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Die Welt ist ein Spiegel, worin ein jeder nur die eigene Seele sieht.
Redet mir nicht vom Zufall der Geburt! Ist denn die Geburt ein Zufall? Sie ist das Ergebnis der leidenschaftlichsten Wahl durch viele Jahrhunderte, und immer auch ein entsprechendes Ergebnis.
Ahnenkult und Ahnenstolz haben ihren tiefen Sinn. Es ist nicht gleichgültig, aus welchem Blut wir stammen, denn unsere Vorfahren gehen immer leise mit uns durchs Leben und färben, uns selber unbewußt, all unser Tun.
In den großen Schicksalsstunden scharen sie sich als unsichtbare Leibwache um uns, wir fühlen ihre gemeinsamen Kräfte, die uns durchdringen, ohne zu wissen, woher diese Kräfte uns gekommen sind.
4 Jede menschliche Natur ist ein Widerspruch, aus zwei verschiedenen, häufig gegensätzlichen Naturen zusammengefügt. Zieht man noch die Ahnenreihe hinein, die sich aufwärts ins Unendliche verliert, so erkennt man, daß schon die ganze Menschheit zur Herstellung des Einzelnen verwendet worden ist, wie sich sein Ich abwärts ins Unendliche spalten und sich am Ende wieder über die ganze Menschheit verteilen muß, denn Blutsverwandte sind wir alle. Wo sollte da Einheit des Charakters noch herkommen ? Die gab es im Altertum, wo die Lebensbedingungen ähnlicher und wo die Völker weniger gemischt waren oder das Gemischte gleichmäßiger assimiliert.
Die Abhängigkeit von der Umgebung ist nur unbedingt wahr für den gemeinen Menschen. Unser »Milieu« sind nicht die Spießbürger, die in einer Stadt mit uns leben, sondern der geistige Boden, aus dem wir unsere Nahrung ziehen. Die großen 5 Menschen aller Zeiten, mit denen wir von klein auf verkehren, die sind's.
Aufgabe der verfeinerten Selbstsucht: soviel Schmerz wie möglich aus der Welt schaffen, alles Lebende in seinen Egoismus einschließen. Wer Glück zerstört, wer die Last des Jammers auf der Erde vermehrt, der darf nicht hoffen, daß der Luftdruck über seinem eigenen Haupt geringer werde.
Wahrhaft großes Empfinden zeigt sich nicht darin, daß man sich ausschließlich mit großen Dingen beschäftigt, sondern daß man auch das Kleinste dem Großen anzugliedern weiß.
Das Gros der Menschen ist nur in der Jugend genießbar, nach fünfundzwanzig hört bei den meisten die Entwicklung auf, und sie beginnen zu schrumpfen. Deshalb sehen sie auf ihre Jugend zurück, als auf eine Zeit höherer Fähigkeiten, ein geschwundenes 6 Paradies. Bei dem begabten Menschen steht der Fluß des Werdens niemals stille, und er empfindet sein Ich nicht anders, als in der Jugend, daher ihm der Flug der Zeit nicht zum Bewußtsein kommt.
Die meisten Menschen sind wie schlecht konstruierte Lampen, jene billige Fabrikware, die gleich trübe brennen, sobald das Öl ein wenig gesunken ist. Dagegen gibt es einige wenige vom Schöpfer so vortrefflich ausgearbeitete Mechanismen, daß sie durch nichts verdorben werden können und das gleiche Licht verbreiten, bis der letzte Tropfen Öl verzehrt, ja bis die letzte Feuchtigkeit aus dem Dochte gesogen ist. Solche Menschen sind Gottes Handarbeit.
Das Individuum will sich einmal manifestieren, ehe es in den Schoß der Allgemeinheit zurückkehrt. Bleibt ihm gar kein Mittel, sich auszuzeichnen, so schreibt der Alltagsmensch wenigstens seinen Namen mit einer 7 geschmacklosen Bemerkung ins Fremdenbuch, damit die Nachfolgenden wissen, daß er auch dagewesen.
Geistlose Menschen können nicht freudig sein, die Materie lastet mit zu schwerem Druck auf ihnen.
Auf törichte Wünsche wartet zuweilen eine grausame Strafe: ihre Erfüllung.
Der gefährlichste Sturz ist der von einem Luftschloß herunter. Stark ist, wer sich davon wieder erholen kann. Die meisten kriechen mit zerschmetterten Gliedern noch eine Strecke weiter, bis sie elend liegen bleiben.
Das Leben ist ein fortgesetzter, unfreiwilliger Tauschhandel. Wir glauben unser liebstes Gut auf immer festzuhalten, und schon landet, von uns unbeachtet, das Schiff, 8 das es uns entführen wird. Und während wir ihm hoffnungslos nachstarren, taucht am fernen Horizont ein Segel auf, das den Ersatz bringt.
Es kommt ein Augenblick, wo auch der Glücklichste vollkommen allein ist, denn das letzte Wort auf Erden hat jeder mit dem eigenen Körper zu reden.
Nichts charakterisiert den Menschen mehr, als das, wofür er niemals Zeit findet.
Jeder edle Mensch muß vorher alt werden, ehe er jung wird.
Überlegung kann Schurken machen, unbedachtes Handeln macht sie nie. Darum fliegen den impulsiven Naturen alle Herzen entgegen.
Den Ehrgeizigen soll man nicht schelten. Der Erfolg kann den Menschen innerlich 9 weiter machen. Verkanntes Verdienst fällt oft auf eine plumpe Schmeichelei herein, die das verwöhnte Glückskind verachtet.
Ein häßliches Mädchen wird durch ein Kompliment verführt, das an einer gefeierten Schönheit unbeachtet niedergleitet.
Es ist nicht zu verwundern, daß beschränkte Menschen so eigensinnig sind. Wem das Denken große Mühe macht, der weiß wohl, warum er das einmal Aufgenommene so lange wie möglich festhält, statt sich gleich einer neuen Mühe zu unterziehen.
Eitelkeit macht geziert und unruhig, Selbstgefühl gibt Natürlichkeit und Sicherheit.
Dem oberflächlichen Weltkind ist ein bißchen Eitelkeit nicht schädlich, es ist eben auch nur oberflächlich eitel; eitel auf 10 kleine Talente oder äußere Vorzüge. Aber wehe, wenn die Eitelkeit sich der ernsthaften, pedantischen Naturen bemächtigt. Die nehmen es mit der Eitelkeit selber ernsthaft und beziehen sie auf die ernsthaften Dinge, wie Charakter, Kenntnisse usw. Deshalb steht keine Eitelkeit in so üblem Geruch, wie Gelehrteneitelkeit.
Die Zeit wird nicht nach der Länge, sondern nach der Tiefe gemessen.
Zeiten, in denen wir nichts erleben, sind endlos, wie ein langer, weißer, schattenloser Weg, worauf man keiner lebenden Seele begegnet.
Wer jeden Augenblick mit tiefem Gehalte erfüllen kann, hat seine Lebensspanne zur Unendlichkeit erweitert.
11 Weil die Zeit keine absolute, nur eine relative Länge hat, deshalb ist jedes starke Empfinden ewig, auch wenn es nur einen Tag gedauert hätte.
Es ist kein Mensch zu beneiden, er stehe so hoch und fest er wolle. Der unaufhaltsame Planet schwingt sich um die Sonne und vernichtet durch seinen bloßen Umlauf alles Erdenglück.
Widerspruch des Lebens. Man hüte sich, die menschlichen Geschicke nach Regeln und Analogien zu berechnen. Jeder Fall ist der erste und der letzte seiner Art, denn nichts wiederholt sich jemals ganz auf Erden. Gerade die Erfüllungen, die die Alltagsweisheit am sichersten vorhersagt, treffen niemals ein. Im Augenblick der Entscheidung ist das ganze Spiel verschoben: der Mutige wird feig, der Egoist begeht eine großmütige Handlung, und von allem Erwarteten geschieht das völlige Gegenteil.
12 Das Leben führt uns ewig ad absurdum, und dieser ewige Widerspruch ist es gerade, was das Leben so interessant macht.
Die einzigen Menschen, die ein völlig ruhiges Gewissen haben, sind die großen Verbrecher.
Moral und Psychologie. Wie viel freudiger lebte sich's unter den Menschen, wenn unsere sittliche Überlegenheit über den Nächsten nicht wäre, das Richten nach idealen Forderungen, die in ihrer Gesamtheit nirgends auf Erden erfüllt werden.
Dieses moralische Besserwissen, dieses »er sollte«, »er müßte« des einen vom andern kann einen Menschen mit psychologischen Tastorganen in die Verzweiflung und von da in die Einsamkeit treiben. Wo ist denn der Sterbliche, der immer handelt, wie er sollte und müßte? Der heute diese Worte braucht, wird morgen selber durch sie gerichtet. Höchstens für Kinder oder für 13 Matrosen, die auf einem Schiff beisammen leben, ist die Pflicht eine so einfache, gradlinige Sache. Unsere Verhältnisse zusammen mit unseren Anlagen bilden ein so unendlich kompliziertes Gewebe, daß in hundert Fällen neunzigmal dem »ich sollte« ein »ich kann nicht« gegenübersteht.
Wenn sich nun wenigstens die moralische Superklugheit auf den einzelnen Fall beschränkte! Aber wie wenige können dem Anreiz widerstehen, von da sofort einen Rückschluß auf den ganzen Charakter zu ziehen, und dann ist der Spruch der summarischen Justiz fertig. Wie groß, wie selbstgerecht, wie unantastbar ist der Herr Jedermann, so lang er das Gesetz im Munde führt. Wie hoch blickt er von den Schneegipfeln der idealen Forderungen auf den armen Teufel, der sie nicht erfüllen konnte, nieder. Aber bitte, Verehrtester, steigen Sie einmal von Ihrer abstrakten Höhe in die Ebene des Lebens herunter und messen Sie hier Ihren Wuchs mit dem seinigen. Das darf ich natürlich nicht laut sagen, deshalb decke ich mich in solchen Fällen durch eine 14 klassische Autorität und erwidere mit Hamlet: »Gib jedem, was er verdient, so ist keiner vor Prügeln sicher.«
Die Menschheit hat wohlweislich ein höheres ethisches Ideal aufgestellt, als sie verwirklichen kann. Nach starrem Rechtsspruch ist der Mensch in jedem Augenblick an sich schon verdammlich, weil er
»In der Menschheit traurigen Blöße
Steht vor des Gesetzes Größe«,
jenes ungeschriebenen Gesetzes, das jeder in der Brust trägt, dessen Erfüllung er aber zumeist – von den andern erwartet.
Es ist der Grundwiderspruch der menschlichen Natur, die wahre »Erbsünde«, dieser klaffende Riß zwischen dem, was der Mensch vom Menschen fordert, und dem, was er selber leisten kann. So gibt es ja nur in der Geometrie, aber nirgends in der Natur eine völlig gerade Linie. Und nur in der Arithmetik gehen die Rechnungen richtig auf, im Leben bleibt immer ein unlösbarer Rest zurück. Der Dichter kennt diesen Rest – er ist sein eigenstes Gebiet –, der Psychologe, 15 der Erzieher kennt ihn, aber die große Menge derer, die sich denkende Menschen nennen, weiß nichts von ihm und schreit immer aufs neue, wo er ihr entgegentritt.
Nun ist zum Unglück auch unser geistiges Auge so eingerichtet, daß wir die Konturen der Dinge viel schärfer wahrnehmen, als sie in Wirklichkeit sind. Wir sehen einen dicken, schwarzen Strich, wo in Wahrheit Licht und Schatten viel zarter ineinanderfließen.
Wir sind alle mehr oder minder unduldsam gegen Laster, die nicht in unserem eigenen Temperament liegen. Und das ist ganz natürlich. Wem der Wein nicht schmeckt, wie soll der den Trunkenen begreifen? Dagegen zeugt es von niedriger Gesinnung, wenn einer besonderes Ärgernis an solchen Sünden nimmt, die ihn gleichfalls reizen würden, zu denen ihm aber die Gelegenheit fehlt.
16 Die tugendhafte Frau, die sich mit ihrer Tugend langweilt, aber nicht den Mut zum Leichtsinn findet, die ist es, die den ersten Stein auf die gefallene Schwester wirft. Aber hier verlassen wir schon das Gebiet der falschen Moral und kommen in das des gemeinen Neides.
Wie manches Mal habe ich gewünscht, die juwelenstrahlende Weltdame möchte sich mit meinen Augen sehen, wenn sie, durch ein einziges Wort verwandelt, plötzlich mit dem Wasserkübel auf dem Kopf als Lischen am Brunnen vor mir stand.
Un errore, sagt der lebensweise Italiener, wo der harte, abstrakte Germane gleich von Schuld, Übertretung, Bruch des Gesetzes spricht. Richtig, denn die meisten Vergehungen sind Irrtümer – die Ate.
Ab und zu begegnet man Menschen, die ihre Grundsätze nicht nur auf die andern, sondern auch auf sich selber anwenden und 17 deren Leben darum in einer schnurgeraden Linie verläuft. Diese genießen denn auch einen so großen moralischen Kredit, daß sie innerhalb ihres Kreises die Richter und Rater in allen Gewissensfragen spielen. Aber gerade sie sind dazu am wenigsten berufen, denn sieht man sie näher an, so sind es rechtschaffene, spießbürgerliche Leute, in deren Adern das Blut so langsam fließt und deren geistiger wie auch gesellschaftlicher Horizont so eng ist, daß sie das Leben ganz zum Rechenexempel gemacht und mit Prinzipien wie mit Wickelbändern umschnürt haben. Das imponiert dem Unerfahrenen, dem Autoritätsbedürftigen, der die Gedanken anderer zum Denken braucht. Aber wie schnell versagen diese Orakel vor den Konflikten einer bedrängten Seele. Wie sollte auch der Philister, der nichts erfahren hat und nie die Grenzen des Menschlichen abgetastet, mit seiner Buchweisheit und Buchmoral in die Abgründe des Lebens leuchten? Die Bravheit und Unbescholtenheit tun es nicht, und alles Erlernte steht hilflos dem Leben gegenüber. Wer den Gewissen ein Führer 18 sein will, der muß selber mit Engeln und Dämonen gehaust haben und Verantwortungen getragen, aus denen die Erkenntnis fließt. So einem Renaissancemönch, der sich aus wilden Abenteuern in die Stille der Zelle zurückgezogen hatte, um nachzudenken, einem solchen mochte sichs gut beichten. Wessen Tugend aber von der negativen Art ist, der hat höchstens Licht genug, um seinen eigenen Weg zu finden.
Wer aus den moralischen Forderungen die letzten strengsten Konsequenzen ziehen will, dem bleibt nichts übrig, als in eine menschenleere Wüste zu fliehen. Und wenn er sich besinnt, so wird er vielleicht auch dort erkennen müssen, daß immer noch einer zu viel da ist.
In dieser schrecklichen Enge hat die Natur uns zwei Sicherheitsventile gegeben: die Nachsicht, die nichts ist, als die angewandte Gerechtigkeit im Gegensatz zur abstrakten, und den Humor.
19 Der Durchschnittsmensch sieht von seinem Gegenüber immer nur die eine, ihm jeweils zugekehrte Seite. Er kann sich in den Oszillationen des Tages kein klares und unverrücktes Bild der anderen erhalten. So entsteht das beständige Auf und Ab in der Beurteilung der Charaktere, das wechselnde Überschätzen und Verwerfen, das den unbefangenen Zuschauer mitunter fast seekrank macht.
Die seherisch angelegten Naturen tragen das Ganze eines Menschen als festes Bild mit Licht und Schatten in sich herum, das durch die wechselnden Erfahrungen nur leise modifiziert, nicht häuptlings umgestürzt werden kann. Widersprüche erstaunen sie nicht, denn sie wissen, daß diese zum Ganzen einer Individualität gehören. Sie kennen keinen sittlichen Eifer, und die richterliche Weisheit der andern ist ihnen ein Greuel; mehr noch als ihr Gemüt, empört sie ihren Intellekt. Das bringt sie in beständigen Gegensatz zu ihrer Umgebung, der solche Objektivität nicht selten als Kälte oder moralische Indifferenz erscheint. Gewiß ist ein Hauptgrund, 20 weshalb so oft die Dichter und Seher sich in späteren Jahren ganz vom Verkehr der Menschen zurückziehen und ihr Leben in selbstgewählter Einsamkeit beschließen: die blinden Urteile der Schnellfertigen nicht mehr hören zu müssen.
Artig auch gegen sich selbst. Wenn man seine Mängel nicht hätscheln soll, so hat man doch auch nicht nötig, sie mit Keulen auszutreiben. Man behandle sein Ich wie einen erprobten Freund, an dem man gelegentlich gern einen Fehler abstellen möchte. Man suche sich selbst durch freundlichen Zuspruch, allenfalls durch ein bißchen Schmeichelei, zum Besseren zu bereden. Man sage sich zum Beispiel in einem Moment der Verzagtheit:
»Komm! Ich kenne dich ja sonst als brav, hast schon manches Mal gut bestanden, wirst mir doch diesmal keine Schande machen.«
Das Gelobtwerden für eine Eigenschaft, die man nicht hat, wird häufig zum Sporn, 21 sich diese Eigenschaft zu erwerben, und der wahrhaft Kluge muß auch verstehen, sich selber zu überlisten.
Das abstrakte Moralpredigen dagegen ist beim eigenen Ich so wirkungslos, wie beim fremden.
Der Dank ein Übel. Dank soll man weder geben noch fordern. Er würdigt beide Teile herab. Durch einen Dienst, den man mir erweist, darf ich in nichts gehindert sein, sonst verwandelt sich die Wohltat in eine Übeltat, und nur aus dieser Gesinnung heraus darf ich anderen etwas Gutes erweisen. Wenn ihr mich nicht liebt für das, was ich bin, – für das, was ich tue, sollt ihr mich nicht lieben müssen, denn so halte ich's auch mit euch.
Wer sich zur Dankbarkeit verpflichten läßt, der trägt eine Kette, gegen die er sich früher oder später empören muß, denn alle Liebe will Freiheit und Freudigkeit. Eine Wohltat, sei sie noch so groß, ist durch 22 innere Abhängigkeit zu teuer bezahlt. Wer sie in dieser Absicht erweist, macht ein Geschäft, bei dem er den Freund übervorteilt, und bleibt dabei doch der Betrogene. Um gerecht und liebevoll zu bleiben, habe man den Mut, undankbar zu sein.
Das Danken ist eigens erfunden, um die Last der Dankbarkeit aufzuheben. Es ist eine Handlung, die sich mit einer anderen Handlung scheinbar ins Gleichgewicht setzt, was ein bloßes Gefühl nicht könnte. Sie macht denjenigen, der sie vollzogen hat, wieder zu einem freien Menschen.
Macht der Überzeugung. Nichts auf Erden ist so unwiderstehlich wie Überzeugung, die aus tiefster Seele kommt. Sie ist der Strom, der alle Dämme bricht und alle Wasser mit sich reißt. Sie unterwirft sich sogar die Welt der Sinne. Eine häßliche Frau kann durch den felsenfesten Glauben, schön zu sein, ihre Umgebung so 23 beeinflussen, daß diese nicht mehr wagt, sie häßlich zu sehen. Ja, dieser Glaube braucht nicht einmal ausgesprochen zu werden, er teilt sich von selbst der Umgebung mit und schlägt den Widerspruch der Augen nieder.
Der Große und seine Zeit. Bringt die große Zeit das große Individuum hervor, oder umgekehrt das große Individuum die große Zeit? Müßige Frage. Immer wenn die Spannung sehr groß wird, so gibt's irgendwo eine große Entladung, die der große Mensch heißt. Dieser wird das gestaltende Prinzip, durch das die ringenden Gewalten seiner Zeit sich klären.
Der Kleine und seine Zeit. Wenn einer seufzt: »Ach ja, zu meiner Zeit« – so hat er mit drei Worten sein Bild gezeichnet. Ich sehe ihn vor mir, wie er ein Weilchen flott mit seinesgleichen den breiten Strom hinuntertreibt, vielleicht während des Dezenniums, in das seine 24 zwanziger Jahre fallen, und wie schon das nächste Dezennium ihn über Bord wirft. Wer seine eigene Welt hat, dessen Zeit ist nie und immer.
Unser Eigentum. Das ganze Leben wird uns von außen aufgedrungen, nur eines gibt es, was wir selbst gestalten können: unser Ich. Dies ist der Garten, den ein jeder zum Bebauen erhalten hat. Wenn er verwildert und verödet, so ist es unsere eigene Schuld. Wir können keinen, aber auch gar keinen Genuß im Leben finden, als von den Früchten, die in diesem Garten gewachsen sind,
Die Werdenden. Welch größere Wohltat kann man einem suchenden Menschen erweisen, als daß man ihm zu seinem eigenen Ich den Weg finden hilft?
Niemand soll junge Leute von Dummheiten zurückhalten. Dummheiten sind die 25 beste Grundlage für künftige Weisheit. Weisheit der Jugend ist ein unerfreuliches Gewächse. Freilich gibt es auch ab und zu begabte Individuen, die nicht von vorn anzufangen brauchen, die schon mit allen Erfahrungen wie mit Niederschlägen einer früheren Existenz zur Welt kommen. Aber sie bringen auch eine Müdigkeit mit und passen nicht ins Leben, weil sie zum Handeln unfähig sind.
Der starke Mensch verzeiht sich jede Torheit, wenn sie ihn innerlich gefördert hat, weil er ihren Folgen tapfer standhielt. Was man sich nie verzeiht, sind die Unterlassungssünden, die kleinliche Vorsicht, wenn man etwas Großes hätte erleben können, dem man feige ausgewichen ist. Denn der starke Mensch hat einen Anspruch auf Kampf und Leiden. Es kommt eine Stunde, wo ihm des Glücks und Wohlseins zu viel wird, dann ruft er, um zu wachsen, selbst das Unglück herbei.
26 Der starke Mensch verlangt im Grunde gar nicht, glücklich zu sein, er verlangt vielmehr die Grenzen seiner Natur abzutasten. All die persönlichen Eigenschaften kennen zu lernen, für die es im täglichen Leben keinen Raum gibt. Wie wenigen von uns ist es überhaupt noch vergönnt, sich selber zu erleben. Und das, woran wir am meisten leiden, ist nicht das Unglück, das uns trifft, es sind die Gespenster aller jener Erlebnisse, für die unsere Natur ausgerüstet ist, die uns aber nie und nirgends begegnen wollen.
Zuweilen klafft ein breiter Riß zwischen dem Talent und dem Naturell eines Menschen. Das Talent treibt ihn, Dinge zu tun und zu sagen, die ihn in einen Zwiespalt stürzen, dem die Kraft seines Naturells nicht gewachsen ist. Dann verstummt sein Genius und überläßt ihn der Verantwortlichkeit, die er ihm aufgeladen hat. Delikate, sensible Naturen stürzen leicht in den Abgrund hinunter, an dessen Rand sie durch Zwang des Talents getrieben werden.
27 Selbsterziehung. Wenn ich einen Briefwechsel oder ein Tagebuch aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts lese oder wenn ich mir ganz alte Leute ins Gedächtnis zurückrufe, deren Jugend noch durch jene Zeit beeinflußt war, so überrascht mich nichts so sehr, als wie diese Menschen an sich selber gemodelt und ziseliert haben. Sie sahen ihr Ich als ein Kunstwerk an, das die Natur nur roh abbozzieren konnte, und dessen Ausführung ihnen selbst überlassen blieb. Auch die höchsten, edelsten Geister fühlten – und gerade die am meisten –, daß es noch vieler Arbeit bedurfte, um den Namen »Mensch« zu verdienen. Wer von uns Heutigen hat noch den Trieb, an seiner inneren Veredlung zu arbeiten? Glück genug, wenn wir von Natur aus nicht ganz verwahrlost sind, von uns selber aus sind wir's gewiß. Und ganz naiv wie Wilde stehen wir neben diesen Charakterkünstlern und Selbsterschaffern. Der Mensch im Urzustand bildet nur die Fähigkeiten aus, die ihm im Lebenskampfe vorwärts helfen, andere kennt er nicht oder er verlacht sie. 28 Auf diesen Standpunkt sind wir zurückverwildert. Unsere ganze Selbsterziehung geht darauf aus, uns womöglich eine dicke Haut und starke Ellenbogen anzuschaffen. Von jener inneren Reinlichkeit, die unsere Alten trieb, ihre Seelen immer so gründlich zu waschen, wie wir den Leib, davon ist keine Spur mehr vorhanden. Wir lassen unsere angeborenen Gebrechen ruhig wachsen und gedeihen, es wäre denn, daß sie uns am weltlichen Fortkommen verhinderten. Dies ist der einzige Fall, wo ihnen entgegengearbeitet wird.
Es gibt zwar noch Naturen mit künstlerischem Bedürfnis, die ihren Geist wie eine herrliche Parkanlage behandeln, wo man Haine pflanzt und Blumenbeete anlegt, Hecken durchbricht, um Wege zu ziehen und Aussichtstürme zu errichten. Diese Gattung lebt noch, obgleich sie selten geworden sind, die letzten Exemplare der Spezies Kulturmensch. Aber Gemüt und Charakter gleicherweise urbar zu machen, den ganzen Menschen zur künstlerischen Vollendung zu bringen, das fällt ihnen gar nicht ein. Diese 29 großen unendlichen Gebiete ihres Ichs geben sie jedem Zufall preis, hier herrscht der roheste Naturalismus. Sie sind zu blind oder zu schlaff oder zu eingebildet, um da Hand anzulegen, und ertragen es geduldig, daß Verhältnisse und Erziehung sie verpfuschen, sie geben sich willenlos zum Objekt äußerer Einwirkungen her. Ihr ästhetisches Gefühl ist nach dieser Seite völlig stumpf. Die geistige Kultur hat mit Seelenadel nichts mehr zu tun, und nicht nur die materiellen, sondern auch die höchsten geistigen Güter befinden sich großenteils in den Händen von reich gewordenem Pöbel, denn auch geistige Güter sind mit Geld zu erwerben. Pöbel ist jeder, der nur mit persönlichen Zwecken umgeht: erwerben, scheinen, gelten, verdrängen, festhalten. Pöbel ist, wer vor dem Unglück stehen kann, ohne sich für einen Augenblick wenigstens seines Wohlbefindens zu schämen. Wer nicht in seinem Herzen einen umhegten Garten hat, dessen Blumen er schont und gießt, und den Freunde ohne Gefahr betreten können, der ist Pöbel.
30 Seit unsere Kultur ihr altes Fundament, den Humanismus – wie bezeichnend war schon das Wort für das ganze Streben! – hat abgraben und sich ein neues, die Naturwissenschaften, unterschieben müssen, gibt es keine vollen Menschen mehr. Es gibt sie noch nicht wieder, sollte ich besser sagen, denn eine Höhe, die einmal erreicht war, kann nicht auf die Dauer verloren gehen.
Geistige Strömungen. Ebenso wie im Kosmischen, braucht es auch in der Ideenwelt die kalten und warmen Strömungen, die einander begegnen, durchdringen, ablenken und modifizieren müssen; den Golfstrom der Begeisterung, den auf seinem Lauf die Palme begleitet, und die eisigen Polarwasser der Skepsis, der Kritik und Negation, um die allgemeine Bewegung zu erhalten.
Im Seelenleben kann sich, wie im Reich der Natur, Wärme jederzeit in Bewegung 31 umsetzen. Wo ich stark empfinde, kann ich meine Empfindung auf andere übertragen, bin ich aber kalt, so bleibt alles um mich starr und regungslos.
Definitionen. Alles Seiende ist ein großer Zusammenhang. Wo man durchschneidet, um ein einzelnes Glied herauszuheben, da wird der Lebensnerv durchschnitten, und man hat ein Stück toter Materie in der Hand. Es ist etwas Häßliches und Gehässiges um die Sucht der Menschen zu definieren. Wo man definiert, da irrt man schon, denn definieren heißt Grenzen ziehen, und die abstrakten Dinge haben keine Grenzen. Aber manchem ist erst wohl, wenn er zwischen lauter festen Sätzen auf- und abgehen kann, wie ein Kerkermeister zwischen Gefangenenzellen, in denen er die armen Häftlinge lebendig eingemauert verschmachten läßt.
Worte sind meist die Häscher und Schergen des Gedankens. Man sollte den Mund nur öffnen, um eingeschnürten Wahrheiten 32 die Freiheit zu geben, nicht um neue Gefangene zu machen.
Neue Gedanken Wirklich, es gab einmal neue Gedanken! In der Zeit, wo die Menschen viel langsamer und bedächtiger dachten, konnte es kommen, daß einer einen Gedanken fand, der ganz neu und blank war, der den Hörer überraschte und sich ihm als etwas Wahres, Dauerndes in die Seele prägte. Das mußte ich denken, als ich die »Trostschrift« des Plutarch an den Appolodoros las. Als der Mann sich hinsetzte und so viele Zeit verlor, um einem Vater über den Tod seines Sohnes alle jene Tröstungen zu schreiben, die uns so schrecklich banal klingen und gar nichts mehr sagen, da waren sie noch etwas, waren Gedanken, die einer zum erstenmal dachte, die der andere zum erstenmal hörte und sie wie köstliche Spenden aus unbetretenen Kammern empfing. Sie zeigten ihm das Ereignis in einem ganz neuen, überraschenden Lichte, und haben ihn vielleicht – ja gewiß – in Wirklichkeit 33 getröstet. Wo nähme man heute noch einen Gedanken her, der durch Neuheit so bezaubernd wirkte? Sie fliegen alle wie Spreu herum, sind ausgedroschen und haften nirgends.
Todesstrafe. Die Todesstrafe ist eine empörende Ungerechtigkeit, weil jeder Unschuldige, der von einer Hinrichtung Kenntnis hat, mit hingerichtet wird. Doppelt empörend ist es, daß man mit Vorliebe den Sonnenaufgang zum Zeugen nimmt. Ist das noch eine Erinnerung an die alten, gräßlichen Opferbräuche, die den Sonnengott durch Menschenblut zu ehren glaubten? Welch ein widriger und abscheulicher Gedanke, daß Morgenstunde Blut im Munde haben soll! Daß der Verurteilte aus Schlaf und Traum, die ihn wieder unschuldig gemacht haben, herausgerissen und wie ein Kind, das kaum noch von sich selber weiß, dem Henker übergeben werden soll! Denn der erwachende Mensch ist gleich dem Kinde.
Macht eure alten, scheußlichen Bräuche 34 in der Mitternacht ab, wenn ihr nicht davon lassen könnt, dahin gehören sie. Der junge Tag will noch rein sein von Blut, wie jeder Mensch in der Frühe selber wieder rein wird und mit unschuldiger Milch- und Pflanzennahrung sein erneutes Dasein beginnt.
Mensch und Gott. Die Gottheit bedarf ebenso des Menschen, wie der Mensch der Gottheit bedarf.
Ein völlig einfältiger Glaube steht am besten dem Manne der Tat zu Gesicht. Von dem Helden erwartet man nicht, daß er zugleich Denker sei; er bedarf eines ganz persönlichen, unmittelbaren Zusammenhangs mit der Gottheit. So kann er das Ungeheure unternehmen, kann sich als einziger Weißer mit einem kleinen geworbenen Negerhäuflein in einen unerforschten Erdteil wagen, Feinden entgegen, deren schauerliche Naivität nur ein schätzbares Stück Kochfleisch in ihm sieht. Wenn die Tore der Zivilisation 35 auf Jahre hinter ihm zugeschlagen sind, wenn der Tod auf Schritt und Tritt mit Sprüngen eines tollen Affen hinter ihm hersetzt, dann fühlt er sich durch einen direkten Faden von oben gehalten und erlebt Stunden, wie sie kein anderer erleben kann. Er wird für sich selber eins mit der Weltordnung, deren Befehle er vollzieht. Um so liebenswürdiger erscheint er, wenn er bei der Heimkehr wieder unter die Sterblichen zurücktritt, indem er die Trophäen, auf die er sich selbst kein Recht zuschreibt, im Heiligtum seines Gottes niederlegt.