Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Predigt von der Heiligkeit des Lebens

Sven Elversson, seine Mutter Thala, sein Bruder Jung-Joel und dessen Frau standen mit vielen anderen auf dem kleinen Friedhof vor der Kirche von Applum.

Es war der Tag, an dem die toten Helden, die nach der großen Nordseeschlacht in Applum geborgen worden waren, in die Erde gesenkt werden sollten. Für nicht weniger als siebzehn Särge war ein breites Grab geschaufelt worden. Einen so großen Trauerzug hatte man noch niemals in dieser Gegend gesehen, und sicherlich war auch noch nie vorher eine so große Menschenmenge auf dem Kirchhof versammelt gewesen.

Acht Jahre lang war Sven Elversson einer Kirche nicht mehr so nahe gewesen wie an diesem Tag. Er hatte zuerst gezögert, der Beerdigung beizuwohnen, aber seine Mutter, die zum Besuch von Jung-Joel heruntergekommen war, hatte ihn überredet, sie zu begleiten.

»Komm nur mit!« hatte sie gesagt. »Ich möchte ebensowenig wie du in die Kirche von Applum hinein, aber heute ist es ja Werktag, und so kann keine Rede von dergleichen sein. Nachdem du dich so bemüht hast, damit diese armen Menschen in geweihte Erde kommen, mußt du ihnen auch das letzte Geleite geben.«

Was sie sagte, war wirklich wahr. Die ganze letzte Woche hindurch, seit dem Fischfang mit der Najade, waren Sven Elversson und sein Bruder Joel in einem kleinen leichten Segelboot zwischen den Holmen und Schären umhergefahren und hatten nach an Land getriebenen Ertrunkenen gesucht. Ein paar waren auch von anderen gesunden worden, aber die beiden Brüder hatten nicht weniger als acht Tote an die Landungsbrücke von Applum gebracht.

»Außerdem,« hatte Mutter Thala hinzugefügt, »mußt du doch merken, wie ganz anders dich die Leute jetzt ansehen als früher.«

Und dieser Grund hatte wohl am meisten gezogen.

Der Krieg mit allen seinen Abscheulichkeiten, und das viele Unglück, von dem die Fischerfamilien heimgesucht wurden, hatten die Menschen gelehrt, Sven Elversson und sein Verbrechen milder zu beurteilen. Man schenkte seinem Bemühen, anderen zu helfen und sie zu trösten, jetzt mehr Aufmerksamkeit als vorher.

»Jedenfalls ist er ein guter Mensch,« hieß es. »Er versucht allen zu helfen, denen es schlecht geht. Und sich der Lebenden anzunehmen, das ist und bleibt doch das Wichtigste.«

Als man jetzt hörte, wie Sven Elversson sich bemühte, so vielen armen Seeleuten als nur möglich ein Begräbnis in geweihter Erde zu verschaffen, glaubte man wohl zu verstehen, was ihn dazu trieb; aber die meisten hielten es wohl für ein überflüssiges Tun.

Indes für ihn selbst war es das nicht. Er ging jeden Tag mit einer gewissen Begeisterung an die Arbeit, und mit jeder Stunde ward ihm mehr Frieden, mehr Seelenruhe zuteil. Es wurde ihm so leicht, so froh ums Herz, ohne daß er dem hätte Ausdruck geben können, aber seine Stirn spiegelte seine Gefühle wider.

Kein Liebesglück, keine noch so edle Tat, kein anerkennendes Wort hätten ihm diese innere Sicherheit schenken können, die über ihn gekommen war, seitdem er auf der Najade den englischen Matrosen in seinen Schutz genommen hatte.

Er begriff nicht, woher das kam, denn er hatte doch damit keine besondere Heldentat vollbracht. Die Gefahr, daß Olaus ihn mit dem Toten über Bord werfe, war nicht groß gewesen. Aber eines empfand er deutlich: von da an war die große Veränderung mit ihm vorgegangen, seitdem wagte er, sich glücklich zu fühlen. Erst jetzt begann er daran zu denken, was für Tage und Jahre der Glückseligkeit ihm die Zukunft noch bringen werde.

Jetzt war ihm eine Kraft zu eigen, von der er vorher nie eine Ahnung gehabt hatte. Er brauchte fast gar nicht zu schlafen. Sein Herz arbeitete so leicht, so mühelos, daß er das Dasein als ein Glück empfand.

»Ach, was für ein armer Mensch bin ich doch früher gewesen!« dachte er. »Jeder Atemzug kostete mich eine Anstrengung. Ich habe nicht gewußt, was leben heißt.«

Daß die Menschen nun freundlicher gegen ihn waren als früher, das erhöhte natürlich sein Glück, zugleich aber meinte er, er würde jetzt unter ihrem Haß überhaupt nicht mehr gelitten haben. Er war frei, hatte seine Schuld gesühnt!

Am Tage nach dem Begräbnis wollte er nach Hånger zurück. »Ich komme als ein neuer Mensch zu Sigrun,« dachte er. Gerade ihretwegen hatte seine Befreiung einen so großen Wert für ihn. Was für ein vollkommenes Glück erwartete jetzt sie beide!

Während er auf dem Kirchhof stand und der Beerdigung beiwohnte, dachte er voller Rührung an diese Männer, die ihr Leben für ihr Vaterland hingegeben hatten; aber das tat seiner Freude keinen Abbruch. Dann sah er plötzlich den früheren Pfarrer von Applum, Eduard Rhånge, der sich auch eingefunden hatte, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Und da überkam ihn einen Augenblick leise Angst und Unbehagen. Aber nur einen einzigen Augenblick, dann schlug sein Herz wieder mit derselben merkwürdigen Leichtigkeit wie vorher.

»Dieser Mann ist mein Freund,« dachte er. »Wer hat mir etwas Größeres geschenkt als er?«

Nachdem die Särge in die Erde versenkt waren und die Versammlung den letzten Vers des Gesangbuchliedes gesungen hatte, trat Rhånge an das Grab, um zu sprechen.

Als Sven Elversson ihn jetzt über die Menschen etwas erhöht an dem großen Grabe stehen sah, fühlte er sich von diesem Manne, dessen Wesen ihn früher abgestoßen hatte, plötzlich unbeschreiblich angezogen. Sein prächtiger Kopf war ja eigentlich gleich geblieben, aber seine Züge waren durchsichtiger, vergeistigter geworden. »Was für ein herrlicher Mensch!« dachte Sven Elversson. »Sein Gesicht trägt den Stempel entsagender Liebe.«

Während Pfarrer Rhånge seine alte Gemeinde mit einigen einleitenden Worten begrüßte, zupfte jemand Sven Elversson am Ärmel, um ihm guten Tag zu sagen.

Er wendete sich um und sah Lotta Hedman, totenbleich und mit funkelnden Augen, vor sich stehen; das Haar stand ihr wirr zu Berge, als wolle es ihr den Hut vom Kopf heben.

»Nein, ich bin nicht mit dem Pfarrer gekommen,« flüsterte Lotta auf Sven Elverssons Frage. »Er ist schon seit ein paar Tagen hier. Ich bin allein gekommen. Ich bin ›gerufen‹ worden.«

In diesem Augenblick sagte der Redner ein paar Worte, die Sven Elverssons Aufmerksamkeit erregten.

»Hier, am Rande dieses großen Grabes,« sagte er, »will ich mit euch, meine früheren Gemeindeglieder, von der Heiligkeit des Todes und von der des Lebens reden.

Ich darf wohl sagen, daß keiner hier unter uns ist, der nicht seit seiner Kindheit von der Heiligkeit des Todes durchdrungen ist. Wenn sich jemand gegen die Heiligkeit und Unantastbarkeit des Todes vergangen hätte, so wäre er aufs strengste bestraft worden.

Hier in Applum lebte einst ein Mann, namens Sven Elversson. Er hatte die Heiligkeit des Todes verletzt, das war sein Verbrechen gewesen. Und wir dachten, es gebe keinen verächtlicheren Mann unter uns, als Sven Elversson. Vielleicht war mehr als einer der jetzt hier Anwesenden auch an jenem Tag in der Kirche, wo sein Vergehen von der Kanzel aus verkündigt wurde, und er erinnert sich daran, wie dieser Sven Elversson aussah, als er sich gedemütigt und unglücklich fortschlich. Mehr als einer hat ihm vielleicht auch ein Schimpfwort nachgerufen. Er war ein Mann, der einen fast zu dergleichen herausforderte. Wenn man sah, wie er bei allem, was man ihm antat, gleich geduldig lächelte, und wenn man merkte, wie er einem aus dem Weg ging und stets bescheiden zurücktrat, hielt man es geradezu für Pflicht, seine Erniedrigung noch ein wenig zu vergrößern.

Auf diese Weise brachten wir ihn auch dahin, von Applum fortzuziehen. Und ich darf wohl annehmen, daß ihn niemand besonders vermißt hat. Denn neben allem anderen hatte dieser Mann noch etwas Einschmeichelndes an sich. Wenn es etwas Schwieriges zu tun galt und wir anderen uns dieser Pflicht entzogen, war er es, der sich vordrängte. Er wollte uns verführen, ihm Ehre und Ansehen zurückzugeben. Aber das war uns unmöglich. Wir meinten, er sei von Gott gezeichnet.

Und so, wie von Gott selbst gezeichnet, ist dann dieser Mann weiter durchs Leben gewandert. Immer gleich demütig, immer voller Angst, jemand im Weg zu sein. Und er hat sich zu denen gehalten, die nicht alles so genau nahmen wie wir, zu den Landstreichern, die im Reich umherziehen, und zu den Kindern, die noch nicht wissen, was recht und unrecht ist. Und uns kam das ganz natürlich vor, denn jemand mußte er doch haben, mit dem er verkehren konnte. Und als wir davon erzählen hörten, wie ein verwahrlostes Kind nach dem anderen durch seine Hilfe in ein ordentliches Haus gekommen sei, oder da und dort Landstreicher zu arbeiten begonnen hätten, da hielten wir auch davon nicht allzuviel, denn wir wußten, was für eine Absicht der Mann mit all dem verfolgte. Er wollte immer dasselbe, wollte seine Ehre und sein Ansehen wiedergewinnen. Es waren nur neue Versuche, und ich glaube beinahe, er ermüdete uns damit.

Denn was konnten wir für ihn tun? Er hatte keinem von uns etwas getan, hatte nicht so gesündigt, daß er sein Verbrechen durch eine Strafe hätte abbüßen können. Er hatte sich gegen eine heilige Sitte vergangen, und wir waren nicht imstande, ihm das zu vergeben. Ja, wir hatten sogar zu bemerken geglaubt, Gott verurteile ihn ebenso wie wir.

Und während er bemüht war, den Menschen im Leben vorwärts zu helfen, stand vielleicht der Tod hinter seinem Stuhl und grinste höhnisch über ihn, denn er wußte, daß er ihn in seiner Gewalt hatte, daß er sein Gefangener war und ihm nicht entrinnen könnte. Wer, wer unter uns hätte die Macht gehabt, ihn zu befreien?«

Sven Elversson sah, daß seine Mutter weinte. Bei Rhånges Worten durchlebte er selbst alle seine Versuche, Ehre und Ansehen zurückzugewinnen, noch einmal, aber er weinte nicht. Mit offenem Blick und in aufrechter Haltung stand er da und schaute den Redner ruhig an.

»Aber nun, in diesen letzten Zeiten,« fuhr der Pfarrer fort, »da hat der Tod eine weit größere Macht bekommen als je vorher. Er herrscht über uns und unterdrückt uns. Er heimst seine Ernte vor der Zeit ein. Seine Diener sind die Gewalt und die Grausamkeit. Er macht das Verbrechen und die Unsitte von ihren Ketten los. Es gibt keine Missetat, die er nicht auf Erden geschehen ließe, und seine Herrschaft scheint noch nicht zu Ende zu sein.

Und jetzt, wo wir unter der furchtbaren Tyrannei des Todes leiden, jetzt beginnen wir uns zu fragen: ›Gibt es nicht doch etwas auf Erden, das stark genug wäre, den Kampf mit dem Tod aufzunehmen?‹

Aber auf Erden, das wissen wir, gibt es nur eines, was dem Tode widersteht und dessen beständiger, unentwegter Feind ist, und sein Name heißt Leben.

Und mitten in diesem Krieg, während so Furchtbares geschieht, daß Zehntausende von Menschen ins Meer geworfen werden, als ob das gar nichts wäre, und andere Zehntausende in Gefangenschaft weggeführt, wie wenn das nur etwas wäre, dessen man sich rühmen dürfte, und wieder andere Zehntausende vor den Mündungen der Kanonen hingeschlachtet, wie wenn das eine lobenswerte Tat wäre, und abermals Zehntausende von Haus und Hof vertrieben werden, wie wenn das eine althergebrachte Sitte wäre, – mitten in alledem erwacht doch, glaube ich, eine größere Liebe zum Leben in uns, als wir sie früher je beherbergt haben.

Denn das Leben ist ja nur eine einfache Dienerin gewesen, die es jedem recht zu machen gesucht und für sich selbst nichts verlangt hatte. Das Leben war bisher die Alltagskost, an die man kaum dachte, während man sie verzehrte. Das Leben ist nichts Feierliches, das auf Gemälden dargestellt wird oder im Zwielicht als Gespenst auftritt. Das Leben hat nicht einmal eine besondere Gestalt, an der man es erkennen könnte.

Jetzt denkt ihr wohl in euren Herzen, ich rede töricht,« sagte der Pfarrer, während er den Blick auf seine Zuhörer richtete, »denn das Leben ist doch das, was wir alle am meisten lieben. Aber, meine Freunde, diese Liebe genügt nicht. Ich möchte sagen, das Leben gleicht einem schlecht erzogenen Kinde, das mit mehr Liebe als Verstand aufgezogen sein kann und dann zu einer Qual und Schande wird, so daß man schließlich nicht mehr weiß, wie die eigenen Eltern es ertragen sollen.

Oder auch, ihr meine jungen Freunde, das Leben gleicht einer jungen Frau, die ihr in euer Haus führt und der ihr eure ganze Liebe schenkt; aber das ist doch nicht genug für sie. Ihr müßt sie auch mit Heiligkeit und Frieden umgeben und ihr Rechte einräumen und gut gegen sie sein, sonst geht eure junge Frau von euch und überläßt euch der Einsamkeit und Verzweiflung, weil die Wege, auf denen ihr sie geführt habt, nicht die richtigen waren.

Aber,« unterbrach sich der Redner, »hierüber könnte ich mit euch reden, bis der Tag zur Nacht und die Nacht wieder zum Tage geworden wäre, und ich würde doch nie fertig, ich darf jedoch darüber das nicht vergessen, was ich euch heute kund zu tun habe.

Laßt mich jetzt davon ausgehen, daß während dieser Jahre das Leben so heilig und kostbar geworden ist wie nie vorher. Und seine Heiligkeit nimmt mit jedem weiteren Tag dieser unseligen Zeit zu.

Deshalb fangen wir auch an, uns mit größerer Liebe denen zuzuwenden, die die wahren Diener des Lebens sind, die es hoch und heilig halten und den Lebenden Beistand leisten.

Da ich jetzt hier in Applum viele Menschen habe sagen hören, sie bereuten es, daß sie Sven Elversson mit Verachtung behandelt hätten, so kommt das wohl daher, weil sie die Bedeutung und Heiligkeit des Lebens zu erfassen anfangen. Sie verstehen, welch ein gutes Werk es ist, verwahrloste Kinder und Landstreicher zu retten, verstehen, daß das Leben größer ist als der Tod.

Und jetzt, du getreuer Diener des Lebens, Sven Elversson, jetzt kann ich dir sagen, daß wir, deine einstigen Gemeindegenossen, den Schandfleck nicht mehr sehen, der dir anhaftet. Wir bereuen, daß das je der Fall war, bereuen auch den Kummer, den wir dir bereitet haben.«

Der Pfarrer machte eine Bewegung mit der Hand und wendete sich an die große Schar seiner Zuhörer.

»Ist's nicht so? Spreche ich nicht im Namen dieser ganzen Versammlung?« fragte er.

Niemand widersprach ihm. Viele hatten Tränen in den Augen.

Sven Elversson stand mit derselben inneren tiefen Freude wie vorher ruhig da. »Es ist gut, daß es so kam,« sagte er sich. »Aber das Wichtigste war es doch nicht. Die Hauptsache ist, daß ich von der Schuld in meiner Seele, in meinem Herzen befreit bin.«

»Ich freue mich, daß ich dies in euerm Namen sagen konnte,« fuhr der Pfarrer fort. »Ihr habt Sven Elversson in euern Herzen freigesprochen, ehe das auf andere Weise geschah, und dessen freue ich mich.«

Und nun begann der Pfarrer zu erzählen: Bei einigen der an Land getriebenen Matrosen waren Brieftaschen mit noch lesbaren Briefen und Aufzeichnungen gefunden worden. Diese hatte man natürlich aufbewahrt, um sie so weit wie möglich den Angehörigen zuzustellen. Aber bei einem Engländer, dem ersten Toten, den man auf der Motorjacht Najade geborgen hatte, war man auf einen Brief ohne Adresse und Schluß gestoßen. Der Brief hatte zwar nur wenige Zeilen enthalten, aber doch einen so merkwürdigen Eindruck gemacht, daß er, der Pfarrer von Algeröd, hierherberufen worden war, um sein Urteil darüber abzugeben. Und diesen Brief wollte der Pfarrer nun seinen Zuhörern in schwedischer Übersetzung vorlesen.

Er lautete also:

»Wie wir hören, soll morgen eine Schlacht sein. Und ich bitte Dich, liebe Mary, zu Springfields am Handley Park zu gehen und ihnen ein paar Worte über ihren Pflegesohn zu sagen. Denn er war nicht an dem Unrecht beteiligt, das wir anderen begingen. Er lag im Fieber. Wir glaubten, er sei schon tot, und niemand dachte an ihn. Als er sich später wieder erholte, redeten wir ihm ein, er habe mitgetan, damit er nicht gegen uns aussage. Ich schreibe dies, um Frieden zu bekommen, wenn ich jetzt – –«

»Da wir nun wissen,« sagte der Pfarrer sehr ernst und ruhig, »daß Sven Elverssons Pflegeeltern Springfield heißen, und daß er sich selbst niemals klar an das hat erinnern können, was damals geschah, sondern sich nur auf die Aussage der anderen verlassen hat, so ist durch diese Worte eines Toten seine Unschuld zweifellos bewiesen.«

Die Stimme des Sprechenden zitterte einen Augenblick, gewann aber bald ihre volle Stärke wieder. Er wendete sich jetzt unmittelbar an Sven Elversson.

»Wir haben dich das erst bei dieser Gelegenheit wissen lassen wollen, Sven Elversson,« sagte er, »damit es gleichzeitig allen Leuten mitgeteilt werde. Aber jetzt stehe ich, dein früherer Pfarrer, der einst Verachtung, Verfemung und die Qualen des Verachteten über dich heraufbeschwor, hier und verkündige deine Unschuld vor der Tür derselben Kirche, aus der dich meine Worte einst vertrieben haben. Gott hätte mir keine größere Gnade erweisen können, als daß gerade ich diese Worte zu dir sagen darf. Du hast jetzt Genugtuung erhalten und kannst deinen Kopf wieder hoch tragen, und die Schmach, unter der du so lange gelitten hast, wird deinem Namen nicht mehr anhaften.«

Durch die Menge ging eine lebhafte Bewegung. Die Leute sprachen miteinander über die Bedeutung dessen, was sie gehört hatten. Und viele brachen in Tränen aus, weil die Unschuld dieses Mannes nach so vielen Jahren des Leidens an den Tag gekommen war.

»Du brauchst dich nicht mehr zu verstecken und überall zurückzutreten,« sagte der Pfarrer, »brauchst kein böses Wort mehr mit einem geduldigen Lächeln hinzunehmen. Du brauchst nie mehr zu befürchten, Abscheu bei denen zu erregen, die dich am meisten lieben. Du wirst wie einer der Besten unter uns behandelt werden, und deinen Angehörigen wird es ebenso ergehen.«

»Er denkt an Sigrun,« sagte sich Sven Elversson. »Er denkt an ihre Freude. Das ist auch richtig. Sie wird sehr glücklich darüber sein.«

Als der Redner die letzten Worte gesagt hatte, wendete er sich von der Seite ab, wo Sven Elversson stand, und redete zu der Menge in der entgegengesetzten Richtung.

»Alles, was dieser Mann gelitten hat, war ein unverschuldetes Leiden,« sagte er.

Bei diesen Worten begann Sven Elverssons Herz stärker zu schlagen. Und es schlug immer heftiger und heftiger. »Mein armes Herz erträgt leichter Schmerz als Freude,« dachte er.

»Aber wenn das so ist,« fuhr der Pfarrer fort, »so weiß ich, daß ihr euch alle in diesem Augenblick fragt: ›Warum ist Gott so hart gegen ihn gewesen, und warum hat er uns so irregeleitet?‹ Dasselbe habe ich mich auch gefragt. Und ich glaube, ich habe eine Antwort gefunden.

Über den Mann selbst will ich nur soviel sagen, ich weiß, Gott hat ihm gerade durch sein Unglück ein sehr großes Glück beschert, er würde sich selbst jetzt kein anderes Schicksal mehr wünschen.«

Bei diesen Worten dachte Sven Elversson wieder an Sigrun und an all das Glück, das ihn erwartete. Er fühlte, wie das Herz in seiner Brust einen großen Freudensprung machte, aber in diesem Augenblick ging es auf irgendeine Weise entzwei. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten, sondern sank in die Kniee.

»Was uns selbst aber betrifft, so glaube ich, Sven Elversson ist uns als ein Zeichen gegeben worden. Denn Gott spricht in diesen Zeiten nicht durch Worte zu uns, sondern durch die Taten der Menschen, und aus dem Leben eines jeden Menschen müssen wir einen Gedanken Gottes herauslesen.«

Der Redner holte tief Atem und schaute über die Menge hin. Er sah, wie ängstlich alle darauf warteten, von ihm ein Wort der Aufklärung, der Rettung aus der großen Not zu hören, die sie bedrückte.

»Wenn ich bedenke, daß dieser Mann jetzt in der gegenwärtigen Zeit zu uns gekommen ist, so glaube ich, Gott will uns durch ihn zeigen, wie wir aus all dem Elend herauskommen können, unter dem wir leiden, wenn auch nicht gleich, so doch in einem Zeitraum, den menschliches Denken zu umspannen vermag.«

In diesem Augenblick sank Sven Elversson völlig auf den Rasen. Kein Klageruf, kein Schmerzenslaut war über seine Lippen gedrungen. Seine Mutter, die neben ihm stand, glaubte, er habe sich niedergesetzt, um den vielen neugierigen Blicken zu entgehen. Er hatte auch allen Grund, nach einer derartigen Gemütsbewegung ausruhen zu wollen.

»Denn von diesem Manne ist mir erzählt worden,« fuhr der Pfarrer fort, »er habe sich aus dem, was ihn am meisten quälte, Waffen und Werkzeuge geschmiedet. Wenn er jemand von seinen bösen Wegen abzubringen versuchte, hat er oft gesehen, daß gute Worte wenig nützten und ebensowenig das Verlangen nach Beifall, und auch nicht die Aussicht, ein geachtetes und geordnetes Leben führen zu können. Nichts half, nichts, sondern was vor allem hergehörte, war, diesen Menschen ein solches Entsetzen und einen solchen Abscheu vor dem Laster und dem Heruntergekommensein einzuflößen, daß der Abscheu ihnen Leib und Seele durchdrang und sie es nicht mehr aushalten konnten; dann erst gelang es ihm.

Und nun, nachdem ich das gesagt habe, fordere ich euch alle, die ihr um dieses große Seemannsgrab versammelt seid, auf, mich im Geist aufs Meer hinauszubegleiten, bis weit vor die letzten Schären hinaus, aber nicht gar zu weit, denn die, denen ihr entgegenfahren sollt, sind uns jetzt ganz nahe.

Ich selbst habe mich gestern da hinaus begeben, um die zu sehen, die die Reise von Horns Riff bis zu unserer Küste herauf gemacht haben, sie, die von ihren Korkwesten oben gehalten werden und nicht untersinken können, diese Tausende, die ins Meer geworfen wurden wie ein Abfall, den man loswerden will.

Ich bitte euch alle, mir wenigstens in Gedanken dorthin zu folgen und zu versuchen, euch dieses Bild vorzustellen. Ihr sollt die schwarzen Augenhöhlen sehen, die euch aus den totenblassen Gesichtern entgegengähnen. Ihr sollt die herabgefallenen Kinnladen, sollt die Hände sehen, die aus sonderbare Weise in die Höhe gehoben sind und im Takt mit den Wogen winken und winken. Ihr sollt die von ihnen sehen, die mit aufgetriebenem Leib umherschwimmen, und wieder andere, deren Füße aus dem Wasser emporragen, die sich dazwischen umdrehen und den Kopf herausstrecken, als wären sie Kunstreiter, die Kunstsprünge machen.

Und ihr sollt solche sehen, die schon zerschossen und zerstückelt ins Wasser gekommen sind. Ihr sollt Köpfe sehen, die sich nach rechts und nach links wenden und euch anscheinend etwas sagen wollen. Ihr sollt die kreischenden, raubgierigen Vogelscharen und die Fische sehen, die im Wasser hohe Freudensprünge machen. Das alles sollt ihr sehen, und dieses Bild soll sich euch tief, ja unauslöschlich für alle Zeiten einprägen.

Aber nun werdet ihr mich fragen: ›Warum sollen wir denn das sehen?

Wir sind ruhige, rechtschaffene Leute, die ein friedliches Leben führen, wir haben keine Schuld an diesem Krieg und haben nicht die Macht, irgend etwas von dem zu verhindern, was zwischen den Kämpfenden geschieht.‹

Aber ich sage euch, ihr müßt diese Boten der Greuel sehen und ihr dürft sie niemals vergessen. Sie wurden nicht ohne eine bestimmte Absicht bis an unsere Küste getrieben, und alle die schmerzlichen, mitleidigen Gedanken, die dieser Anblick in euch hervorruft, dürft ihr ebensowenig von euch wegschieben, wie den körperlichen Abscheu und Ekel angesichts der Vergänglichkeit.

In jedem Teil eures Körpers soll er sich festsetzen und einen Widerwillen vor dem Krieg in euch hervorrufen, der durch nichts überwunden werden kann.

Denn ihr müßt bedenken, daß wir alle, auch wenn wir keine Schuld und keinen Teil an diesem Kriege haben, doch jeden Tag davon in unseren Zeitungen lasen. Wir haben vielleicht Gefallen daran gefunden, daß sich so große Dinge in unserer Zeit ereigneten. Wir haben die großen Taten bestürzt und vielleicht auch bewundernd verfolgt. Wir sind mit unserem Mitgefühl und mit unserer Teilnahme auf einer der beiden Seiten gewesen, und es hat uns gefreut, wenn dieser Seite ein Erfolg beschieden war.

Aber jetzt sind diese Toten zu uns gekommen, um uns zu zeigen, wie abscheulich der Krieg ist.

Und einige von euch haben am Krieg verdient, und einige haben geglaubt, es würden durch ihn große und segensreiche Veränderungen eintreten, und einige glauben, die Leute würden durch den Krieg gestärkt und besser werden. Und keiner von euch kann die eigenen Gedanken oder die seiner Kinder vom Krieg ablenken.

Jetzt aber sind diese Toten gekommen, um uns zu zeigen, was wir bisher in unserem Innersten nicht so fühlen konnten, nämlich, daß der Krieg etwas Verabscheuungswürdiges, etwas Ekelhaftes ist.

Das, was in unserem Meer umherschwimmt, ist ja keine Geistererscheinung und keine zusammengedichtete Sage, sondern es ist Wirklichkeit, ist Wahrheit. Und es kann eines Tages zurückkehren und wieder Wirklichkeit und Wahrheit werden.

Und deshalb sollt ihr mich wenigstens im Geist ans Kattegatt hinausbegleiten, diese Bilder des Entsetzens kennen lernen und dann dafür sorgen, daß sich ihr Anblick euch tief, ja unauslöschlich für alle Zeiten einprägt.

Und ihr sollt mit anderen davon reden, damit auch sie dieses körperliche Grauen nicht mehr überwinden können, wenn sie das Wort Krieg hören, ihr sollt davon reden, damit das Wort Krieg niemand mehr hören kann und es zu einem Wort wird, das jedem menschlichen Ohr so widerwärtig ist, daß man es nicht mehr aussprechen mag.

Und es gibt andere unter uns, die haben vielleicht noch schlimmere Dinge gesehen als diese Toten, und sie werden auch vom Krieg reden und schreiben, damit sich eine Gespensterfurcht und ein körperliches Schaudern mit dem Kriege verknüpfen, die niemals überwunden werden können.

Denn was wissen wir?

In ein paar Jahren kann die Erinnerung an den Kummer, an die Schmerzen und Verwüstungen dieses Krieges schon vergessen sein, und wenn dann neue Menschen kommen, können sie wieder frohen und mutigen Herzens in den Kampf hinausziehen. Auf uns kommt es jetzt an, ob wir den Menschen einen Ekel vor dem Krieg einflößen und ob wir ihnen diesen so fest einprägen, daß ihn keine Reden von Ehre und Heldentaten mehr aus ihrem Herzen verdrängen können.

Denn schöne Worte sind gegen den Krieg gesprochen worden, und herrliche Vorbilder von friedliebenden Männern sind uns gegeben, und die klügsten Berechnungen haben die Torheit eines Kriegs bewiesen, aber der Krieg ist darum noch ebenso lebendig wie je.

Aber aus diesen seinen Schrecken und seinen Greueln wollen wir uns eine Rüstung und Waffen und ein Gegengift machen und wollen das alles unseren Nachkommen als Erbe hinterlassen, – das wird dann den größten Feind der Menschheit besiegen.

Und nun, meine Freunde,« fuhr der Redner fort, »bevor ich schließe, will ich euch jetzt noch einige Worte sagen von der Heiligkeit des Lebens in den künftigen Zeiten, wo der Krieg von der Erde verschwunden sein wird ...«

Aber weiter konnte er nicht sprechen. Denn plötzlich zupfte ihn jemand am Ärmel.

»Sven Elversson ist krank. Er ist am Sterben. Es war zuviel des Glücks.«

Rasch stieg der Pfarrer von seinem Platz herab und bahnte sich einen Weg zu Sven Elversson. Dieser lag ausgestreckt auf dem Boden mit dem Kopf im Schoß seiner Mutter; aber er war nicht tot, nur schwer krank. Seine Brust zitterte unter den heftigen Schlägen des Herzens.

Als der Kranke den Pfarrer herbeikommen sah, begrüßte er ihn mit einem unbeschreiblichen Lächeln, voller Liebe, frei von Furcht, wie er den geliebtesten Menschen begrüßt haben würde. Er versuchte, ihm die Hand entgegenzustrecken, und flüsterte etwas, das entweder »Dank« oder »Vergebung« heißen konnte.

Der Pfarrer kniete neben ihm nieder; auch er war von der größten Zärtlichkeit erfüllt und voller Angst, einen solchen Freund, wie ihm Sven Elversson nun einer geworden war, zu verlieren.

»Sven Elversson, Bruder!« sagte er. »Lebe! Du mußt ihretwegen leben.«

Man trug den Todkranken ins Pfarrhaus. Ein anwesender Arzt eilte nach. Er untersuchte Sven Elversson und erklärte, vielleicht könne Sven noch einige Zeit leben, einen Tag, eine Woche, höchstens ein Jahr.

Während dieser Zeit stand die Menge rings um das Grab her und wartete. Alle fühlten, daß Rhånge ihnen seine Auffassung noch näher erklären und ihnen jetzt etwas hatte sagen wollen, was sie mit Gedanken des Friedens und der Zuversicht hätte auseinandergehen lassen. Diesen Abschluß glaubten sie nicht entbehren zu können.

Sie schickten einen Boten ins Pfarrhaus und erhielten den Bescheid, der Pfarrer müsse bei Sven Elversson bleiben. Er sitze neben ihm und halte ihn im Arm, und das sei das einzige, was dem Kranken Kraft zum Leben gebe und das Lebensfünklein am Verlöschen hindere.


 << zurück weiter >>