf den Fußboden malend, auf ihre Berichte erwiedert. Da man ihn stets nur in den schlimmsten Lagen ruft, so befolgt er meistens die weise Theorie, alle Arzneimittel auszusetzen und die entgegengesetzte Diät der vom Hausarzte angeordneten befolgen zu lassen. Sehr oft wird dadurch der Anschein einer momentanen Besserung bewirkt und der Kranke triumphirt. Kommen nun die hinkenden Boten nach, so nimmt der große Arzt die Familie bei Seite und murmelt mit düsterer Stimme: »Sie haben mich zu spät gerufen, Alles hätte gut werden können, wenn nicht . . .« Dann geht er und überläßt mit tückisch mitleidigem Lächeln dem Hausarzte die Besorgung der wissenschaftlichen Exequien mit Morphin und Moschus; er wäscht wie Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld und wiegt die Goldstücke seines Honorares auf den Fingerspitzen. In der Diagnose ihrer Krankheitszustände findet er seines Gleichen nicht auf Erden. Angenehmer ist es ihm freilich, wenn sein Patient durch das Wohlwollen der Natur am Leben bleibt. Dann bittet er wohl, Satelliten von jüngeren Aerzten mitbringen und ihnen den wunderbarsten aller Fälle vorlegen zu 126 dürfen. Diese Aerzte sind die papiernen Trompeten seines Ruhmes im Auslande und seine Markthelfer in der Stadt.
Wenn der große Arzt sich anfangs weigert, einen Kranken zu besuchen, weil seine Zeit es ihm nicht gestattet, so pflegt dieser Kranke stets sehr reich zu sein. Es ist ungemein scharfsinnig von ihm, bereitwilliger einen ärmeren Patienten zu besuchen. Fremden Nationalitäten pflegt er durch seine Kunstgriffe zu imponiren, um ihre Zahlungslust zu schärfen. Den Polen kann er heute nicht besuchen, weil er bei einem polnischen Prinzen zum Diner eingeladen ist, den Italiener nicht, weil er sofort brieflich dem Arzte eines Cardinals antworten muß, den Franzosen nicht, weil der Gesandte ihn rufen ließ. Seine Mittel pflegen entweder sehr einfach oder sehr excentrisch zu sein. Verordnet er Bäder, so sind es stets die wunderlichsten und entlegensten. Reiche schickt er nach Vichy oder Pisa, nach einem tollen ungarischen Bade, oder in irgend ein kurioses Seebad, wo man nichts als Fische essen, auf Seegras schlafen und mit Sand spielen muß, wenn man nicht vor langer Weile sterben will; aber immer bezweckt ein solches Bad das Gegentheil der Wirkung, die der Hausarzt für angemessen hielt. Der große Arzt verdiente nicht seinen Ruf, wenn seine Medicin nicht eine dunkle unergründliche Geheimlehre wäre, unerreichbar für den gemeinen Menschenverstand und die bisherigen Erfahrungen der Wissenschaft. Zeitweilig würdigt er seine Getreuen einzelner pythischer Orakelsprüche, und diese erzählen dann von schauerlichen quintären Krankheitsformen, mythischen Abnormitäten in der Natur, wahnsinnigen Stimmungen im Organismus und totalen Schöpfungsverrücktheiten, in die der Magier geblickt habe, aber um der schwachen Fassungskraft der armen Menschen willen mit Mund und Feder schweigen müsse. Wenn der große Arzt aber die Sterblichen einer Mittheilung würdigt, so bedient er sich dazu, wie die vornehmen Herren, fremder Köpfe und Hände. Nie schreibt er selber etwas, sondern inspirirt nur 127 seine Vertrauten. Bei geeigneten Gelegenheiten läßt er dann kopfschüttelnd durchblicken, daß er von seinem Jünger nur halb begriffen worden sei. Thut es Noth, so desavouirt er ihn auch wohl gänzlich. Mit den kleinen Koketterien der Aerzte hat unser Mann nichts zu schaffen. Er giebt sich nicht das Ansehen, so viel beschäftigt zu sein, um aus seinem Wagen ein transparentes Lesezimmer machen zu müssen. Wenn er fährt, so sitzt er zwischen den beiden englischen Spiegelscheiben so unbeweglich, nur nicht so schön, wie ein Putzkopf in dem Schaufenster eines Friseurs, und scheint in erhabene, aber traurige Gedanken versunken. Sein Hauptkunstgriff ist: zu rechter Zeit liebenswürdig zu sein. In diesem Punkte giebt sich seine gründliche Menschenkenntniß am glänzendsten kund, und Tausende seiner Collegen ringen sich nicht bis zu seiner Höhe empor, weil sie nie die wunderbare Kunst lernen, Grobheit mit Anmuth rechtzeitig zu vertauschen oder abwechseln zu lassen.
Unser Mann könnte seine exclusive Stellung in der Welt nicht behaupten, wenn die Fachgenossen sich verbündeten, ihm zu widerstehen und ihn zu entlarven; der Welt zu sagen, daß er nicht mehr geleistet habe, als einer ihrer Unbedeutendsten, daß keine große geniale Heilung durch ihn bewirkt worden; allein der große Arzt ist unantastbar. Enthüllungen über ihn wären Enthüllungen über das eigentliche Wesen der modernen Heilkunst; darum heißt es – der Rest ist Schweigen. 128