Isolde Kurz
Im Zeichen des Steinbocks
Isolde Kurz

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Ethik und Rhythmus

Einst wird es kommen, dass auf Erden
Sich höhere Geschlechter freu'n,
Und heitre Angesichter werden
Des Ewigschönen Spiegel sein.

                                              Moericke.

 

Alle Ethik der Zukunft wird sich mit der physischen Veredlung der menschlichen Rasse zu beschäftigen haben. Die Griechen als die ersten aller Lebenskünstler gaben viel weniger auf Erziehung als auf Züchtung. Solon verbot die Mitgiften, um eine herrliche Rasse zu erzielen. Dieser Maßregel allein, durch Jahrhunderte festgehalten, verdankt vielleicht Athen die Wunderblüte seiner Kultur und ihre innere Dauerhaftigkeit, durch die sie noch bis in unsere Tage herüberleuchtet. Als die Korruption in Athen einbrach und die Geldheiraten in Schwang kamen, war der von Solon geschaffene Typus schon so stark, daß seine Anlagen noch mehrere Jahrhunderte lang der Entartung Widerstand leisteten und fortfuhren, unvergängliche Werke zu schaffen, bevor er ganz verschwand. Kann jemals ein solcher Typus, in dem das Ideal der Menschheit Fleisch und Blut geworden ist, aufs neue zur Wirklichkeit werden, außer in vereinzelten Individuen?

102 Die engherzige Moral der Heutigen reicht nicht über die Grenze des Einzeldaseins hinaus, während der Grieche eine Ethik des ganzen Stammes hatte. Es ist Ethik im allerhöchsten Sinne, wenn ein griechischer Dichter den Paris auf dem Ida bei seiner verhängnisvollen Wahl durch die Erwägung geleitet werden läßt, daß eine herrliche Braut ein herrliches künftiges Geschlecht verbürge, während die Verheißungen der Pallas und der Here nur seiner eigenen Person zu gute kämen. Freilich, etwas von dieser ethischen Macht spüren wir auch heute noch; unser ganzes Interesse an Liebesromanen entspringt aus der (nicht ins Bewußtsein tretenden) Empfindung, daß ein höherer, im Instinkte wirkender Naturzweck mit den niedrigen gesellschaftlichen Zwecken zusammengeprallt ist – an sich könnte es uns sehr gleichgültig sein, ob der Hans die Grete oder die Liese bekommt. Aber nur der Grieche hat die Erzeugung einer edlen Nachkommenschaft als bewußte ethische Forderung formuliert.

Ein Mensch von edlen Rasseanlagen 103 müßte aus Instinkt die höchsten Opfer bringen, um diese Anlagen unverfälscht weiter zu verereben und das Edle durch das Edle zu multiplizieren; er müßte lieber seinen Stamm erlöschen sehen, als ihn mit gemeinen Anlagen kreuzen und verderben. Es war ein Mißverstehen dieses Prinzips, woraus die Adelsvorurteile entsprungen sind. Aber ist es nicht ein Rest vom Idealismus der Menschheit, der mit dem Unsinn dieser Vorurteile abstirbt?

Die moderne Gesetzgebung baut Kranken- und Irrenhäuser; sie nimmt Anstalten für Tuberkulöse, für jugendliche Verbrecher, für Krüppel und Trunkenbolde unter ihren Schutz. Lauter nutzlose therapeutische Versuche, wo Macht und Mut zur Prophylaxe fehlen. Ein veredelter Sozialismus wäre wohl einmal berufen, dem Übel wie Solon die Axt an die Wurzel zu legen. Man hebe nur erst Erbrecht und Mitgift auf, daß das Geld als Kuppler zwischen Mann und Weib keine Rolle mehr spielen kann, so werden beide Teile sofort wenigstens den körperlich ebenbürtigen Genossen suchen, und eine 104 Gesundung des Normaltypus schon in der nächsten Generation wird die sichere Folge sein. Nach einigen Generationen aber werden wieder adlige Geschlechter über die Erde wandeln, während es jetzt im besten Falle nur adlige Individuen gibt. Bei dem so gewonnenen Typus wird die Erziehung wenig Mühe haben. Denn edle Rasseanlagen, durch musische und gymnastische Ausbildung gehoben, enthalten den Keim jeder ethischen Entwicklung als etwas Natürliches und Unvertilgbares in sich, und dieser Keim wächst ganz von selber, wenn ihm der rechte Boden bereitet ist.

Über wie viele Schlachtfelder mag der Weg zur Erfüllung dieses obersten Kulturzwecks die Menschheit führen! Aber sollten auch zwei Drittel aller Lebenden dabei vertilgt werden, ja und müßten selbst die Wunderwerke einer alten, heiligen Kultur bei dem Weltbrand vollends in Stücke gehen, der Preis wäre nicht zu teuer, denn eine solche neugeborene Menschheit könnte neue Wunderwerke schaffen.

Und was sind alle Wunder der Kunst 105 neben dem höchsten Wunderwerk, dem vollendeten Menschen selbst!

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Im Altertum pflegte man die schwächlich Geborenen auszusetzen. Unsere moderne philanthropische Gesellschaft behütet gerade diese wie ihren kostbarsten Schatz und baut sogar Brutkästen für Siebenmonatkinder. Aber den unehelich gezeugten, den einzigen, von denen man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen kann, daß sie gesunde Resultate einer natürlichen Wahl, also die wahrhaft »Wohlgeborenen« sind, gönnt sie keinen Platz, sie zeichnet sie mit einem Schandmal, übergibt sie wohl gar den »Engelmacherinnen«. Sie zieht das Schwächliche und Unfähige mit Opfern auf und räumt das Starke, Gesunde aus dem Wege. Wir schlagen über die Grausamkeit der Alten die Hände über dem Kopf zusammen, aber was wird ein späteres Jahrhundert von der Philanthropie des unsrigen sagen?

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106 Musik und Ethik. Alles Gute ist nur Harmonie, Rhythmus, Einstimmen und Takthalten mit der Musik des Weltganzen. Kleinlich-egoistische, boshafte Zwecke sind ein Ausdemtaktfallen, das sich gleich mit eigener innerer Disharmonie und Unlust bestraft. Später kommt auch die Strafe von außen hinzu, denn die gestörte Harmonie stellt sich über den Friedensstörer weg wieder her. Nicht in gute und schlechte, sondern in musikalische und unmusikalische müßte man die Menschen einteilen.

Die Griechen, denen Musik und Reigentanz die Kultformen waren, unter denen sie der Gottheit dienten, hatten geradezu den Rhythmus für das ethische Gesetz erkannt, das den Menschen zum Menschen bindet. Aus dem Niedergang der Musik prophezeiten sie – nicht mit Unrecht – den Niedergang der ganzen Rasse.

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Tanzen auch ist Gottesdienst,
Ist ein Beten mit den Beinen.

Dieses frivole Wort Heines, bei den 107 Griechen ist es einmal reinste, frömmste Wahrheit gewesen. Man verbanne nur unsere abgeschmackten Rundtänze aus seiner Vorstellung, wenn man das Wort »Tanzen« hört. Jeder Tanz, vom feierlichen Chorschritt zum wildesten bakchischen Rasen, entsprang dem Griechen aus einem religiösen Drang, war ein Versuch der Annäherung an die Gottheit. Ein Einfühlen der Seele in die Harmonie des Ganzen, Anpassung der Glieder an den Schwung und Rhythmus aller Dinge, Gefühl göttlichen Gehobenseins in jeder Bewegung, liebendes Hinstreben zu den Mitgeschöpfen, sicheres Ruhen auf dem eigenen Schwerpunkt.

Man spricht jetzt wieder so viel von Religion, ohne bei dem zugestandenen Niedergang des Dogmas recht zu sagen, was man eigentlich darunter versteht. Soll es im weitesten Sinne die Verehrung einer unsichtbaren Macht und Ordnung sein, dann würde ich mit Hölderlin sagen: »Seid nur fromm, wie der Grieche war.« Nehmt zu Musik und Poesie auch die dritte der Schwesterkünste, den Tanz, den schön ausgebildeten, wieder unter 108 die Kultformen auf und dient dem Unsichtbaren »mit Herz und Leib, mit Hand und Fuß« einfältig, wie der »Tänzer unserer lieben Frau«. Das Ausströmen der Seele im Rhythmus wird sie besser reinigen, als Bußtage und Fasten, es kann eine wirkliche Erziehung zu ethischer Kultur werden. Ja, ich glaube fest, daß der Mensch im Augenblick, wo sein Körper sich am Bande einer herrlichen Musik wie an einer goldenen Kette schwingt, keines niedrigen oder verbrecherischen Gedankens fähig ist.

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Durch Rhythmus zum Rhythmus. Die Musik, die transzendentale Kunst, bringt von jenseits der Dinge die große Heilsbotschaft einer ewigen Ordnung und durchflutet damit unsere innere Welt. Die Poesie dehnt diesen Rhythmus auf das Menschenleben aus und verdolmetscht ihn durch ihre Bilder der irdischen Geschicke in einer Sprache, die wiederum Rhythmus ist. Die bildenden Künste verbreiten ihn durch Form und Farbe über alle sichtbaren, vom Menschen geschaffenen Dinge und schließen 109 damit den Ring, denn die Naturgebilde haben von selber den Rhythmus in sich.

Alle Künste haben unbewußt ein ethisches Ziel, bis zur harmonischen Bemalung eines Topfes herunter: sie wollen das rhythmische Gefühl stärken, durch das der geheimnisvolle kosmische Zusammenhang der Dinge zu uns spricht. Ethische und ästhetische Werte sind in ihrem allerinnersten Wesen eins, und auch die Religion ist nur ein anderes Wort für dieselbe Sache. Man lehre den Rhythmus der sichtbaren Dinge durchs Auge und den der unsichtbaren durchs Ohr, und man wird die junge Seele für die Forderungen des Sittengesetzes besser empfänglich machen, als durch das nüchterne »Du sollst« einer abstrakten Moral. Die einzelnen Dissonanzen wird man damit nicht aufheben, wohl aber kann man eine allgemeine Empfindung vom Einklingen des Menschenlebens in den Gang des Weltganzen erwecken, und damit das Dasein zu höherer Sicherheit und Freudigkeit emportragen.

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110 Eine Ahnung vom Wert der Künste als Erziehungsmittel dämmert heute doch der Welt. Man lehrt in den Schulen die Anfangsgründe der Musik, man sucht durch den Anschauungsunterricht das stumpf gewordene Auge für den Rhythmus der Formen wieder empfänglich zu machen. Warum ist die Dichtkunst das Stiefkind unserer Kultur geworden? Wer hat heute noch ein Ohr für den Wohllaut der Poesie? Der Durchschnittsgebildete hört vom Rhythmus eines Gedichts so viel, wie von der Harmonie der Sphären. Es ist nicht immer so gewesen. Gar nicht zu reden von der über alle Vorstellung gehenden Feinhörigkeit der Griechen – auch die Lieder der nordischen Völker, zum Beispiel die alten Balladen der Dänen und Schweden, setzten ein viel feineres Ohr voraus, als man von irgend einem heutigen größeren Publikum erwarten darf. Das macht: jene Völker hatten noch Zeit, auf die Stimmen der Natur zu lauschen, die die große Lehrmeisterin des Rhythmus ist.

Auch diese verlorene Gabe kann der Menschheit zurückgewonnen werden, durch 111 Unterweisung in der Jugend, wo die Tage noch lang und die Sinne anpassungsfähig sind.

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Von der Stärke unseres inneren rhythmischen Gefühls, das heißt von der Ahnung unseres unzerstörbaren kosmischen Zusammenhangs hängt die Grundstimmung unseres Wesens ab. Bei einzelnen bevorzugten Individuen ist die aus dieser Ahnung stammende freudige Sicherheit so groß, daß sie aus jeder ihrer Mienen und Gesten spricht und sich auf magische Weise der ganzen Umgebung mitteilt. Der Unmut klärt sich vor ihnen auf, die Schwachheit stützt sich auf sie, in bedrängten Lagen scheint ihre Gegenwart eine Bürgschaft, daß sich alles zum Guten wenden müsse, bei unwiderruflichem Unglück besänftigt sie die Heftigkeit der Schmerzen, indem sie über die augenblickliche Zerrüttung weg das Gefühl der ewigen Ordnung wieder lebendig macht.

Die Wirkung dieser Naturen ist metaphysischer Art, wie die der Musik; sie ist 112 eine unwillkürliche, denn sie hängt keineswegs mit irgend einer Macht oder auch nur Absicht, zu helfen und zu trösten, zusammen. Wir fragen auch gar nicht, woher sie stammt, wir wissen nur, sie ist, und verehren dankbar ihre Gegenwart.

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Dieses rhythmische Gefühl ist die einzige Form des Glückes, die es für den Sterblichen gibt. Und weil die Kunst danach strebt, den Rhythmus zu verbreiten, deshalb ist sie die große Weltbeglückerin, ja sie ist gleichbedeutend mit dem Glücke selbst.

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Körper und Seele. Menschen, die von Hause aus häßlich sind, aber ein harmonisches Gemüt haben, werden mit den Jahren schöner. Die Häßlichkeit, die in der Jugend als wilde, schreiende Dissonanz auftritt, läßt sich durch den inneren Rhythmus besänftigen, wo nicht in Anmut lösen. Musikalische und poetische Begabung können viel dazu beitragen, sie sind die eigentliche 113 Kosmetik der Seele, die auch nach außen zurückwirkt. Die Züge gehorchen dem inneren musikalischen Gesetz, indem sie sich gefälliger zusammenstimmen. Wenn solche Menschen sich in der Liebeswahl nicht vergreifen, so wird sogar ihre Nachkommenschaft eine schöne sein: die innere Musik, in die der Rhythmus einer anderen Seele eingestimmt hat, tritt nun lauter und mächtiger nach außen und kann zur herrlichsten Symphonie werden. Denn die Natur will immer das Schöne schaffen; wo es ihr nicht gelingt, da hat sie die Dissonanzen nicht überwinden können.

Umgekehrt werden schöne Gesichter, hinter denen boshafte, neidische, lieblose Gedanken sich verbergen, mit der Zeit häßlich. Die inneren Dissonanzen rütteln das schöne Gebäude durcheinander. Seelen, die nicht einstimmen in die Harmonie der Dinge, die also im höheren Sinne unmusikalisch sind, können die Harmonie ihrer Züge nicht festhalten. Denn Musik ist das Schönheitsgesetz selbst, in dem sich die ungeheure Ordnung und der Zusammenhang des Universums 114 ausspricht, der vom Ganzen aus alle Teile durchströmt und das Kleinste zum Größten bindet. Auch sein Äußeres zu formen, steht in des Menschen Hand, denn er ist der Herr, der Macht und Freiheit hat zu allem.

Jedes harmonische, höhergestimmte Leben schließt den Willen der Natur zur Veredlung des Leibes ein. Gymnastik ist eine herrliche Sache, um diesem Willen nachzuhelfen, aber nur der Geist ist sicher, die überwuchernde Materie zurückzudrängen, und nur die Seele führt dem Körper stets frische Säfte zu, daß er nicht verdorren kann.

Zuweilen begegnet man Menschen, die sich bis ins höhere Alter die saftreiche Frische und die Reinheit der Form bewahrt haben. Solche Gestalten sollen wir mit Ehrfurcht als etwas Göttliches betrachten, denn ihre Schönheit ist keine aus der Hand des Zufalls gekommene, sie ist der Preis eines höheren Lebens. Sie müssen für uns sein, was den Griechen ihre Heroen waren, Mittelglieder zwischen Menschen und Göttern.

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115 Man stößt sich oft daran, daß die griechischen Dichter sich so wenig mit den moralischen Qualitäten ihrer Götter und Helden befassen, daß diese Idealbilder, um ein Wort Goethes zu gebrauchen, auf »verklärten physischen Eigenschaften« ruhen.

Man vergißt dabei, daß dem Griechen Geist und Körper eins sind: verklärte physische Eigenschaften sind jedem jugendlichen Volke moralische Eigenschaften, wie viel mehr einem so künstlerisch angelegten, wie den Griechen. »Schön und trefflich« schmolz ihnen in ein Wort und in einen Begriff zusammen. Auch heute fühlen wir noch etwas von dieser Einheit durch. Die Gutmütigkeit des Starken ist bei allen Völkern sprichwörtlich, und den Italiener wenigstens kann man mit der innigsten Überzeugung versichern hören, daß nur schöne Menschen gut seien. Wenn er von einem Menschen das Wort »bello« mit dem tiefsten Nachdruck braucht, so fühlt man, daß die Vorstellung der seelischen Schönheit mit eingeschlossen ist. Anwidernde Häßlichkeit kann sich in Italien nicht zeigen, ohne der 116 öffentlichen Rüge zu begegnen. Das ist freilich ein grausamer Zug, aber es liegt ihm kein falscher Instinkt zu Grunde. Denn da die Natur das Schöne will, so ist Abirrung in der Form eine Dissonanz, die auf eine, allerdings oft weit zurückliegende, moralische Verfehlung – eine Art Erbsünde – deutet.

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Wenn die romanischen Völker vielleicht in dem naiven Rückschluß vom Äußeren auf das Innere zu weit gehen, so vertraut sich der Deutsche dagegen dem Instinkte viel zu wenig an. Es ist noch nicht lange her, daß man in Deutschland sogar geneigt war, schöne Menschen mit einem gewissen Argwohn zu betrachten, und daß körperliche Häßlichkeit und Unscheinbarkeit, plumpes, ungefälliges Wesen ein gewisses moralisches Übergewicht gaben. Einem Mädchen wurde verargt, wenn sie von ihrem künftigen Gatten ein anziehendes Äußere verlangte, wofür man noch in den Familienromanen jener Zeit den Beweis finden kann, wie überhaupt die 117 Literatur der illustrierten Familienblätter und was dahin gehört, der beste Pegel für den jeweiligen deutschen Kulturstand ist.

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Der moderne Mensch ist allmählich dahin gelangt, daß er Schönheit des Körpers kaum mehr wahrnimmt, so sehr ist er ihres Anblicks entwöhnt. Selbst die Künstler kann man mitunter auf einer großen Unsicherheit betreffen, was wahrhaft schöne Gliedmaßen sind, und gar der Laie hat in den seltensten Fällen ein Urteil. Für die herrliche Musik des menschlichen Leibes ist das natürliche Organ abhanden gekommen. Die Menschen glauben heutzutage, daß nur das Gesicht der Spiegel der Seele sei, während doch derselbe Wille der Natur, der die Gesichtszüge formt, in allen Teilen des Leibes bis herab in die feinsten Muskelfasern und Hautgewebe tätig ist, und dieselbe Kraft des Geistes durchweg die Ausgestaltung vollendet. Denn am menschlichen Körper arbeiten Geist und Natur zusammen; man würde ihn höher achten, wenn man sich das gegenwärtig 118 hielte. Wer es nicht glaubt, vergleiche nur Knochenbau und Muskulatur eines völlig gesunden, völlig normalen Modells aus dem Volke mit dem Körper eines gleichfalls völlig gesunden, völlig normalen und dabei durch Vererbung und eigene Anlagen veredelten Menschen höherer Stände. Es wird ihm vorkommen, als sähe er eine rohe Skizze neben einem ausgeführten Kunstwerk. Bei Hand und Fuß läßt man das gelten. Jedermann weiß, daß es einen aristokratischen Fuß gibt, (obwohl man darunter meistens den Stiefel versteht). Bei der Hand geht es sogar weiter: wer einigermaßen ein Auge hat, unterscheidet nicht nur die aristokratische von der plebejischen, sondern auch eine habgierige, zum Greifen und Festhalten geschaffene Hand von einer gütigen, freigebigen, eine apathische, gleichgültige von einer lebendigen. Daß der Arm die Sprache fortsetzt, und daß sie sich, mehr oder minder ausdrucksvoll, über den ganzen Körper verbreitet, daran denkt man nicht. Wenn man daran dächte, wenn diese Sprache, die auch durch die Kleider hindurch vernehmbar ist und durch eine 119 naturgemäße Tracht noch vernehmbarer werden müßte, allgemein verstanden würde, so wäre die Menschheit um einen großen Genuß reicher und hätte einen mächtigen Antrieb mehr zur Selbstveredlung.

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Auch wir Germanen haben göttliche Künstler gehabt, Deutsche und Niederländer, doch von der Herrlichkeit des menschlichen Leibes haben sie uns nichts, aber auch gar nichts geoffenbart.

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Schönheit des Leibes ist dem modernen Menschen eine halb vergessene Sage. Immerhin eine Sage ist sie doch! Aber was würde aus uns ohne die Griechen!

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»Immer die Griechen! Kannst du denn von nichts anderem reden?«

Es treibt mich, allen meinen Wohltätern zu danken. Den Griechen danke ich, wie billig, am öftesten.

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120 Auf mancherlei Gebieten habe ich mich umgetan und vieles habe ich versucht. Aber wo ich glaubte, das Beste zu haben, bei den Griechen fand ich es immer noch besser. Das ist die Wahrheit – bis herab zum Schuh.

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Die Jugend ist entschuldigt, wenn sie sich durch das Scheinbild einer anmutigen oder pikanten Äußerlichkeit verführen läßt. Sie ist dabei gar nicht so »äußerlich«, wie es scheint, sie erliegt nur einem falschen Symbolismus, weil sie eine Äußerlichkeit gar zu buchstäblich für das Wahrzeichen eines inneren Vorzugs nimmt.

Bisweilen sieht man in jungen Gesichtern solche merkwürdige, ergreifende Abzeichen eines höheren Seins, Siegel der Anmut oder Herrschaft oder der Poesie, die als das Allerpersönlichste erscheinen und doch mit der Person gar nichts zu tun haben, denn die Natur borgt sie nur auf kurze Zeit zur Erinnerung an einen früher in der Familie oder der Nation dagewesenen Typus. Es ist damit wie mit dem Familienschmuck 121 aristokratischer Geschlechter. Er wird der jeweiligen Herrin vom Majordomus für das Fest eingehändigt und nach dem Gebrauch wieder abgenommen und verschlossen, denn kein Stück davon ist ihr eigen. – Erst wenn solch ein Siegel das 30. Lebensjahr überdauert hat, kann man sagen, daß es kein geborgtes Anhängsel, sondern ein Stück Eigentum ist.

Deshalb gilt auch von der äußeren Schönheit das Wort:

Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.

 

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