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Als mein Vater im Frühjahr 1834 seine Ernennung zum Physikus des Amtsbezirks Wiesloch erhielt, war die Familie auf sieben Kinder angewachsen. Zuerst waren drei Söhne gekommen, dann drei Töchter, zuletzt noch ein Sohn; unsere Erziehung machte ihm grosse Sorgen. Um sie zu ermöglichen, entschloß er sich zu einem Opfer, dessen Größe nur richtig ermißt, wer den mühseligen Beruf eines Landarztes kennt: er verzichtete auf die Bequemlichkeiten der eigenen Familie und schickte unsere Mutter mit den Kindern nach Mannheim, wo wir gute Schulen besuchen konnten; er wohnte allein in Wiesloch und behalf sich mit mangelhafter Bedienung. Oft vergingen mehrere Wochen, bis er von seinen Geschäften abkommen konnte, um nach uns zu sehen. Er kam fast ausnahmslos zu Fuße; als ein ausgezeichneter Fußgänger benützte er abkürzende Wege durch die ausgedehnten Waldungen der Rheinebene. Die Ferien verbrachten wir bei ihm in Wiesloch.
Das Bild von Mannheim und seiner Umgebung, wie es mir aus meiner Knabenzeit in der Erinnerung steht, ist von dem heutigen sehr verschieden.
Durch den Frieden von Lunéville war Mannheim, bisher die Haupt- und Residenzstadt von Kurpfalz, 1803 an Baden gekommen und aus einer starken Festung eine offene Stadt geworden, doch war sie noch immer nicht über die Grenze ihrer ehemaligen Wälle hinausgewachsen. – Ihr Handel bedeutete wenig, ihre Industrie noch weniger, ihre breiten schnurgeraden Straßen zwischen den ermüdenden Häuserquadraten waren nur schwach belebt. Noch immer war 49 Mannheim mehr Residenz- und Garnisonsstadt als Handelsstadt. Das große ehemalige Residenzschloß der Kurfürsten diente der Großherzogin Stephanie von Baden als Witwensitz, und zahlreicher begüterter Adel, hauptsächlich der badischen Pfalz, war in Mannheim ansässig und bildete den Hof der sehr beliebten Fürstin. In fünf Kasernen lag die ansehnliche Garnison der Stadt, Infanterie, Kavallerie – je ein Regiment – und Artillerie. Das Buch eines Revisors am Ministerium in Karlsruhe, namens Heunisch: »Geographisch-statistisch-topographische Beschreibung des Großherzogtums Baden, nach offiziellen Quellen bearbeitet, 1833«, rühmt Mannheim als eine der schönsten Städte am ganzen Rheinstrom. Die große Regelmäßigkeit ihrer baulichen Anlage gefiel dem Revisor, einem Freunde der Symmetrie und Repositorien, außerordentlich, freudig bewegt fügt er hinzu: »In der Mitte der Stadt, ohnweit dem Pfälzerhofe, kann man zu den vier Toren und Barrieren hinaussehen.«
Das Jahr 1834, in welchem wir nach Mannheim kamen, legte den Grund zu der mächtigen Entwicklung von Handel und Industrie der so glücklich an dem Zusammenfluß von Rhein und Neckar gelegenen Stadt; ein neuer Abschnitt ihrer Geschichte begann. Am 9. Juli fielen die Zollschranken zwischen dem badischen und bayerischen Rheinufer; am 10. September legte Großherzog Leopold den Grundstein zu den Bauten, die allmählich den Mannheimer Hafen zu dem größten Binnenhafen des europäischen Festlandes machten. Die Ein- und Ausfuhr von Gütern – ohne Floßholz – des Mannheimer Hafenverkehrs betrug 1835 nur 26 000 Tonnen, 1895 dagegen 3 280 000. – Die Mühlauinsel, die heute von Hafenkanälen durchzogen und mit Bahnschienen, Lagerhäusern und Werkstätten bedeckt ist, war damals noch ein Lustort mit Gärten und Spazierwegen und dem vielbesuchten Mühlauschlößchen, einer guten Gartenwirtschaft, wohin sogar Großherzogin Stephanie Gäste einlud.
Als Festung hatte Mannheim auf dem linken Rheinufer einen Brückenkopf gehabt, die Rheinschanze. Sie war mit allen übrigen Festungswerken geschleift worden, der Ort aber, wo sie gestanden hatte, hieß noch immer die Rheinschanze. Es befanden sich hier keine andern Gebäude, als ein bayerisches Zollhaus mit seinem Schuppen 50 und eine kleine Strecke weiter unten am Rhein die Hemshöfe, einige Bauernhöfe, wo billiger Wein geschenkt wurde. Eine Schiffbrücke, die beim Eisgang abgeführt werden mußte, führte von der Rheinschanze nach der Stadt herüber. – So sah es Mannheim gegenüber da aus, wo sich heute Ludwigshafen hinstreckt, die bevölkertste Stadt der bayerischen Rheinpfalz, in Handel und Industrie die Rivalin Mannheims.
Die Festungswälle rings um Mannheim waren abgetragen, die Gräben aber noch nicht völlig trocken gelegt und zugeworfen. Das Sumpffieber, das die Festung oft schwer heimgesucht hatte, war nicht gänzlich ausgerottet. – In weitem Bogen zog der alte Wallgraben vom Rhein her ostwärts um die Stadt bis zum Neckar; dicht mit Schilf bewachsen lief er durch das Wiesengelände, das die Gegend des heutigen großen östlichen Villenviertels mit der Ringstraße einnimmt. In dem Rohrdickicht nisteten und lärmten unzählige geschwätzige Rohrspatzen, sie reizten unsere Jagdlust, es glückte mitunter, sie mit den Händen zu fangen. Nicht minder lockte es uns, die Uferschwalben zu überlisten, die am hohen Rheingestade gegen Sandhofen hin ihre langen unterirdischen Gänge gruben.
Angenehme Spielplätze bot der Schloßgarten mit seinen reizenden Wegen, grünen Wiesen, dichten Büschen und hohen Bäumen. Nur die Lieder der gefiederten Sänger unterbrachen die friedliche Stille des Parks. Heute ertönt hier der schrille Pfiff der Lokomotiven und rasseln lange Bahnzüge, beladen mit Gütern und Menschen, über die mächtige Brücke, die jedem Anprall von Flut und Eis widersteht, nach Ludwigshafen.
Die Mannheimer waren noch keineswegs versöhnt mit der neuen Ordnung der Dinge, die ihre Stadt vom ersten Rang der Haupt- und Residenzstadt der Kurpfalz zum Range der zweiten des Großherzogtums Baden herabgesetzt hatte. Sie klagten um die entschwundenen herrlichen Zeiten des prachtliebenden Kurfürsten Karl Theodor. Die Geschichte hat ein strenges Gericht über den üppigen Fürsten gehalten, der mehr als ein halb Jahrhundert, bis 1799, die Pfalz regierte; aber die Mannheimer schwärmten für ihren Karl Theodor, wie die Franzosen für ihren Sonnenkönig Louis XIV. Der Regentenglanz des Pfälzers verhielt sich freilich zu dem des Franzosenkönigs wie das Schwetzinger Lustschlößchen und die Spielereien seines 51 Schwetzinger Lustgartens zu dem Prunkpalaste und dem Riesenpark Versailles.
Ein Schimmer jedoch von dem erstorbenen kurpfälzischen Glanze leuchtete noch in die dreißiger Jahre hinein und ist noch heute nicht erloschen. Auf Mannheims »deutscher Nationalbühne« ist die Sonne unseres größten Dramendichters aufgegangen. Die Mannheimer schwärmten für ihr Theater, wie die Bewohner keiner anderen deutschen Stadt. – In meine Schulzeit fiel die erste Aufführung von Meyerbeers »Robert der Teufel«. Die Oper rief in allen Schichten der Bevölkerung bis zum Gassenkehrer herab eine Aufregung hervor, die bei der ersten Aufführung von Schillers Räubern am 13. Januar 1772 nicht größer gewesen sein konnte. Der Tanz der Nonnen auf den Gräbern, das Gold, das »nur Chimäre«, und nicht zuletzt das blaue Kleid von Frau Pirscher, der ersten Sängerin – »der Pärschern ihr blo Kleed« – beschäftigten alle Zungen.
Die französischen Kriege und am meisten die Belagerung von 1795 durch die Oesterreicher hatten Mannheim furchtbar heruntergebracht. Seine Einwohnerzahl hatte 1777 die Höhe von 25 300 erreicht gehabt, sie war 1802 auf 13 000 gesunken und betrug 1834 erst 20 000, somit war die Ziffer von 1777 noch nicht wieder erlangt worden. Der gute und bescheidene Heunisch gibt am Schlusse der Beschreibung Mannheims der Hoffnung Ausdruck, die Stadt dürfte »leicht, bei dem Emporkommen des Handels, zu einer Größe von 30 000 Einwohnern gelangen.« Sie zählte 1897, am Schluß des Jahrhunderts, 100 000; ihre Nachbardörfer, Neckerau und Käfertal, die 1833 1450 und 1240 Einwohner hatten, erreichten den Umfang kleinerer Städte mit nahezu 8000 und 7000 Seelen; Ludwigshafen, die ehemalige öde Rheinschanze, zählte 40 000; großartige Fabriken erstrecken sich von Mannheim meilenweit rheinab und rheinauf am Strom. Auf derselben Bodenfläche finden heute siebenmal mehr Menschen ihren Unterhalt, viele Wohlstand und Reichtum.
Zur Charakteristik Mannheims in meiner Schulzeit dient die Tatsache, daß ich am 24. Juni 1834 mit andern Knaben auf der Straße vor unserer Wohnung über das Johannisfeuer gehüpft bin. Das heidnische Fest der Sonnenwende durfte noch ungehindert mitten 52 in der Stadt begangen werden. Die Schuljugend zündete Holzscheiter an und setzte über das Feuer. – Schöner hat sich das uralte Fest im badischen Oberland erhalten. Die jungen Burschen zünden bei Einbruch der Dunkelheit auf den Höhen Holzstöße an, machen durchbohrte Holzscheiben glühend und schleudern sie mit Hilfe langer Stäbe als feurige Raketen in weitem Bogen durch die Nacht.
Bei der Einweihung des Hafens zogen wir Lyceisten in dem langen Festzuge mit den Volksschülern, Bürgern und Beamten an den Rhein, wo Großherzog Leopold den Grundstein legte. Wie bei allen Festlichkeiten durfte hiebei das Bürgermilitär nicht fehlen. Im vollen Waffenschmuck rückten die Tapferen aus und boten den bewundernden Knaben ein schönes Bild der großen Armee des napoleonischen Kaiserreichs, dem Baden einst Heeresfolge geleistet hat.
Die Truppen sammelten sich jeweils zum Ausrücken vor dem Wirtshaus zur Rose auf dem Marktplatz. Den Zug eröffnete eine Kompagnie Grenadiere mit hohen Bärenmützen, die der Mannschaft in ihren blauen Fräcken mit weißen Abzeichen und in weißen Hosen ein martialisches Aussehen verliehen. Ihnen voraus gingen und rasselten gewaltig die Tambours, an ihrer Spitze schritt majestätisch der Tambourmajor, schleuderte seinen langen Stab mit dem goldenen Knopf hoch in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf. Auch zwei Sappeurs, mit Bärenmützen, Beil und Schurzfell und erstaunlich langen Bärten, imponierten uns gewaltig. Hinter der Infanterie kam eine Reiterschwadron, den Zug beschloß eine Batterie mit drei Kanonen, die Großherzog Leopold der Stadt geschenkt hatte.
Dem Maifest auf der Kuhweide vor dem Heidelberger Tor am ersten Sonntag des Mai verlieh das Bürgermilitär seinen größten Schmuck. Es bezog Zelte, manöverierte und pokulierte. Einmal, ich war bei dem Ereignis zugegen, stieg im Westen ein Gewitter drohend am Himmel auf. Die Kanoniere hielten Kriegsrat. Sie verließen Zelt und Becher, bespannten ihre Geschütze, fuhren aufs freie Wiesenland und richteten ihre Kanonen gegen das Gewitter. Nach etlichen Schüssen klärte sich der Himmel lachend auf. Triumphierend kehrten die Krieger ins Lager zurück. 53