Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Die gelöste Preisfrage.

Die Heidelberger Universität feiert ihr Stiftungsfest jährlich am 22. November, dem Geburtstage Karl Friedrichs, ihres Wiederherstellers. Mit der Feier verbunden ist die Verkündung wissenschaftlicher von sämtlichen Fakultäten gestellten Preisfragen für die akademische Jugend und die Verleihung der, nach Karl Friedrichs Bestimmung gestifteten, goldenen Medaillen an die glücklichen Preisträger des abgelaufenen Studienjahrs. Unter Zuströmen zahlreicher Gäste versammelt sich die akademische Körperschaft in der Aula, der Prorektor hält die Festrede und gibt die Geschichte der Hochschule vom letzten Jahr. Die Feier schließt mit der lauten Verkündigung der Namen der preisgekrönten Jünglinge und der neuen Preisfragen für das laufende Jahr.

Diese Einrichtung ist für Studenten und Dozenten gleich nützlich. Jene lockt sie über das Brotstudium hinaus zu höher gesteckten Zielen, diesen ist sie ein Gradmesser der geistigen Regsamkeit der Studentenschaft und der eigenen Kraft und Befähigung, die Jugend zur Arbeit anzuspornen. – Obwohl die Wogen des Studentenlebens hoch gingen, war das Jahr 1843/44 ein fruchtbares gewesen. Wie es gute und schlechte Getreide- oder Weinjahre gibt, so auch gute und schlechte Studienjahre. Das vergangene gehörte zu den besten der Ruperto-Carola; sämtliche Preisaufgaben der Fakultäten waren gelöst worden, die theologische sogar doppelt.

Die medizinische Fakultät hatte ihre Aufgabe der Augenheilkunde entnommen. Es war verlangt worden »eine anatomisch-physiologische 254 und pathologische Untersuchung der verschiedenen Farben, die unabhängig von den durchsichtigen Medien im Grunde des Auges erscheinen.«

Chelius hatte dieses Thema ausgewählt, sein Sohn Franz, der die Kliniken mit mir besuchte, fragte mich, ob ich wohl Lust trüge, es zu bearbeiten, sein Vater stelle mir seine Bibliothek zur Verfügung.

Vor der Einführung des Augenspiegels glich die Diagnostik der Augenkrankheiten dem Bestimmen der Pflanzen durch einfaches Betrachten beim Botanisieren in Wald und Feld, wie ich es viel geübt hatte. In den großen Ferien hatte ich das Handbuch der Augenheilkunde von Chelius gut einstudiert und die darin beschriebenen Bilder so genau im Kopf behalten, daß es mir in der Klinik mehrmals gelang, auch solche Fehler am Auge, die bisher noch nicht zur Beobachtung gekommen waren, zu diagnostizieren. Da mein Lehrer hieraus ersehen hatte, daß mich die Augenheilkunde besonders anzog, ließ er mich durch seinen Sohn einladen, die Preisfrage in Angriff zu nehmen. Ohne langes Besinnen war ich dazu bereit. Mein Vater hatte mir einst gesagt, ich könne ihm keine größere Freude bereiten, als wenn ich die goldene Karl-Friedrich-Medaille heimbrächte; es gelang mir vielleicht, ihn damit zu überraschen.

Zunächst erkundigte ich mich genauer, worauf es die Preisfrage eigentlich absah. In der Hauptsache wünschte Chelius, wie ich von ihm selbst erfuhr, eine kritische Zusammenstellung der zahlreichen bestehenden Theorien über das Wesen des Glaukoms, derselben Krankheit, die, wie ich früher erzählte, Rudolf v. Freydorf um ein Auge gebracht hat. Sie erhielt ihren Namen von der blaugrünen Farbe, die der Augenstern, auch Pupille genannt, statt des normalen Schwarz bei ihr annimmt. Glaukos bedeutet im Griechischen blaugrün; diese auffallende Farbenänderung galt für das wesentliche Kennzeichen der Krankheit, heute erachtet man andere Symptome für noch wichtiger und beständiger als die grünliche Färbung.

Eifrig machte ich mich an die Literatur meines Themas. Sie war groß, und ich mußte sie aus den Bibliotheken der Universität und meiner Lehrer Chelius und Tiedemann zusammentragen. Es 255 war mir ein großer Genuß, die Wissenschaft vom gesunden und kranken Auge durch ihr weites Quellengebiet zu verfolgen. Dabei merkte ich bald, daß die Frage nach der abnormen grünen Farbe des Augensterns von der Vorfrage abhängt, warum der normale Augenstern schwarz erscheint? Diese Vorfrage läuft darauf hinaus: warum sieht man hinter den durchsichtigen Gebilden des Auges, hinter der Hornhaut, dem Augenwasser, der Kristallinse und dem Glaskörper, nicht die völlig undurchsichtigen Gefäße der Sehhaut und die Eintrittsstelle des Sehnervs? Man kann sie sofort sichtbar machen, wenn man, wie im vorigen Jahrhundert Mery beobachtet hat, ein ausgeschnittenes Auge, etwa ein Kalbsauge, unter Wasser betrachtet. Dieser Versuch beweist, daß dioptrische Einrichtungen der Erscheinung zu Grunde liegen. Soviel wurde mir klar, mehr leider nicht.

Die Frage: warum ist die Pupille schwarz, scheint so nahe zu liegen, daß man meinen sollte, sie müsse sich der Forschung frühe schon aufgedrängt haben. Zu meiner Ueberraschung fand ich sie nirgends aufgestellt. Die schwarze Farbe der Pupille erschien so selbstverständlich, daß sogar der Versuch von Mery unbeachtet geblieben war. – Es wiederholte sich eine gemeine Erfahrung. Der Mensch fragt eher nach dem Grunde der fernsten und der letzten Dinge, als nach der Ursache der nächsten. Die Erschaffung und der Untergang der Welt beschäftigten die Menschheit Jahrtausende lang und Kosmogonien wurden ersonnen und der jüngste Tag beschrieben, ehe sie die Fragen aufwarf, warum der Apfel zur Erde fällt und der Pendel schwingt.

Erst wenn solche, anscheinend einfache Fragen über den Grund »selbstverständlicher« Dinge aufgestellt werden, erkennt man bei ernstlicher Prüfung ihre schwierige und verwickelte Natur. Es gilt, sie in ihre Teile zu zerlegen und zu ermitteln, wie das Ganze aus ihnen entsteht. Dabei kann es geschehen, daß alle Punkte bis auf einen einzigen klar gelegt werden, und dieser einzige ist gerade der Angelpunkt. Bleibt er dunkel, so ist alle auf die Forschung verwandte Arbeit vergeblich. – So ist es mir ergangen.

Donders, der berühmte Physiolog in Utrecht, dem die gesamte Wissenschaft vom Auge so viel verdankt, veranlaßte seinen Schüler 256 van Tright, die Geschichte des Augenspiegels bis zum Jahre 1854 zu schreiben; Dr. Schauenburg hat die Schrift ins Deutsche übersetzt (Lahr, 1854). Sie erkennt mir ein doppeltes Verdienst zu. Ich hätte, erzählt sie, als der erste die Frage aufgeworfen und richtig formuliert, warum das innere Auge dunkel erscheine, und ich hätte gleichfalls zuerst mich bemüht, aus Merys Versuchen Nutzen für die Praxis zu ziehen. In der Tat machte ich den ersten Versuch, einen Augenspiegel zu konstruieren. Es gereicht mir noch heute zur größten Freude, als Student zuerst die Bedeutung eines Problems erkannt zu haben, das freilich nur das Genie eines Helmholtz zu lösen vermochte. Ich gab meine Abhandlung vor meinem Abgang von der Universität an Ostern 1845 heraus. Sie führt den Titel: »Die Farbenerscheinungen im Grunde des menschlichen Auges. Heidelberg, Karl Groos«, 1845 Ich beschrieb darin den Augenspiegel, den ich konstruiert hatte, und sagte den Nutzen vorher, den es haben müsse, wenn es gelänge, den Augengrund sichtbar zu machen.

Mit meinem Augenspiegel erging es mir, wie dem bekannten spanischen Edelmann mit seiner Stute. Es war die beste in dem Reiche Karls V., worin die Sonne niemals unterging. Das herrliche Tier hatte nur einen Fehler, man konnte auf ihm nicht reiten, es war tot. Mein Augenspiegel war der beste der Welt, denn es gab nur einen, den meinigen, aber er hatte den Fehler, man konnte damit nicht sehen.

Die Fakultät erteilte mir den Preis. Nach damaligem Brauche wurden die Preisträger zum Festmahle der Universität geladen und von ihren Fakultätsdekanen bewirtet. Ich saß zur Rechten Tiedemanns; er war liebreich gegen mich, wie ein Vater, mein eigener konnte kaum zärtlicher gegen mich sein.

Das Urteil der Fakultät war lateinisch abgefaßt.Es lautet wortgetreu: »Non dolet ordo, unam tantummodo commentationem traditam esse. Auctor enim hujus commentationis ea, quae ad quaestionem referenda sunt, eximia eruditione tractavit, praeclara sagacitate disjudicavit, experimentis ab ipso institutis auxit et laudata diatribe ita omne tulit punctum, ut fere nihil relictum esse videatur. Quare commentationem praemio ornandam esse uno ore censuit ordo medicorum. - Tiedemann, h. t. Decanus.« Auch meine Abhandlung hatte ich in lateinischer Sprache vorlegen müssen, doch legte ich der lateinischen Uebersetzung die deutsche Urschrift in einem besonderen Hefte bei. Der Fürwitz trieb mich, an dem lateinischen Hefte – es hatte Schreibbogenformat, wie auch das deutsche – einige Blätter an den Ecken, je zwei zusammen, einzubiegen; ich wollte sehen, ob das lateinische gelesen würde, wie ohne Zweifel das deutsche. Als ich beide zurückerhielt, waren die lateinischen Blätter noch immer fest an den Ecken verbunden, die deutschen gelöst.

Die Fakultät überschüttete meine Abhandlung mit Lob. Nach ihrem einstimmigen Urteil sollte ich die Frage mit solchem Aufwand von Gelehrsamkeit, Scharfsinn und Versuchen bearbeitet haben, daß fast jeder Punkt erschöpfend behandelt worden sei; ich wußte es besser, als die Fakultät: gerade an dem Angelpunkte war ich gescheitert. Der Schlüssel des Geheimnisses steckte in der Optik, meine Kenntnisse reichten nicht aus; ich ging zu Professor Jolly, dem Physiker, ob er mir nicht helfen könne. Er fragte mich, ob denn die Sache so wichtig wäre. So wichtig, erwiderte ich, daß die Erfindung des Instruments, das mich beschäftigt, eine neue Augenheilkunde schaffen würde. Ich verstand nicht, ihm die Sache deutlich zu machen. Er riet mir, polarisiertes Licht zu versuchen. Was sollte mir das helfen? Ich ließ die Versuche liegen, denn das Examen stand vor der Türe.

Einst klagte ich Helmholtz, wie es mir ergangen sei. Er tröstete mich. Brücke, der berühmte Physiologe, dem seine Versuche über das Augenleuchten die praktische Bedeutung dieser Frage so nahe gelegt hatten, wäre daran vorbeigegangen, und der geniale Gräfe hätte sich mit dem Problem des Augenspiegels vergebens beschäftigt. – Eins hatte ich doch erreicht, meinem Vater hatte ich einige glückliche Stunden bereitet. 258

 

 


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