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Jede große Stadt besitzt gewisse Orte und Personen, von welchen fast gar nicht in den Zeitungen, diesen Posaunen im Orchester der Drucksachen, die Rede ist, welche aber dessenungeachtet an Ort und Stelle eine große Berühmtheit genießen und über dem lieblichen Klange ihres Silbers des mit Blei plattirten Ruhmes entrathen könnten.
Gegenüber dem ernsthaften Gebäude der Bank in der Jägerstraße bemerken wir ein stattliches Haus, das einst die verewigte Zeitungshalle beherbergte, seitdem aber von einem sehr unruhigen Temperamente zu sein scheint und alle möglichen Geschäfte erzeugt und verschlingt. Wir haben seit fünfzehn Jahren eine Menge Industrieller darin ihren Handel und Wandel betreiben gesehen, aber Niemand hat es bis zum Gerede der Leute gebracht. Nur in der unscheinbarsten Localität des Hauses, in dem kaum bemerkbaren Keller, existirt ein Geschäft, das so manchen weniger glücklichen Gewerbsmann mit dem christlichen Gefühle des Neides zu erfüllen pflegt. In diesem Keller hanthiert die größte Wurstcelebrität Berlins, der Bureauchef der bedeutendsten Frühstücksstation der Residenz, der berühmteste Kenner von kalten Fleischwaaren: Niquet.
Von den sechshundert Fremden, welche nach einer nicht unwahrscheinlichen Durchschnittsrechnung täglich auf den Berliner Bahnhöfen anlangen, werden die meisten auf ihren städtischen Promenaden wahrscheinlich achtlos 202 an dieser nicht besonders großen Thür und an den kaum bemerkbaren, dem Keller tief im Kopfe liegenden beiden Fensteraugen vorübergehen, und doch verdient dieser Ort eher einen Besuch, als so manche prahlerisch mit Gaskronleuchtern verzierte, an Verkehr und Verzehr abgemagerte Spelunke unter den Linden. Wenn ein Gast aus der Provinz, der um 11 Uhr Vormittags eben bei Gerson das unvermeidliche Kleid für die Frau Gemahlin bezahlt und nach seinem Hôtel adressirt hat, Lust haben sollte, die merkwürdigste Wursthalle des Nordens kennen zu lernen, braucht er nur den ersten besten jungen Leuten nachzugehen, welche mit besonders geschwinden Schritten um die Ecke in die Jägerstraße biegen und sich plötzlich in eine Versenkung an der Ecke der Oberwallstraße stürzen. Je nachdem unser Gast einen tüchtigen Magen oder eine scharfe Beobachtungsgabe besitzt, wird er entweder eine Menge delicater Fleischwaaren, oder eine beträchtlichere Anzahl weniger delicater, aber doch immer pikanter Menschenwaare kennen lernen.
Sobald man die wenigen abschüssigen Stufen überwunden hat, befindet man sich im Mittelpunkte des originellen Treibens. Die Uebersicht ist aber keinesweges durch eine Menge Räumlichkeiten erschwert, denn es giebt in Berlin vielleicht kaum ein engeres Local. Eine kleine gewölbte Vorhalle für den Verkauf, und ein beschränktes niedriges und dunkles Zimmer für die Gäste, mehr wird den verwöhnten Berlinern nicht geboten, denen es sonst selbst im Krollschen Königssaale unter Umständen zu enge ist, die sich aber hier aus fleischlichen Gelüsten auch auf die unerhörteste und lächerlichste Weise einschränken können.
Der Hauptgegenstand in der Vorhalle ist der Altar, auf welchem alle jene Lockspeisen liegen, ohne welche der Gaumen des Nordens nicht bestehen zu können scheint. Er wird durch ein glänzend polirtes messingnes Mausoleum, in welchem zahllose Wiener und Knoblauchswürste eingesargt, aber von einem Gasflämmchen bei künstlicher Lebenswärme erhalten, liegen, in zwei Theile getheilt und 203 durch ein hölzernes Gitter gegen etwaige communistische Eingriffe geschützt. Hinter diesem Altare stehen die männlichen und weiblichen Beherrscher dieser Schätze in unaufhörlicher Thätigkeit, während ihre Gestalten durch eine ernste, fast düstere historische Landschaft von geräucherten, an der Wand hängenden Schinken, Schlackwürsten und Rinderzungen einen vortheilhaften Hintergrund erhalten, an dessen bräunlicher Färbung, aber sonst an weiter nichts, unsere zahlreichen heutigen Gemäldekritiker vielleicht einigen Anstoß nehmen könnten.
Die eintretenden Personen stellen sich entweder vor den erwähnten Opferaltar, um von den Priestern des Wurstcultus für Geld und gute Worte die frommen Spenden für den sterblichen Leib in Empfang und nach Hause mitzunehmen, oder sie begeben sich rechts in die Verzehrshalle, aus der uns ein Höllenlärm entgegenschallt und ein unbeschreiblicher warmer Fleischgeruch, der nichts mit den Einzelheiten der Speisekarte, und doch wieder etwas mit Allen zusammen gemein hat, entgegenquillt. Beim Eintritt entdecken wir, besonders wenn der Tag nicht sonderlich klar ist, zuerst nichts, als einen wüsten, an drei Tischen gelagerten Haufen von Menschen, über dem ein schwaches Gasflämmchen zum Anzünden der Cigarren flackert.
»Eine Jauersche und eine Josty!«
»Eine halbe Portion Schinken! Eine Schweinszunge!«
»Eine Portion Rauchfleisch! Eine Ale!«
»Zwei Straßburger!« »Fraustädter!« »Eine halbe Trüffelwurst!« »Einmal Salami!« »Eine Bairische!« »Eine kleine Weiße!«
So schreien aus allen Winkeln hervor, wie in Dante's Hölle die Verdammten, die frühstückslustigen Berliner, und ein in der Mitte dieses Inferno stehender, dem Verlangen Aller ein geneigtes Ohr schenkender Verbündeter Niquet's nimmt mit klassischer Ruhe diese Bestellungen in seine Seele auf und entfernt sich dann, um sie theils am öffentlichen Opferaltar, theils in geheimen, nicht zugänglichen hinteren Küchenräumen ausführen zu lassen. Neben dieser 204 kaltblütigen Fleischgottheit beschützt noch ein jüngerer Genius die durstig um Hülfe und Rettung Flehenden. Mit nicht zu großer Schnelligkeit wandelt er hin und wieder, und holt aus einem Kabinetchen zur Linken, in dem nur Freunde der Firma und des Hausherrn, berühmte Schlächter und renommirte Viehzüchter, zugelassen werden, die betreffenden Biere.
Ist es dem Eintretenden endlich gelungen, entweder durch die Liebenswürdigkeit oder die Entfernung eines Gastes ein schmales Plätzchen an einem der drei Tische zu erobern, so wird er sein Erstaunen über den herrschenden Ton nicht verhehlen können. Was aufgetischt wird, verschwindet mit der Geschwindigkeit eines Courierzuges, ja einer telegraphischen Depesche (vorausgesetzt, daß die Regierung nicht mit ihren Depeschen die Vorhand hat); die versammelte Gesellschaft weiß, daß hier jeder Quadratzoll Platz der hungrigen Gesellschaft gehört, und hat aus eigener Erfahrung die Leiden eines verzögerten zweiten Frühstücks zu oft kennen gelernt, um nicht in schöner Solidarität für das kommende Geschlecht zu sorgen. Zudem ist der Aufenthalt nicht so verlockend, daß er zu längerem Verharren anregte. Jeder nimmt deshalb so schnell als möglich seine Ladung vortrefflichen Proviants ein und eilt nach kaum gewischtem Munde von dannen. Hier oder sonst nirgends kann man beobachten, wie hastig unser Zeitalter lebt, wie die Generationen einander jagen und wie die conservativen Elemente als das ewig Ruhende im Wechsel verharren. Niquet ist ein Monarchist strengsten Styles und Rechtgläubiger ersten Ranges. Er giebt eine beträchtliche Einnahme hin, um sein Geschäft am Sonntage absolut verschlossen zu halten und verschenkt, wie man sich erzählt, Orgeln an arme Kirchengemeinden!
Zuweilen bricht in dem Speise- und Becherraum plötzlich tiefe Nacht herein; erstaunt blickt der Neuling empor, dem die Buchstaben der Kreuzzeitung in einer egyptischen Finsterniß verschwinden – es sind nur zwei Damen, die vor den Kellerfenstern stehen bleiben, die an den 205 Erdgeschoß gelegenen Schaufenstern aufgehängten Stoffe betrachten, und Niquet's Hallen durch ein Crinolinengewölk verdunkeln. Zuweilen werden aber auch sämmtliche Gruppen von einem diabolischen Feuerschein erleuchtet, wenn ein Jüngling einen Fidibus anzündet und die Cigarre damit in Brand steckt. Bei diesen wechselnden Beleuchtungen bemerkt man dann wohl den Gebieter des Ortes selber, wie er statt mit dem weltlichen Embleme der Macht und Alleinherrschaft, einer Krone, nur mit einer Sammetmütze bedeckt, in der Rechten den blanken Pfropfenzieher, in der Linken die Porter- oder Aleflasche und den saubern Kristallbecher haltend, mit einem großen Feldherrnblick umherspäht, um den zu entdecken, dessen Gemüth nach Englands kräftigen Gerstensäften gelüstet. Aber trotz der conservativen Prinzipien herrscht in der Bedienung die revolutionärste Gleichberechtigung. Hier giebt es nur Citoyens des Fleisches und Bieres, und wer zuerst bestellt hat, erhält seine Dosis auch zuerst. Immer gleiche Güte der Waare und Gleichheit der Person, darin liegt die magische Anziehungskraft solcher Orte. Ob Jemand im Genuß einer Knoblauchswurst, der kleinsten möglichen Erquickungsdosis, schwelgt, oder ob er, wie jener mecklenburgische Rittergutsbesitzer, die ganze Speisekarte im Laufe eines Vormittags herunter ißt, der Wirth hat für Beide nur eine Höflichkeit, weil es für seine Erfahrung nichts Außerordentliches im Appetit mehr giebt.
Sehen wir uns jetzt aber die Gesellschaft ein wenig näher an. Draußen vor dem Altar, hart neben der Thür, sitzen zwei Herren und eine Dame mit einem Pamelahute, augenscheinlich Fremde, die von einem Landsmann hierher gewiesen worden, aber vor dem dunkeln Grauen des Speisezimmers zurückgebebt sind und es sich hier an dem Katzentische des Lokales wohl sein lassen. Fortwährend strömen junge und alte Handlungsbeflissene aus den nahegelegenen großen Geschäften herein, Hausfrauen und Köchinnen, welche Beilagen für den Mittagstisch oder die Zuthaten zum Abendthee holen, Junggesellen altfränkischen 206 Calibers, die selber einkaufen und eine halbe Meile weit aus einer entfernten Stadtgegend hieher gehumpelt sind, nach ächtem Hamburger Rauchfleisch lüsterne Feinschmecker, Soldaten, die von ihren Lieutenants abgesandt worden, um ein rasches Gabelfrühstück zu improvisiren – kurz, lauter Leute, die von der brahmanischen Lehre der Resignation auf das Fleisch nichts wissen wollen, und mit dem Criminalcodex von Schweden und Norwegen in der Ansicht übereinstimmen, daß die Verurtheilung zu einer Lebensweise von Vegetabilien der Todesstrafe gleich zu achten sei.
An den drei Tischen sehen wir in malerischem Durcheinander überwiegend die Vertreter jener Bevölkerung von Berlin, welche ihren Lebensunterhalt durch eine lebhafte Mitwirkung der Beine erwerben muß. Dort im Winkel munkeln hinter einer Anhöhe von ausgeleerten Wurstbälgen (Wurstpellen sagt der Volksmund) zwei Agenten in alten Kleidern und Kleinodien, die nach vollbrachtem guten Geschäft sich gestattet haben, das Gesetz ihres Religionsstifters arg zu verletzen. Hier stärken sich mehrere Studenten für die geistigen Anstrengungen, welche Pandekten und Institutionen zu verursachen pflegen. Dort bekämpft ein Alter mit Erfolg die gelungene Copie einer Jauerschen Bratwurst und lernt dabei mit Eifer die Zeitung auswendig, nach welcher jener unbärtige Knabe wegen der darin stehenden Adresse eines Haarwuchsbeförderers lüstern ist. Hier wird bei einer Flasche Graves von zwei bukolisch aussehenden Männern mit bunten Halstüchern und blaugewürfelten Taschentüchern auf das Wohl eines räthselhaften Geschäftes getrunken, und inzwischen ein unter dem Stuhle sitzender, aber durch die mächtige Fleischwitterung in eine ungemeine Aufregung versetzter Pinscher mit Schinkenfett sittlich beruhigt. Hält man uns nicht für schnöde Denuncianten, wann wir jenen Herrn mit der Tabacksnase angeben, ein wahres Naturspiel, das zu einer Portion Salami einen ganzen Topf voll Senf mit Behagen aufißt, ohne daß es außer uns Jemand bemerkt? 207 Schon schielt er nach einem anderen Senfgefäß, aber die Abnahme der Gesellschaft scheint ihn vor der Ausführung des Attentates besorgt zu machen. Es hat zwölf Uhr geschlagen und es tritt augenblicklich eine kleine Pause in der Verpflegung der vorübereilenden Pilger ein. Das Personal wischt mit großen Tüchern die Tische ab, die Gläser werden herausgeschafft und haufenweise gewaschen, von fern erschallt ein wilder Lärm von geputzten Messern und Gabeln, aus der Rauchkammer wird frischer Vorrath herbeigeschafft, der Chef gestattet sich in dieser Pause des Völkerlebens in seinem Boudoir zur Linken eine Cigarre zu rauchen, eine verhältnißmäßig stille und einsame Periode ist angebrochen und währt bis etwa zum Einbruch der Dämmerung, wo der ganze Andrang und Spektakel sich bis nach zehn Uhr unter ungeheurem Zulauf junger Theaterbesucher wiederholt.
Die Betheiligung des Publikums ist jedoch durch diese lebhaften Scenen nicht vollständig ausgedrückt, nicht ganz erschöpft. Wer früh Morgens um sechs Uhr nach einem Bahnhofe fährt und diese Gegend passirt, wird einen großen Schwarm ärmlich aussehender Leute bemerken, die nach französischer Sitte Queue machen und in kleinen Körben aus dem Kellergeschäft etwas holen. Sollte die Gourmandise selbst unter dem Proletariat Wurzel geschlagen haben? nein, wir sehen in diesen Leuten Niquet's Hausarme, denen für eine Kleinigkeit die Abschnitzel überlassen werden, die im Verlaufe des Tages beim Vorschneiden abgefallen und sauber aufbewahrt worden sind, und oft ist das Gedränge um diese Liebhaberei so groß, daß Niquet aus dem Keller hervorspringt und mit einem ansehnlichen Aufwande von Energie sich der alten und schwachen Leute annimmt. 208