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Während meiner Wiedergenesung ergriff mich im Monat Mai eine unwiderstehliche Sehnsucht, Altheidelberg zu sehen. Obwohl ich mich noch schwach auf den Beinen fühlte, unternahm ich die Fahrt. Unterwegs stieg ich in Karlsruhe aus, um Heinrich Goll, der im Jahre zuvor mein Gast in Kandern gewesen, einen Gegenbesuch zu machen; er wohnte bei seinen Eltern, die mich freundlich aufnahmen. Die Reise aber bis Karlsruhe hatte mich so angegriffen, daß ich nach kurzem, eintägigem Aufenthalt aus Furcht vor einem Rückfall, nach Kandern zurückkehrte, ohne Heidelberg gesehen zu haben.
Golls Vater, Vorstand des Hauptsteueramtes, besaß in seiner kleinen Bibliothek ein Buch, das er hoch hielt: die Gedichte eines Dorfschulmeisters Samuel Friedrich Sauter aus Flehingen im Kraichgau, nahe der württembergischen Grenze. Sauter hatte in seinem 75. Lebensjahre, 1845, seine gesammelten Gedichte bei Crenzbauer und Hasper in Karlsruhe »in Kommission gegeben« und fünf Jahre nachher das Zeitliche gesegnet. Ich fand das Buch zufällig, es stand in der »guten Stube«. Vater Goll war so gütig, mir es nach Kandern mitzugeben, wo ich es acht Tage behielt und mit unbeschreiblichem Vergnügen durchlas.
In den Gedichten entdeckte ich einen bisher ungehobenen Schatz einer eigenartigen Poesie von ungewöhnlich komischer Kraft. Die Gedichte waren meist ganz ernst gemeint und nicht auf Erregung der Lachmuskeln berechnet; aber gerade weil sie diese unbeabsichtigte Wirkung hatten, wirkten sie doppelt lustig, und darin lag der Humor.
Der Dichter war ein altväterischer Dorfschulmeister gewesen und zeitlebens frei geblieben von sentimentalen, weltschmerzlichen und politischen Anwandlungen. Dadurch unterschied er sich wesentlich von andern Dichtern, die, der wechselnden poetischen Zeitströmung 487 huldigend, gleichfalls unbeabsichtigte komische Wirkungen erzielten. Er war ganz und gar naturwüchsig und harmlos. Seine poetische Ader glich den friedlichen Bächlein seiner stillen Kraichgauer Heimat, über die er kaum je hinauskam. Seine Muse kannte nur die Freuden und Leiden seines Dorfes, hier hatte er mit den andern Jungen die Zwetschgen geschüttelt und die Walnüsse von den Bäumen gebengelt, hier als Schulmeister die Jugend in der Furcht Gottes und des Herrn Amtmanns erzogen, hier hatten ihm die Gevattersleute seine Appollonia »gekuppelt«, die Gute, die 33 Jahre getreu mit ihm gehaust und ihm sieben Kinder beschert hatte. Ihr Tod hatte ihn zum betrübten Witwer gemacht. »Traurig ist es einsam leben!« sang der Verlassene, »einsam schlafen, nichts daneben!« Eignes und fremdes Leid bewegte sein Herz, und das »Zeitungsblättle« hielt ihn mit den großen Weltereignissen auf dem Laufenden. »Leipzigs achtzehnten Oktober schrieb er in das Zeitbuch mit Zinnober.« Teilnehmend besang er den großen Brand in Kürnbach, »diesem Marktfleck zweier Staaten, abgeteilt bei Hessen und bei Baden.« Rührend flehte er zum Himmel: »Es steht ein Wetter grad über der Erd, wenn's nur ins Württembergische fährt!« Und innigen Dank spendete sein warmes Gemüt dem Pfarrverweser Fesenbeck, der sich die Liebe der Flehinger verdient hatte:
»Fesenbeck, bei deinem Scheiden Werden unsre Augen naß, – Alle wollen dich begleiten, Sieh die große Menschenmass'! Nie noch war die Liebe größer Gegen einen Pfarrverweser.« |
Zu meinem Erstaunen fand ich mitten unter diesen drolligen Gedichten drei mir bekannte, die zu Volksliedern geworden waren, auch in Gedichtsammlungen Aufnahme gefunden hatten und für Erzeugnisse des Wandsbecker Boten Claudius galten, an dessen Dichtungsweise sie erinnerten. Zwei davon hatte ich als Student singen hören, das »Kartoffellied« und das »Lied vom Dorfschulmeisterlein«. In jenem verkündet er das Lob eines Wohltäters der Menschheit:
»Herbei, herbei zu meinem Sang, Hans, Jörgel, Michel, Stoffel, 488 Und singt mit mir das Ehrenlied Dem Bringer der Kartoffel.« |
Fast möchte man glauben, es habe dieses Lied den Bildhauer Friederich in Straßburg angeregt, den englischen Seehelden Drake in Stein auszuhauen, und der Nachbarschaft Offenburg zu schenken, wo er in Admiralstracht vor dem Rathause steht und von den Bauern, die zu Markte fahren, der Kartoffelmann genannt wird, weil ein Kranz von Kartoffelknollen zu den Füßen des Admirals angebracht ist. – In dem Liede vom armen Dorfschulmeisterlein: »Willst wissen du, mein lieber Christ, wer das geplagtste Männlein ist?« wird der Poet vom unbewußten Humoristen zum bewußten Schelm, bleibt aber immer der gleiche, gutmütige biedere Alte, dem die Natur Gift und Stachel versagt hat. – Das dritte Gedicht nahm sich unter den andern aus wie eine reizende Kornblume im Rübenfeld, es war der »Wachtelruf«: »Horch, wie schallt's draußen so lieblich hervor!« Ob das prächtige Lied ganz auf Sauters Boden gewachsen ist, scheint mir nicht sicher, denn im ersten Bande von des Knaben Wunderhorn (Heidelberg und Frankfurt 1806, S. 159) findet sich bereits ein Gedicht »Wachtelwacht«, das einem fliegenden Blatt entlehnt ist und mit dem Rufe anhebt: »Hört, wie die Wachtel im Grünen schön schlägt: lobet Gott! lobet Gott!« Immerhin ist das Lied Sauters entschieden schöner und singbarer, die Idee aber scheint er dem fliegenden Blatt entlehnt zu haben.
Mein unerwarteter Fund gab Anlaß zur Einführung des Dichters »Biedermaier« in den deutschen humoristischen Musenhain. Nach Kandern zurückgekehrt, schnitt ich sofort dessen drollige Figur aus der Sauterschen Sammlung heraus, stellte eine Anzahl der Gedichte unverändert, andere abgeändert, sowie einige, neu von mir in Sauters Geiste verfaßte, zusammen und überschickte »das große Werk weniger Tage«, wie ich mich ausdrückte, nebst einer Vorrede, welche die Biedermaierpoesie scharf charakterisierte, meinem Freunde Eichrodt, der damals in Durlach wohnte. Ich forderte ihn zur Mitarbeit auf mit der Bemerkung: »Obschon du den Sauter nicht übertreffen kannst, so dürfte dir's doch gelingen, ihn zu erreichen.« Ich legte Sauters Gedichte bei und bat, sie dem alten Goll zurückzugeben. Daran 489 reihte sich ein Briefwechsel. Eichrodt schickte mir zahlreiche Gedichte, die bis auf wenige nicht in die Kategorie der echten Biedermaierpoesie gehörten. Wir kamen deshalb überein, sie einem fingierten, von der Politik bereits angekränkelten und mit Schiller und Goethe befreundeten Buchbinder Treuherz unterzuschieben. Eine dritte Kategorie solcher komischer Gedichte, die durch witzige, mit Glück nachgeahmte Naivetät absichtlich Heiterkeit zu erzielen trachteten, unterschieden wir das Schartenmeiersche; unter dem Namen Schartenmeier hat bekanntlich der Aesthetiker Fr. Th. Vischer als Student das köstliche Bänkelsängerlied vom Helfer Brehm seinen Freunden vorgetragen.
Wer sich für die Geschichte der Biedermaier-Schöpfung interessiert, findet sie ausführlich erzählt in der Biographie Eichrodts von KennelKennel (Professor am Gymnasium in Speier), Ludwig Eichrodt, ein Dichterleben, Lahr, Schauenburg, 1895. S. 75–83., der sie aktenmäßig nach meinen, aus Eichrodts Nachlaß mitgeteilten Briefen dargestellt hat. Das Buch Biedermaier im 2. Bande von Eichrodts gesammelten Dichtungen stammt bis auf wenige Gedichte, die Eichrodt zurecht gemacht oder verfaßt hat, aus Sauters Sammlung oder von mir, die Vorrede ist wörtlich dieselbe, die ich ihm von Kandern schickte. Auch die Vorrede zu den Gedichten des Buchbinders Treuherz habe ich geschrieben, diese Gedichte aber hat alle, bis auf die politischen Triolette, die von mir herrühren, Eichrodt verfaßt.
In der Vorrede zu den Biedermaier-Gedichten hatte ich bemerkt, daß sich auch bei den größten Dichtern Biedermaiersche Gemeinplätze fänden. Die Herausgeber der Fliegenden Blätter, denen Eichrodt unsere Scherze überschickte, machten sich auf diesen Wink hin den Spaß, dem Sauter-Biedermaier ein echtes Sprüchlein von Goethe aus der Abteilung »Parabolisch«: »Eins wie's andere,« unterzuschieben, ohne daß es beanstandet wurde.
Ausdrücklich sei noch bemerkt, daß ich in einer Note zu dem Vorwort auf Sauter, als den echten und eigentlichen Biedermaier, hinwies, um keines Plagiats geziehen zu werden. Seit ich jedoch Gedichte nach seinem Vorgang und Vorbild verübte, hat mich die Muse gemieden. 490