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Wir verlieren nicht, worauf wir freiwillig, wenn auch mit Schmerz, verzichten. Nur, was uns gewaltsam genommen wird, oder was wir nie besessen haben, das verlieren wir täglich aufs neue.
Freiwilliger Verzicht ist vielleicht die schönste und dauerndste Form des Besitzes.
Es gibt keine Täuschungen des Herzens. Was das Gefühl uns sagt, ist alles wahr, wenn auch mitunter nur für einen Augenblick.
An der schnellen Bereitschaft zur Gegenliebe erkennt man die kleinen Naturen.
Ich liebe, was mich liebt, sagt der kleine Mensch.
Ich nicht, ich liebe nur, was liebenswert ist, sagt der große.
Ich auch, entgegnet eifrig der kleine. Aber was mich liebt, das ist doch liebenswert.
80 Die Liebe wie die Kunst idealisiert ihren Gegenstand, das heißt: sie erkennt sein wahres Wesen, entkleidet von allen Zufälligkeiten, und umfaßt auf einmal als ein Ganzes, was sonst im Leben nur stückweise und verschleiert zur Erscheinung kommt. Menschen, die wir lieben und verehren, haben für uns keine Jugend und kein Alter, sondern nur ihr unwandelbares, in Klarheit gesehenes Ich.
Ja, selbst auf die äußere Erscheinung erstreckt sich diese Macht. Es kann vorkommen, daß ein bedeutender Mensch, der uns leiblich schon als Ruine entgegentritt und dessen Jugendbildnis wir gar nicht gekannt haben, plötzlich durch ein Wort, eine Geste, ein Aufleuchten seines Genius die schon vom Alter berührte Hülle abwirft und in Jugendgestalt vor uns steht, wie die olympischen Götter.
Eins der merkwürdigsten Hölderlinschen Gedichte aus der Zeit seines Irrsinns schließt 81 ganz unerwartet mit den prosaischen, aber seltsam ergreifenden Worten:
So muß übervorteilt,
Albern doch überall sein die Liebe.
Welche Wahrheit in diesem Satz. Der Dichter, der auch im Wahnsinn ein Seher blieb, hat damit der Liebe für alle Zeit ein sicheres Kennzeichen angeheftet: wo sie nicht albern ist und sich übervorteilen läßt, da ist die Liebe auch keine Liebe.
Es gibt keine Form, unter der heutzutage ein Mensch dauernd in den Besitz eines anderen übergehen könnte, auch nicht die eine, noch übrige Form der Leibeigenschaft, die man Ehe nennt. Einzig die Liebe kann das Ich verschenken, aber auch ihre Schenkung muß Tag für Tag wiederholt werden, damit sie gültig bleibt.
Wenn man in der Freundschaft eine schwere Enttäuschung erlebt hat, so geht noch eine Zeitlang das frühere Bild, das 82 man von dem Freunde hatte, das wertgehaltene, bewunderte, neben dem neuen, dem fremd oder feindlich gewordenen her. Es existieren dann zu unser eigenen Verwunderung für uns zwei Menschen, zwei ganz verschiedene, die denselben Namen tragen, bis das Bild des ersten, das sich nicht mehr auffrischen kann, blasser und blasser wird und endlich ganz vor dem zweiten verschwindet.
Jede echte Freundschaft ist eine grüne, abgeschlossene, tief versteckte Laube, voll von Vogelgesang und Gaisblattduft, in der nur zwei Menschen Raum haben und die doch die ganze Erde umschließt. Verlieren wir den Freund, so verschwindet das zauberhafte Laubversteck mit all seinen Heimlichkeiten auf immer. Wir können vielleicht an einem anderen Ort eine neue Laube mit neuen Heimlichkeiten und Wundern bauen, aber die des ersten werden wir niemals wiedersehen, denn mit jeder Freundschaft stirbt zugleich eine ganze Welt.
83 Jedes Individuum ist wie ein Himmelskörper in seine eigene Atmosphäre eingehüllt, der ein anderer, und wäre er der geliebteste Mensch, sich hüten muß, allzu nahe zu kommen, weil sonst unausbleiblich eine Abstoßung mit Störungen und Katastrophen aller Art entsteht. Aller Takt der Freundschaft und der Liebe gehe darauf aus, die richtige Distanz innezuhalten, um die Atmosphäre des andern nicht zu beunruhigen.
Optik der Liebe. Alle Liebe, Bewunderung, Verehrung steht unter optischem Gesetz. Es bedarf einer Perspektive, nicht um die Täuschung zu erhalten, wie die Pessimisten meinen, sondern um richtig zu sehen. Rückt man einander zu nahe auf den Leib, so sieht keins mehr das Bild des andern, es sieht nur noch Einzelheiten, die stören und erdrücken.
Zuweilen bezaubern uns Menschen durch Eigentümlichkeiten, die nur auf eine ganz bestimmte Entfernung wirksam sind. Wir 84 treten um einen Schritt näher, und der Glanz läßt nach, wir fahren weit zurück, und nun sehen wir ihn gar nicht mehr. In solchen Fällen klagen wir über Täuschung. Versuchen wir doch lieber, auf den alten Standpunkt zurückzutreten und uns von neuem an dem Farbenspiel zu ergötzen, statt wie Kinder fassen zu wollen, was gar nicht greifbar ist.
Je mehr die Menschheit sich entwickelt, desto weniger wird man es für möglich halten, daß zwei Personen, die an Geschlecht, an Abstammung und Jahren, an Anlagen und Erfahrungen verschieden sind, in eine Person verschmelzen können. Vieles Elend wird aufhören, wenn man einmal in der Ehe suchen wird, sich nicht mit, sondern neben einander einzurichten. Dazu bedarf es aber einer höheren Sittlichkeit, als der heutige Mensch mit seiner brutalen Aneignungslust erschwingen kann.
85 Nichts Roheres, als wenn der Liebende das geliebte Wesen ein für alle Mal seinem Besitzstand einverleibt und, um sicher zu schlafen, die Moral zur Hüterin seines Eigentums erklärt. Die Dauer der Liebe hat mit dem Willen nichts zu tun, folglich kann er auch nicht für sie Bürge sein, und noch weniger kann irgend eine äußere Macht den Kontrakt der beiden Herzen unterschreiben.