Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Meer

An einem Dienstag waren die Neuvermählten nach Hause gekommen. Am Samstag in derselben Woche ging Sven Elversson ins Pfarrhaus, um dem Pfarrer einige auf das Schulhaus bezügliche Urkunden zu überbringen. Er war ohne weiteres über Treppe und Flur ins Studierzimmer des Pfarrers gegangen, blieb aber dort dicht an der Türe stehen.

Es war Amtstag, das wußte Sven, und wenn es auch schon spät war, hatte er doch durchaus nichts anderes erwartet, als er werde den Pfarrer an seinem Schreibtisch finden; allein er konnte ihn weder da noch sonstwo im Zimmer entdecken. Die großen Bücher, die an Amtstagen immer vorhanden waren, lagen jedoch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und die Feder steckte im Tintenfaß, der Pfarrer konnte also nicht weit sein, das war deutlich zu sehen.

Sven Elversson, der immer am liebsten so wenig Wesen als möglich aus sich selber machte, mochte nicht wieder über den Flur gehen, um in der Küche nachzufragen, ob der Herr Pfarrer zu Hause sei, auch mochte er ihn nicht in den anderen Zimmern aufsuchen. Er dachte, es sei gewiß nichts Böses, wenn er ruhig an der Tür stehen bleibe und warte.

Aber während er so dastand und wartete, hörte er im Nebenzimmer Stimmen, und da die Tür nur angelehnt war, konnte er jedes Wort ganz deutlich verstehen.

»Weißt du, Sigrun, um diese Zeit kommt die Post,« hörte er den Pfarrer ganz heiter und sorglos sagen. »Ich kann aber nicht selbst gehen und meine Sachen holen, weil heute Amtstag ist.«

»Liebster, das paßt ja ausgezeichnet!« erwiderte die junge Hausfrau ebenso heiter und unbekümmert. »Malin hat gerade einen Gang zum Krämer zu machen, da kann sie die Zeitungen gleich mitbringen.«

»Also um dies zu sagen, ist er weggegangen,« dachte Sven Elversson, und er nahm an, der Pfarrer werde nun, nachdem das geschehen war, zurückkommen.

Aber wieder war die Stimme des Pfarrers im inneren Zimmer zu vernehmen.

»Hättest du nicht Lust, selbst zu gehen, Sigrun?« fragte er. »Jetzt am Nachmittag ist das Wetter prächtig geworden, und die Wege sind nach dem vielen Regen, den wir seit Dienstag gehabt haben, auch wieder trocken. Die frische Luft würde dir gewiß gut tun.«

Das wurde sanft und freundlich gesagt, nur wie ein guter Rat, und ebenso freundlich gab die junge Frau Antwort.

»Ich würde dir sehr gerne die Post holen, Eduard, aber du siehst ja, die Vorhänge liegen im ganzen Zimmer verstreut; ich kann nicht gehen, ehe ich sie aufgemacht habe.«

»Nun ist diese Frage wohl erledigt,« dachte Sven Elversson. Zugleich aber fiel ihm auf, daß die Stimme des Pfarrers, die eigentlich männlich und klangvoll war, wenn man sie neben der weichen und leisen Stimme der jungen Frau hörte, beinahe ihren Wohllaut verloren hatte und einen rohen und ungebildeten Eindruck machte.

Aber seine Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Der Pfarrer schien noch keine Lust zu haben, den Gegenstand fallen zu lassen.

»Ist vielleicht die Prinzessin von Stenbroträsk zu gut dazu, mir meine Zeitungen zu holen?« fragte er. Das sollte natürlich ein Scherz sein, aber es war doch zu merken, daß er ärgerlich war, weil sie sich nicht hatte nach seinem Wunsch richten wollen.

»Nein, Eduard, das ist nicht der Fall.«

»Oder ist es vielleicht zu häßlich und zu langweilig hier in Applum? Die gnädige Frau kann wohl nicht ausgehen, wenn keine Herrenhöfe und Eisenwerke da sind, die man beschauen kann? Soll ich vielleicht Pferd und Wagen kommen lassen, damit – –«

»Eduard!« rief sie.

»Ja, ich weiß wohl, mit Stenbroträsk kann nichts verglichen werden,« sagte der Mann mit einem etwas zornigen Lachen. »Aber ich hätte gedacht, es wäre nicht unter deiner Würde, auf dem Boden von Applum zu wandeln.«

»Das ist es nicht, Eduard. Ich kann nicht ausgehen.«

»Du kannst nicht?« fragte der Mann scheinbar außerordentlich erstaunt.

Die eine Äußerung war so rasch auf die andere gefolgt, daß Sven Elversson ganz verdutzt stehen geblieben war. – »Das sollte ich eigentlich nicht mit anhören,« dachte er. Er faßte die Türklinke, öffnete die Tür und machte sie wieder zu, trat hart auf und hustete, damit die beiden seine Anwesenheit merken sollten; allein sie ließen sich nicht stören, und das Zwiegespräch ging weiter.

»Nein, ich kann nicht,« wiederholte die junge Frau. »Es ist etwas hier, was mich erstickt und mir den Atem raubt. Und das ist nicht etwa Heimweh, nein, es ist etwas anderes. Ich bin frisch und glücklich, solange ich im Zimmer bin, aber sobald ich hinauskomme, fällt es über mich her.«

Sie redete heftig und abgebrochen, stieß die Worte eigentlich nur hervor.

»Aber Sigrun!« rief der Pfarrer. »Was ist das nur mit dir? Ich hab' es ja gar nicht so schlimm gemeint!«

»Nein, ich bin nicht hochmütig!« rief sie. »Frage doch zu Hause an, so wirst du hören, daß ich niemals hochmütig gewesen bin. Und ich kann auch nicht deshalb nicht ausgehen, weil es hier häßlich ist. Ach, es ist etwas anderes! Wenn ich nur selbst wüßte, was es ist.«

»Höre, Sigrun, du mußt mir erklären, was du meinst,« sagte der Pfarrer. »Das scheint mir etwas zu sein, dem wir gleich mit rechtem Ernst zu Leibe gehen müssen.«

Sven Elversson wußte gar nicht, was er anfangen sollte. Hatte er nicht schon zuviel gehört, um jetzt noch seine Anwesenheit zu erkennen zu geben? Er ging bis zur Flurtür, blieb aber dort stehen und kehrte dann wieder um. Immer war er unsicher, wie er sich benehmen sollte. Niemand konnte so ratlos und so ohne alles Selbstvertrauen sein, wie er.

»Ich wollte nicht gerne mit dir darüber reden,« sagte die junge Frau, und wieder sprach sie stoßweise und ungeduldig. »Eigentlich ist es ja auch gar nichts. Es ist nur etwas, das mich überfällt, sobald ich das Pfarrhaus verlasse. Aber es ist nichts, was ich sehe und höre, sondern etwas, das mir ein Gefühl des Mitleids mit mir selber einflößt. Ich bedauere mich selbst, weil ich nie wieder von hier fortkommen werde. So muß es den Verbannten zumute sein, wie mir hier. Und doch ist es nichts anderes als das Gefühl, gerade an dem einen Platz bleiben zu müssen, an demselben engen, eingeschlossenen, einförmigen, trostlosen Ort.«

»Ganz gewiß sagt sie das nur, um wieder etwas ebenso Schönes zu hören wie neulich,« dachte Sven Elversson. »Und der Pfarrer hat Verstand und Gemüt, er wird sie schon wieder froh machen. Das geht bei ihm wie im Spiel.«

»Wenn hier nur irgendwo eine freie Aussicht wäre! Wenn ich nur nicht in einer Grube wohnen müßte, wenn ich nur nicht diese Bergwand um mich her hätte! Aber ich bin wohl zur Strafe für irgend etwas Böses, das ich getan habe, hierhergekommen. Kannst du mir denn gar nichts sagen, was mir helfen kann?«

»Ganz gewiß werde ich jetzt etwas Schönes vernehmen,« dachte Sven Elversson. »Ich freue mich darauf, zu hören, wie er ihr diesmal helfen wird.«

In der Tat war ihm jetzt auf seinem Lauscherposten an der Tür gar nicht mehr so unbehaglich zumute. Die Stimme der jungen Frau klang köstlich in seinen Ohren, und von dem Pfarrer erwartete er jetzt etwas Stimmungsvolles und Ergreifendes.

»Ich hab' es immer wieder versucht, auszugehen,« sagte sie, »aber es geht nicht. Du kannst dieses Gefühl nicht verstehen. Es ist mir, als müßte ich ersticken. Es schnürt mir die Kehle zu. Und dann stürzen mir die Tränen aus den Augen.«

»Nun sieh einmal, Sigrun! Das ist doch eigentlich gar nichts,« sagte der Pfarrer. »In der Luft hier ist sicher nichts, das wir nicht sehen. Du bildest dir das also nur ein.«

»Nein, nein!« erklärte sie. »Es ist hier etwas Böses, das mich haßt und mir mein Glück rauben will. Weißt du, was ich immer wieder tue? Ich stelle mich vor das ärmliche Bildchen von Stenbroträsk, das mir eine meiner Basen gemalt hat und über das ich nur lachte, als ich es bekam. Und wenn ich dann eine Weile lang den Fluß und die Propstei mit den großen Linden am Tor betrachtet habe, dann steigt wieder etwas mehr Lebensmut in mir auf.«

»Ich fürchte, dies ist der Anfang zu einer fixen Idee, Sigrun,« sagte der Pfarrer, und dann hörte Sven, daß er in einen ermahnenden, überlegenen Predigerton verfiel. »Und dies muß meiner Ansicht nach gleich zu Anfang bekämpft werden. Ich fürchte, ich muß von dir verlangen, daß du sofort hingehst und mir die Zeitungen holst.«

»Aber ich kann nicht!« rief sie. »Ich kann nicht!«

Sven Elversson begriff recht wohl, wie ernstlich der Pfarrer bemüht war, seiner Frau zu helfen. Aber er hatte erwartet, der Pfarrer werde es auf eine andere Art tun, obgleich diese vielleicht die ganz richtige sein mochte. Er seinerseits hätte gewiß nicht gewußt, wie er es hätte angreifen sollen.

»Nun hör' mich einmal an, Sigrun,« fuhr der Pfarrer fort. »Du siehst wohl selbst ein, daß mit so etwas nicht zu spaßen ist. Gegen so etwas muß man ankämpfen. Du bist frisch und gesund. Du kannst mir nicht im Ernst weismachen wollen, du seiest nicht imstande, diesen kleinen Gang zu machen. Ich bin auf jeden Fall gezwungen, es von dir zu verlangen, um unseres gemeinsamen Glückes willen, damit es ausreiche, nicht nur für einige kurze Flitterwochen, sondern für unser ganzes Leben, verstehst du?«

»Ich werde später gehen,« sagte sie mit flehendem und verzweifeltem Tonfall. »Aber willst du es mir nicht heute erlassen? In einigen Tagen will ich es versuchen. Morgen will ich es versuchen.«

Sven Elversson blieb noch einen Augenblick stehen, um zu hören, ob der Aufschub bewilligt werde. Aber als der Pfarrer fest auf seinem Verlangen des Zeitungholens verblieb, tat Sven etwas, woran er schon längst hätte denken können, was ihm aber in seiner Unsicherheit bis jetzt nicht eingefallen war: er machte ganz vorsichtig die Tür auf und schlich sich davon. Bis er an der Kirche vorbei war, ging er langsam; sobald er aber vom Pfarrhaus aus nicht mehr gesehen werden konnte, fing er an zu laufen.

Und als nun die junge Pfarrfrau so langsam, ach so langsam auf den Pfad herauskam, noch mit Tränen in den Wimpern nach der ernsten Unterredung, und nicht recht wußte, was sie tat, und schwankte, als ob sie eben erst von einem schweren Krankenlager aufgestanden wäre, da brauchte sie nur wenige Schritte zu gehen, als ihr auch schon ein junger Mann entgegentrat.

Er grüßte sie und redete sie an, indem er sagte, er sei vor einigen Tagen mit ihr und dem Herrn Pfarrer vom Bahnhof nach Hause gefahren.

Sie gab keine Antwort. Sie starrte ihn nur an, ohne zu verstehen, was er sagte. Dann versuchte er, ihr zu erklären, daß er eben vom Kaufladen gekommen sei, und später meinte sie, er habe ihr sagen wollen, der Krämer habe ihn gebeten, die Zeitungen fürs Pfarrhaus mitzunehmen. Er habe so schüchtern und mit übermäßiger Unsicherheit gesprochen, sie hätte ihn kaum recht verstehen können, wenn sie auch vollständig gemütsruhig gewesen wäre.

Er reichte ihr auch eine Zeitung hin, und sie nahm sie entgegen, ging aber dennoch weiter, denn sie konnte nicht gleich fassen, daß sie nun das habe, was sie hatte holen sollen, und nun sofort wieder heimgehen könnte.

Da kam ihr der fremde junge Mann nach und sagte, wenn sie spazierengehen wolle, so sollte sie lieber nach einer anderen Seite gehen. Sie möge verzeihen, er bitte tausendmal um Entschuldigung, daß er sich die große Freiheit nehme; aber da sie noch neu am Ort sei, so möchte er ihr raten, sich an einem so schönen Abend das Meer anzusehen.

Und trotz ihrer Verwirrung und ihrem Schrecken, trotz des erstickenden Gefühls, das ihr gleichsam den Hals zuschnürte, erfaßte sie doch, daß er etwas vom Meere sagte; da blieb sie stehen und sah ihn an.

»Kann man hier in der Nähe irgendwo das Meer sehen?« fragte sie.

»Gewiß sieht man das Meer,« erwiderte er. Und wenn sie ihm nur die große Ehre erweisen wolle, wenn sie keine Bedenken trage, in seiner Gesellschaft zu gehen, so könne sie es sehr bald zu sehen bekommen.

Er schlug einen kleinen Seitenpfad ein, der in gerader Richtung nach Westen führte, und sie folgte ihm. Sie sah ihn an: er war wie ein besserer Arbeiter gekleidet und hatte ein freundliches, anziehendes Gesicht, obgleich sein Benehmen beinahe lächerlich unterwürfig war, und so trug sie keinen Augenblick Bedenken, ihm zu folgen.

Der Abend versprach außerordentlich schön zu werden. Ein wunderbar rötlicher Schimmer senkte sich vom Himmel hernieder. Sigrun war es geradezu, als nehme die Luft um sie her Farbe an und werde sichtbar, ja als werde sie ganz erfüllt mit kleinen zarten Rosenblättchen, die wie Schneeflocken niederrieselten und die ganze Gegend umher rosig färbten wie eine errötende Braut. Und als sie an der westlichen Bergwand angelangt war, da sah sie, daß diese nicht zusammenhängend war, wie sie gemeint hatte. Sie bestand aus mächtigen Felskuppen, die jedoch nicht dicht beieinander standen, sondern an mehreren Stellen einen Durchgang frei ließen.

Und der junge Arbeiter führte Sigrun zwischen den Klippen hindurch, und sie sah weißen Sand aus dem Boden und die eine und die andere verstreute Muschel. Nachher, als sie einen Felsvorsprung umgangen hatten, mußte die junge Frau stehen bleiben und tief Atem holen.

Weiter, offener Horizont breitete sich vor ihr aus. Das ganze rötliche Luftmeer wogte und wallte, darunter dehnte sich das hellglänzende Wassermeer aus, und nichts war mehr da, was einengte. Alles war frei und offen bis hin zur Sonne, die dort im Westen eben unterging.

Kein Land lag vor ihr, nur ein schmaler Sandstreifen mit einer langen Steinmole und weiter draußen im Meer einige Klippen, die schwarz aus dem perlmutterfarbigen Wasser aufragten.

Und im selben Augenblick, wo Sigrun dieses sah, wußte sie, daß sie gerettet war. Wo hätte sie lieber sein mögen, als an einem Ort, wo sie solch großartige Schönheit in der Nähe hatte, eine so großartige Schönheit, die sie alle Tage schauen konnte?

Daß ihr davon bis jetzt niemand ein Wort gesagt hatte! Sie setzte sich auf einen Stein und blieb da lange still sitzen. Sie sog das Licht förmlich mit den Augen in sich ein und ließ ihre Blicke durch den weiten Raum gleiten; sie konnten schweifen, so weit sie Lust hatten, gleich Vögeln, die aus einem engen Käfig entflogen sind.

Und sie dankte Gott für ihr Heim, in dessen Nähe das große, gewaltige, weite, frische Meer war.

Aber sie saß gewiß allzu lange, ohne ein Wort zu sagen, denn als sie endlich aufschaute, merkte sie, daß der junge Mann seines Weges gegangen war.

Damit war sie eigentlich recht zufrieden. Sie wollte ihm schon noch ein andermal danken. Jetzt freute sie sich ihrer Einsamkeit.

Sie fühlte sich stark und hoffnungsvoll. Jetzt konnte sie auf ganz andere Weise denn zuvor gegen das Gefährliche und Beklemmende, das über der Gegend lag, ankämpfen.

Plötzlich gedachte sie ihres Mannes daheim; gewiß war er besorgt um sie. Und sie erhob sich, um nach Hause zu gehen und ihm zu erzählen, daß sie geheilt und glücklich sei. Und sie wollte ihm für seine Strenge danken, ja danken, weil er sie ausgeschickt hatte, ihrem Feinde trotzig die Stirn zu bieten.


 << zurück weiter >>