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Feste, Kleinstadtfreuden, Reisen

Wie hell liegt der Glanz auf den Festtagen in der kleinen, so freundlich in Grün gebetteten Stadt! Am hellsten auf den Pfingsttagen, die mir alle sonnig zu sein scheinen, obwohl das rätselhafte Gesetz, nach dem alle Pfingstmontagsausflüge verregnen, auch für Oldenburg Geltung hatte. Aber am ersten Pfingsttag schien eben die Sonne. Da war die ganze Stadt mit frischen Maien geschmückt: ganze Wagenladungen davon waren schon am Sonnabend hereingekommen. Kein Haus, kein Fuhrwerk schloß sich aus; jedes Pferd hatte seinen Birkenzweig am Geschirr. Auch »Sabel« gehörten zum Hausschmuck; sie wurden an den Tagen vorher massenhaft von den Jungen in den Straßen ausgeboten mit dem in eigentümlichem Singsang abgeleierten Vers:

»Sabel, för'n Nadel,
Stück kost't eene Nadel.«

Sie nahmen aber auch gern Pfennige. (Was überhaupt schließlich aus dem unter uns Kindern ganz üblichen Zahlungsmittel »Stecknadeln« wurde, ist mir dunkel; mitunter setzte eine Tante sie uns in Münze um.)

Da ging man denn frühmorgens durch die sonntäglich stille Stadt zu Großvater, angetan mit dem neuen Sommerkleid des Jahres. Vereinzelt begegnete man wohl noch einem Mädchen, das noch vor der Kirche die frischen Pfingststollen, in Oldenburg »Klaben« genannt, vom Bäcker brachte. Sie waren von der Hausfrau selbst angerührt und nur zum Backen dem Bäcker anvertraut, nicht ohne Sorge, ob er nicht von dem guten Teig etwas entfremde. Die meisten waren schon Sonnabend Abend geholt, damit am Sonntag der frische Klaben nicht auf dem Pfingsttisch fehle.

Den ganzen Tag über war man in seliger Ferienstimmung, gerade weil die Pfingstferien so kurz waren und doch schon einen Vorgeschmack der großen Ferien gaben. Und dann: für die Pfingstferien durften keine besonderen Aufgaben gegeben werden, die einem sonst die Ferien vergällten. Ausflüge machte man gerade an den Tagen bei der allgemeinen Überfüllung nicht, aber auch auf dem eigenen Haus und Garten lag die wundervolle Feststimmung, die wohl nur das Kind der Kleinstadt so empfinden kann.

Auch Ostern war schön. Schon tagelang vorher gingen die Jungen von Haus zu Haus:

»Wi sammelt wat för't Osterfüer,
De olen Teertunn'n sind so düer,
Willt ji us nich 'n Groten geben?
Denn schölt ji ok väl God's beleben.
Riem, riem, riem,
Speck unnern Wiem,
Eier in dat Nest,
Dat is use Best.
Ostern, Ostern kummt heran,
Hett de Dochter noch keen Mann,
Wünsch wi er 'n goden Timmermann,
De sin Brot verdeenen kann.
Een is nix,
Twe is wat,
Gewt mi dree, so gab 'ck min Pad,
Lat us nich so lange stahn,
Denn wi möt noch wider gahn.«

Am Morgen des ersten Ostertages ging es dann auch wieder zu Großvater, in dessen Garten bei nur halbwegs günstiger Witterung unsere Ostereier versteckt wurden. Mit Eiern von Zucker und Schokolade wurde die Kinderwelt noch nicht verwöhnt: auch Osterhasen waren noch nicht Mode. Die Eier wurden mit Zwiebelschalen und allerlei Blättern umwickelt und so gekocht. Sie gefielen uns um so besser, je bunter sie waren. Aus dem Inhalt machte man sich nicht besonders viel, aber es war so hübsch, sie in ihrem Nest in einem Blumenbeet oder im Immergrün zu entdecken. Mit Klaben wurde auch an diesem Fest nicht gespart: für uns Kinder war die Hauptfrage, ob recht viel Rosinen hineinkämen. Und da konnte der im Vaterhause mit dem großväterlichen nicht konkurrieren, woraus dann die unvermeidlichen Folgerungen gezogen wurden.

Abends wurden im Hause Ostereier gegessen. Ostereier! Das Wort ist lange für mich von den Vorsilben nicht zu trennen gewesen. Ich erinnere mich nicht, daß wir jemals im Lauf des Jahres ein Ei zu essen bekommen hätten, obwohl das Dutzend damals 40 Pfennig kostete. Es war eben nicht der Geldwert. Es war das lebendige Gefühl von der Helligkeit der Nahrung, das uns auch das Umkommenlassen eines Stückchens Brot als Todsünde empfinden ließ. Ein Gefühl, das noch aus der Urgroßväterzeit stammen mochte, der Zeit des Darbens nach den Freiheitskriegen – ein gutes Gefühl, das den Menschen unabhängig machte. Dabei kamen wir uns nicht etwa als Verkürzte des Lebens vor, sondern nahmen vergnügt, was uns vorgesetzt wurde. Es gab abends Butterbrot mit Milch oder einem Dünnbier, gegen das auch der eingefleischteste Abstinenzler nichts einzuwenden haben könnte. Dazu vielleicht ein paar Radieschen oder Rettig, Kresse und vielleicht einmal weißen oder grünen Käse. Hin und wieder kamen mal üppigere Tage. Einmal zur Granat-(Krabben-)zeit. Wenn der Bauer sein langgezogenes »Naat, Naat« durch die Straßen schallen ließ, von uns immer mit: »De Buur liggt up de Strat« beantwortet, dann eilten Hausmädchen und Kinder mit Schüsseln und Tellern an den Wagen, um sich für 10 oder 20 Pfennig ein ganz ansehnliches Quantum zumessen zu lassen. Dann aber zur Herbstzeit, wenn in den Familien »ein halbes Schwein« geschlachtet wurde; man pflegte Ankauf und Arbeit mit Nachbarn oder Freunden zu teilen. Dann wurde im Hause Wurst gestopft, und das Abendbrot nahm einen Aufschwung. Das geschah bisweilen bei Großvater, wo man unter Umständen auch wohl einmal Schlachterwurst bekam; bei uns nie. Und wie bei uns war es bei vielen. Alt und jung blieb bei dem einfachen Butterbrot und gedieh dabei. Erst Anfang der sechziger Jahre machte ein findiger Kopf ein »Delikateßgeschäft« in Oldenburg auf, das rasch eine große Kundschaft gewann. Damit begann nach Ansicht der älteren Generation der Sittenverfall, da die Hausherren schnell die neuen Genüsse schätzen lernten und die Hausfrauen nicht mehr alles selbst zu bereiten brauchten.

Aber nach dieser durch das Osterei veranlaßten Abschweifung muß ich noch des glorreichen Schlusses des Ostersonntags gedenken: das war der Zapfenstreich. Um neun Uhr – wir durften auch in früheren Jahren am Ostertage so lange aufbleiben – hörte man erst fern, dann immer deutlicher aufregende Militärmusik mit Flöten, Hörnern, Trommeln und Beckenschlagen; sie kam immer näher und durchzog mit betäubendem Lärm auch die Achternstraße, von uns Kindern mit Hochgefühl und lautem Jubel begrüßt. Dann konnte man beruhigt zu Bett gehen.

In späteren Jahren ging das Interesse der großen Jungen fast ganz im Osterfeuer auf, das, auf der soliden Grundlage der schwer errungenen Teertonne mit der ganzen Holzverschwendung jener gesegneten Zeiten errichtet, irgendwo außerhalb der Stadt abgebrannt wurde. Obwohl man sonst nicht sehr orthodox in bezug auf das weiblich Angemessene solcher Freuden war, wurden wir Mädchen doch zu unserem Bedauern dabei nicht zugelassen.

Daß Weihnachten unter den Festen der Glanzpunkt war, ist selbstverständlich. Etwa sechs Wochen vorher erschienen in den Bäckereien die ersten Vorzeichen: »Heiligenchristzeug«, ein Gebäck, das noch heute für mich der Inbegriff aller weihnachtlichen Gerüche, Geschmäcke und Gefühle ist; »braune Kuchen« kamen erst in zweiter Reihe. Das allerbeste gab es bei Bäcker Schütte in der Schüttingstraße. Es war mit allerlei altertümlichen Formen ausgestochen; wir hatten besondere Lieblinge darunter: Josua und Kaleb mit der Weintraube und den Elefanten. Ich bin nicht sicher, ob nicht der gerade bei diesen Figuren besonders ansehnliche Flächeninhalt dabei mitsprach; ein niedliches Pärchen, das in einer Laube saß, wurde selten gewählt, es wies zu viel Höhlungen auf.

Ein weiteres Vorzeichen waren die Weihnachtsarbeiten, aber ein weniger erfreuliches. Ich hatte drei Tanten zu besticken und für meinen Vater ein paar Socken zu stricken, wobei mir seine Füße immer endlos lang vorkamen. Aber jeder Versuch, beim Messen zu »recken«, wurde von Fräulein Lambrecht unbarmherzig vereitelt. Obwohl im allgemeinen eine »präparatorische Natur«, die gern rechtzeitig alles fertig hat, war ich doch immer noch im allerletzten Augenblick mit den unglückseligen Weihnachtsarbeiten beschäftigt. Das half dann freilich die fürchterliche Ungeduld dämpfen, mit der man das Klingeln zur Bescherung erwartete. Sie war bei uns recht bescheiden, aber nie hätten wir das empfunden. Da war ja der Mittelpunkt: das Buch! Daneben trat all das Notwendige und Nützliche, das sonst noch dalag, in den Hintergrund. Wir machten uns auch nie klar, daß wir Kleider und Handschuhe, Taschentücher und Strümpfe auch so im Lauf des Jahres hätten haben müssen; es war doch so ganz anders, wenn es unter dem Tannenbaum lag. Aber das Buch war die Hauptsache. Ich habe nie eines jener albernen Backfischbücher bekommen, die zu meiner Zeit schon anfingen, den jungen Mädchen den Magen zu verderben, auch nie Herzblättchens Zeitvertreib oder Thekla von Gumperts Töchteralbum, auch nicht »Hundert moralische Erzählungen«, aus denen man doch immer nur die Geschichten von den ungezogenen Kindern heraussuchte. Erst waren es Märchen und Sagen in schönen illustrierten Ausgaben, die ich bekam, dann Geschichtliches, dann Körner, Uhland, Hölty und was sonst meinem Verständnis erreichbar schien. Das war denn eine Weihnachtszeit! Hatte man sein eigenes Buch »durch«, was unter Umständen schon am zweiten Weihnachtstag der Fall sein konnte, so kamen die Bücher der Brüder an die Reihe. Die Indianerbücher waren nicht in dem gleichen Grade verpönt wie die Backfischbücher, und man genoß sie aus Herzensgrund. Dazwischen ging man an den Tannenbaum, den wir weniger nach seiner Schönheit als seinem reellen Gehalt schätzten. Am ersten war er an der weniger der Kontrolle ausgesetzten Rückseite leer gegessen: dann rissen allmählich alle Bande frommer Scheu, und wenn es am Silvesterabend zum offiziellen »Plündern« kommen sollte, war das gewöhnlich zu einem rein formalen Begriff geworden.

Die Poesie der Weihnachtsgeschichte bedeutete mir etwas, besonders in späteren Jahren. Aber der Brauch meines Elternhauses, an solche Dinge nicht zu rühren, entsprach ganz meinem Gefühl; innerliche Dinge machte man auch innerlich ab. Wenn die Schule daran rührte, so ging das noch, daran war man auch schließlich gewöhnt. Aber Feierlichkeit im Elternhause empfand man peinlich, fast als eine Preisgebung. Gefühlsäußerungen gehörten überhaupt bei uns nicht zu den Familiengewohnheiten; ich habe einmal Tränen in den Augen meines Vaters gesehen: an dem Morgen, als meine Mutter beerdigt wurde, und erinnere mich auch nur einmal, daß er mich geküßt hat, als ich von einer längeren Reise zurückkam; es machte mich sehr verlegen.

Es ist keine bloße Ideenassoziation, wenn ich an die Weihnachtszeit noch die Erinnerungen an die glorreiche Schnee- und Eiszeit knüpfe, sondern es gehört ganz logisch in dieses Kapitel, denn eigentlich war diese ganze Zeit ein Fest. Ich weiß nicht, waren damals wirklich die Sommer sonniger und die Winter winterlicher als heute? Jedenfalls erinnere ich mich an einen Winter, wo schwere Frachtwagen über die Hunte fuhren, und eigentlich an keinen, wo wir nicht »glitschen« oder Schlittschuh laufen konnten, oder nicht eine Zeitlang unseren Schulweg durch hohe Schneedämme an den Straßenkanten machten. Die Glückseligkeit, wenn man dann einmal in Dugends Schlitten zur Schule abgeholt wurde! Und die Sorge, wenn man glücklich eine schöne lange Glitsche auf dem Straßendamm bis zum Dunkelwerden gehalten hatte, ob nicht einer dieser boshaften Erwachsenen, die solche Angst um ihre Glieder hatten, sie über Nacht mit Sand bestreut oder gar an einer Stelle aufgehackt hatte!

Aber das Schönste war doch das Schlittschuhlaufen. Ich war noch nicht lange in Kruses Schule, da schnallte mein Vater mir auf der Graft die Zu Weihnachten bescherten Schlittschuhe unter – das geschah damals noch nach dem alten System mit Lederriemen, die man so fest anzog, daß das Blut fast stockte –, stellte mich hin und empfahl mich der Obhut meines Bruders, d. h. überließ mich nach dem zwischen uns geltenden Geheimabkommen meinem Schicksal. Ich war damit auch ganz zufrieden, zählte gewissenhaft, wie oft ich fiel, und hatte es denn bis zum Dunkelwerden glücklich auf dreizehnmal gebracht. Einen mir angebotenen Platz hinter einem Schlitten, wo man sich für die ersten Übungen festhalten konnte, schlug ich stolz aus; mein Vetter Friedrich bezeichnete Jungen, die diese feige Methode befolgten, als »Schmachtlappen«, ein Wort, das er mit unsäglicher Verachtung aussprach, und zu denen wollte man um keinen Preis gehören. Ich kam denn auch bald ganz ordentlich vorwärts, so daß ich später einmal gewürdigt wurde, mit Vater und Bruder über die überschwemmten Wiesen nach einem entfernten Wirtshaus zu laufen, wo wir ein Glas »Heiß und Süß« (Eierbier) bekamen. Wir liefen mit besonderem Stolz auf unseren »echten Brenner Moor«, langschnäbligen glatten Schlittschuhen, mit denen man unglaublich schnell vorwärts kam, und verachteten die kurzen, gerillten, die damals schon Mode wurden. Als ich später einmal in Berlin Schlittschuh laufen wollte, wurde mir erst klar, wie gut wir es auf dem überschwemmten »Dobben« gehabt halten (auch dort erstreckt sich heute ein steinernes Meer). Dicht am Theaterwall freilich war das Gedränge schlimm; dort liefen die, die sehen und gesehen werden wollten. Wem daran nicht lag, der konnte ganz einsam oder zu zweien über weite Flächen sausen und die ganze Poesie auskosten, die solch ein Wintertag bot. Kein Wunder, daß man an Sonntagen sogar dem sonst nicht unwillkommenen Zwang des Mittagessens sich ungern fügte und in der Woche jede schulfreie Stunde auf dem Eise lag.

*

Die fünfziger und sechziger Jahre waren so recht die Zeit der Sänger- und Schützenfeste. Die »Joppe« war populär. Herzog Ernst von Koburg-Gotha, der besondere Held der Schützenfeste, ließ sich mit Vorliebe darin sehen unb abbilden. Die Vermischung der Stände, von der 48er Revolution mit etwas theatralischer Mache angestrebt, wurde hier ganz harmlos und zwanglos zur Wirklichkeit. Alles nahm irgendwie teil. Die Schützenfeste wurden auf einer großen Wiese an der Osternburg abgehalten. Die ganze Stadt hatte dazu ihr Festgewand angelegt. Quer über alle Straßen, die der Schützenzug passieren mußte, spannten sich die Kranzgewinde. Kinder und Erwachsene waren tags vorher eifrig unter rücksichtsloser Plünderung der Hausgärten mit der Heranschaffung des nötigen Grüns beschäftigt, das unter unendlicher Bindfadenverschwendung auf dicke Stricke gebunden wurde, häufig mit Blumen durchsetzt. Anspruchsvollere brachten noch in der Mitte eine Tafel an mit »Herzlich willkommen« oder irgendeiner eigenartigeren Wendung: im ganzen war Oldenburg in dieser Beziehung sehr konservativ. Morgens früh besichtigten wir Kinder dann die Straßen, um festzustellen, ob nicht doch die Achternstraße sich am meisten hervorgetan habe. Aus allen Fenstern wehten die schwarz-rot-goldenen Fahnen, die der Stadt ein so warmes und festliches Gepräge gaben. Am Sonntag Nachmittag zogen dann die Schützen hinaus, umgeben von unendlichen Kinderscharen, die bis zur Osternburg hinaus »in gleichem Schritt und Tritt« zu bleiben versuchten. Den Platz umgaben natürlich Kuchenbuben; auch an Karussells und ähnlichen Vergnügungen fehlte es nicht. Kletterstangen (wie wir behaupteten, mit Seife beschmiert), an denen hoch oben Würste, Tabakspfeifen unb Taschentücher winkten, lockten die Jungen. Es war höchst dramatisch, wenn einer bis oben hinkam und schon die Hand nach dem lockenden Gut ausstrecken wollte, dann aber doch erschöpft abrutschte. Unten schlich er sich schleunigst beiseite, denn Mitleid mit abgerutschten Größen kannte die Oldenburger Schuljugend nicht.

Aber das Aufregendste waren natürlich die Schießstände. Der stolze Adler, der oben auf bei Stange thronte und Szepter und Reichsadler spreizte, wurde allmählich seiner Gliedmaßen beraubt. Atemlos beobachtete man das Schießen der Väter unb Bekannten. Mein Vater war ein sehr sicherer Schütze, und bei jedem Schuß, der saß, jubelte mein Kinderherz. Aber eine tiefe Enttäuschung ergriff mich, als er einmal, nur noch um einen Schuß vom »Schützenkönig« entfernt, versagte. Mein Onkel, der neben mir stand, sagte schon vorher: »Paß auf, nun schießt Papa vorbei.« Und so geschah's. Er lachte, als er mich so fassungslos dastehen sah und erklärte: »Er will nicht Schützenkönig werden.« Das war nämlich wegen der damit verbundenen Bräuche ein sehr kostspieliges Vergnügen. Aber daß man nicht sein halbes oder meinetwegen auch sein ganzes Vermögen dafür hingeben sollte, Schützenkönig zu werden, das war mir unfaßlich. Ich beruhigte mich erst, als er später von den Schützen zum Hauptmann gewählt wurde, zumal das nach meines Onkels Erklärung viel mehr zu bedeuten haben sollte, wenn mir das auch bei dem Abstand zwischen einem König und einem Hauptmann nicht recht aufgehen wollte.

Aber ein weit höherer Glanz als auf dem Schützenfest lag für uns Kinder auf dem großen Oldenburger Herbstmarkt, dem »Kramermarkt«. Er fiel in unsere Herbstferien und dauerte von Sonntag nachmittag vier Uhr bis Freitag mittag. Tage voll von Anregung und Aufregung. Man konnte es kaum abwarten, bis es dreiviertel vier war und man losziehen durfte. Wir beiden Ältesten durften allein gehen, und ich war herzensfroh darüber, da so viele Gefährtinnen nur in Begleitung ihrer Familie oder Mädchen – das »Fräulein« schlief noch im Zeitenschoße – den Markt besuchen durften, und damit war ja der eigentliche Spaß dahin, das selbständige Aussuchen und Wählen der Genüsse. Voraussetzung war wohl dabei, daß Otto auf mich »passen« sollte; aber wir nahmen das beide nicht schwer, wenn unsere Interessen uns verschiedene Wege fühlten.

Die Buden bedeckten in drei oder vier Reihen den Marktplatz: einige standen noch in den benachbarten Straßen. Überwiegend waren die Honigkuchenbuden, aus denen die Braunschweiger Besitzerinnen unaufhörlich die Vorübergehenden anlockten mit einem Ruf, den die Kinder mit: »Hirnsemäl« (Hören Sie mal) nachäfften. Weiter hinten waren dann die Tierbuden, Panoramen, Riesendamen usw. Lauter Herrlichkeiten, die man alle hätte genießen mögen, aber die Möglichkeiten hingen von den Mitteln ab, und die waren beschränkt. Der Geldbeitrag zum Kramermarkt stand ein für allemal fest: 12 Grote vom Großvater, 6 vom Vater Von 1857 ab traten an die Stelle der Grote (1/72 Taler zu je 3 Schwaren) die Groschen, die alte Bezeichnung blieb aber bei vielen Münzen noch lange.. Das waren 18 Grote, auf sechs Tage zu verteilen. Das wurde natürlich nicht innegehalten; war man nicht am ersten Tage mit seinem Gelde fertig, so doch meistens am zweiten oder dritten. Bei mir stand auch die Einteilung ziemlich fest: 12 Grote für Karussell, 6 meistens für »Schmurtaal«. Dabei war dann die Frage, ob man einen »dicken« Aal für 6 Grote nahm oder, zur Verlängerung, aber nicht gerade Erhöhung des Genusses, mehrere zu 1 oder 2 Grote. Es gab sogar welche zu 3 Schwaren, aber die waren nicht ratsam, da sie sich in Aussehen und Geschmack nicht wesentlich von geteerten Bindfäden unterschieden. Manchmal erlag man auch der Verlockung der bunten, spiralisch gedrehten Zuckerstangen oder dem »Schmalzgebackenen« – bis einmal eine Mitschülerin behauptete, es werde mit Mopsfett hergestellt, über die Statistik der zur Herstellung des sehr ansehnlichen Verbrauchs der Schmalzbuden notwendigen Möpse zerbrachen wir uns nicht weiter den Kopf; die Buden wurden eine Meile gemieden. Für Kuchen blieb in der Regel nicht viel übrig; da heftete man sich denn an die Sohlen einer marktbesuchenden Tante; schließlich wurden in den letzten Tagen auch noch von irgendwelcher Seite ein paar Grote gespendet.

Aber auch ohne Geld gab es der Genüsse so viele. Da war vor allen Dingen das Kasperletheater. Was war es jedes Jahr wieder für ein aufregender Moment, wenn Sonntags Punkt vier Kasperle sein Bein über die Brüstung warf: »Jungens, dar bün ick. Weet ji, wat ick nu do?« Und auf das Gebrüll des Chors: »Nää!« – antwortete: »Nu gah 'ck wedder weck.« Und dann kamen alle die dramatischen Szenen mit dem alten Feldsoldaten, dem die »verdammten Fliegen« keine Ruhe lassen wollten, mit Tod und Teufel, mit Mariken und dem kleinen Gregorius, vulgo Zichorius, die uns in atemloser Spannung erhielten. Wenn man tatsächlich keinen halben Groten mehr besaß, mußte man freilich aufpassen, daß man sich vor der meist in spannungsreichen Augenblicken einsetzenden Tellersammlung in Sicherheit brachte; sie war aber auch weniger auf uns Kinder, wenigstens auf die kleineren (die erste Klasse stand nachher nicht mehr vor dem Kasperletheater; ich brachte dieses Opfer meinem Dekorum stets mit Bedauern), berechnet, sondern auf die Erwachsenen. Dann waren da die Orgeldreher mit den großen Bildern, die in fortlaufender Darstellung die Lebensgeschichte des gerade berühmten Raubmörders brachten. Beim Absingen des dazugehörigen Liedes, das Mann und Frau mit so merkwürdig schetternden Stimmen vortrugen, wurde dann fortlaufend mit dem Zeigestock das betreffende Bild berührt; das erste zeigte in der Regel das friedliche Heim mit den frommen Eltern, die Mitte die Moritat und das Schlußbild das Schafott, manchmal auch ein Massenbegräbnis der Opfer in einer perspektivisch angeordneten Reihe von schwarzen Särgen mit weißen Kreuzen. Manche Bilder kamen einem nachts wieder vor. Auch die Schaubuden boten schon äußerlich so viel des Interessanten; die ganze Reklame – nach unserem Urteil durch den Wert des Gebotenen durchaus gerechtfertigt – interessierte uns aufs lebhafteste. Und das Karussell war ja von vornherein in unsere Geldwirtschaft mit einbezogen; da konnten wir also ganz berechtigt herumstehen. Die Kutschen waren wenig beliebt; es mußte trotz des höheren Preises ein großes Pferd sein, das wir bestiegen. Die kleinen Pferde und die Löwen boten ja nicht die Möglichkeit des Ringstechens, mit dem man eine Freifahrt erkaufte. Wer zuerst sechs Ringe gestochen hatte, rief »Partie!« und durfte für die folgende Fahrt auf seinem Pferde sitzen bleiben, das dann allerdings für das Ringstechen auf den letzten Platz rückte.

Auch die Straßen der Stadt waren stark durch den Kramermarkt in Mitleidenschaft gezogen. Schon durch das unaufhörliche Gedudel der Orgeldreher; wenigstens drückte sich so mein Vater aus. Für uns war es begeisternd! Da waren zuerst die Italiener, deren Orgeln wir von allen anderen unterscheiden zu können meinten durch den schönen Klang. Nach meiner Erinnerung spielten sie dauernd »Aus Norma«. Dann aber die Puppenorgeln! Da war zum Beispiel König Herodes mit der Herodias. Alle Puppen standen zu Anfang steif gerichtet da, wenn es dann aber losging und König Herodes den Becher zum Munde hob und ihn mit Augenverdrehen leerte, und wenn die Herodias die Schüssel mit dem Haupt Johannes des Täufers mit plötzlicher Vierteldrehung um ihre Achse dem Herodes gerade unter die Nase hielt, so war das immer wieder aufregend.

Die auf den Kramermarkt folgenden Tage hatten immer einen etwas katzenjämmerlichen Charakter: die Rückkehr ins Alltagsleben und die Erledigung der selbstverständlich gänzlich in den Wind geschlagenen Schularbeiten dämpften die Geister. Als tröstliche Rückerinnerung und solide Zukunftshoffnung blieb immerhin der in den Haushaltstrommeln, besonders den großväterlichen, geborgene Segen an dicken Braunschweiger Honigkuchen und »Pflastersteinen«.

*

Nur selten unterbrachen einmal Reisen den ruhigen Ablauf unserer Kinderzeit. Daß solide bürgerliche Familien zu den großen Ferien auswanderten, war noch nicht Mode. In die Bäder reiste nur, wer es nötig oder ganz überflüssig viel Geld hatte; beides traf damals seltener zu als heute. Einladungen von Verwandten nahm man gern an, aber sie kamen nicht allzuoft. Um so mehr genoß man das selten Gebotene.

Wer heute mit dem Schnellzug durch die Lande rast, ahnt nichts von der Poesie des Reisens in der »guten, alten Zeit«. Es gab sogar eine Poesie des Postwagens, wenn das Gegenüber, mit dessen Beinen man »sich einrichten« mußte, nicht allzu beleibt und einigermaßen umgänglicher Natur war. Wenn man so seine vier Stunden in engster Gemeinschaft von Oldenburg nach Bremen mit dem Postwagen fuhr, oder mit der »Schnelldroschke«, die billiger war, aber ihrem Namen zum Trotz eine Stunde länger fuhr, so konnte man mit der ganzen Familiengeschichte und den Reiseabsichten seiner Gefährten gründlich vertraut werden. Die Schnelldroschken oder Omnibusse waren Privatunternehmungen, und Eigentümer oder Kutscher wurden nie ganz das Gefühl des Verfügungsrechtes darüber los. Da konnte man denn allerlei Gemütlichkeiten erleben. Als ich in späteren Jahren einmal nachts ein solches Gefährt in der Gegend von Bremervörde benutzte, wurde ich aus dem Halbschlummer, in dem man nicht selten mit den Köpfen der Nachbarn zusammenstieß, durch plötzliches Anhalten geweckt. Es war eine milde Mondnacht, und von fern Klang lustige Tanzmusik herüber. Der Kutscher war verschwunden; ein »blinder Passagier«, der vorn neben ihm saß, meinte tröstend: »He schall woll glieks wedder kamen, he is man en beten na de Kirms röwer.« Wir drusselten denn auch wieder ein, und merkten nach einiger Zeit, daß es weiterging, und zwar in einem Tempo, das deutlich verriet, daß unser Kutscher bei dem »en pormol Herumdansen«, zu dem er sich nachher bekannte, die Kirmesgetränke nicht geschont hatte. – Die langsame Fahrt und das viele Halten ließen einem auch die durchfahrenen Gegenden ganz anders zum Bewußtsein kommen als jetzt, was unter Umständen, wenn das Fuhrwerk »mit müder Qual durch die sandige Heide schlich«, nicht unbedingt einen Vorteil bedeutete. Reiste man aber gar mit »eigenem Geschirr« – in der Regel hieß das nur mit einem gemieteten Wagen –, so konnte man wirklich von Behagen sprechen. Das Glück haben wir zweimal als Kinder erlebt, und zwar ging die Fahrt – es war wohl 1857 und 58 – von Oldenburg nach Norddeich, um von da nach Norderney überzusetzen. Da hielt denn schon morgens früh um sechs Uhr der mit rotem Plüsch ausgeschlagene Wagen vor dem Hause, und man bedauerte nur, daß man so ohne Zeugen aus der Schule oder der Nachbarschaft abfahren mußte. Nachdem die sehr schwerwiegende Frage, wer am offenen Fenster meinem Vater gegenüber sitzen durfte (wir beiden ältesten sollten mit ihm unseren jüngsten Bruder abholen, der mit Tante Helene zur Kur in Norderney war), durch väterliche Autorität auf Abwechseln entschieden worden war, lehnte man sich zurück und erwartete den beseligenden Augenblick des Anziehens der Pferde; das bloße Fortbewegtwerden war uns Unverwöhnten schon ein hoher Genuß. Dann ging es durch die noch stille Stadt, erst auf bekannten Wegen, dann in das reizvolle Unbekannte hinaus. Jedes Dorf, durch das man kam, wurde in ein sorgfältig vorher schon bereitgestelltes Notizbuch geschrieben. Tief ins Herz aber schrieb sich mir die Grenzstation Moorburg, an die wir gegen Mittag kamen. Hier wurde ausgespannt; es gab Rührei und Schinken draußen im Garten, und nachher führte uns die freundliche Wirtin an ihre Stachel- und Johannisbeerbüsche, wo wir nach Herzenslust essen durften, bis wieder angespannt war und der Kutscher mit der Peitsche knallte. Als ich bald darauf das Gedicht: »Bei einem Wirte wundermild« las, dessen bildlichen Charakter ich nicht verstand, mußte ich an die Moorburger Wirtin denken. – Dann erfolgte der Übergang ins »Ausland«; es war das erstemal, daß wir die blauroten Oldenburger Grenzpfähle hinter uns ließen. Als wir auf dem Rückwege nachher die gleiche Stelle passierten, verfehlten wir nicht, durch den Gesang: »Heil dir, o Oldenburg« unseren Vaterlandsgefühlen Ausdruck zu geben; das ganze Deutschland sollte es damals entschieden noch nicht sein, übernachtet wurde in Aurich; natürlich besahen wir abends noch, uns stolz als »Reisende« fühlend, die Stadt. Am nächsten Tage ging es dann in dem geliebten Wagen, der uns schon wie eine Wohnstube war, weiter über Norden nach Norddeich. Der erste Anblick des grauen Meeres war mir wie so vielen eine Enttäuschung. Meine Phantasie hatte mir etwas vorgespiegelt, was ich erst Jahrzehnte später in Genua verwirklicht fand; ein Bild, mit dem die Schlickpartien bei erst auflaufender Flut schlecht stimmen wollten. Aber die Überfahrt auf dem kleinen Fährboot von Kapitän Raß entschädigte; sie dauerte ziemlich lange, da der Wind zum Kreuzen zwang. – Deutlichere Eindrücke von der diesmal nur im Fluge gesehenen Insel brachte mir das nächste Jahr, wo ich meinem kranken Bruder zur Gesellschaft mitgenommen wurde. Norderney war damals noch ein wirkliches Fischerdorf; von »Bremer Häusern« oder großen Hotels war noch keine Rede. Die Möglichkeit, im Konversationshaus an der »Table d'ho« – wie die Oldenburger hartnäckig sagten – zu essen, bestand allerdings auch schon damals, wurde aber von uns nur ausnahmsweise an Sonntagen benutzt. Gegenüber dem Konversationshaus wohnte der König Georg mit seiner Familie. Die nach 1866 ziemlich mißachteten Straßen in der Nähe waren damals die vornehmsten; an der nach der Königin genannten Marienstraße, die aufs Watt hinaussieht und jetzt von allen Luftfexen gemieden wird, wohnten die Leute, die auf Bedeutung Anspruch machten. In sehr viel späteren Jahren zeigte mir meine Wirtin dort – ich habe die stille Straße stets mit Vorliebe aufgesucht – mit Stolz in ihrem Fremdenbuch die aus den fünfziger Jahren stammende Einzeichnung: Bismarck.

Den blinden König sah man oft beim Sonnenuntergang den Strand aufsuchen; er ließ ungern durch Abweichen von den üblichen Gewohnheiten sein Gebrechen merken. Vor dem »Schloß« spielten der Prinz Ernst August und die beiden Prinzessinnen häufig mit einem Luftkegelspiel; sie winkten auch wohl umherstehende Kinder zu einem Wurf heran. Meines Bruders weiße Hosen und mein weißes Kleid verschafften uns auch einmal die Ehre. Ich bewunderte aufrichtig – nicht den Prinzen, sondern seinen hübschen Anzug, eine Art von Phantasieuniform, blau, mit schmalen goldenen Litzen.

Aber viel schöner als am Konversationshaus war es am Strande. Das ganze Kinderglück eines Daseins am Meeresstrande, mit Eimer und Spaten, Muscheln und Sand, Burgbauen und Höhlengraben in den Dünen ging mir da auf. Alles war schön; das Wohnen in dem kleinen, sauberen Häuschen am Damenstrand, das Essen vor der Tür, auch die Aufregung, was in der »Menage« enthalten sein werde, in der das Mädchen unser Essen holte, besonders Sonntags und Donnerstags, wo es einen Nachtisch gab. Auch die Badekutschen und das Baden, das Muschelsuchen am Strand und das Kleben von Muschelschachteln, die, wie man optimistisch annahm, bei der Heimkehr unter den Zurückgebliebenen helle Begeisterung erregen mußten.

Einen noch tieferen Eindruck machte mir einige Jahre später die erste Bekanntschaft mit den Bergen. Ich fühle noch die freudige Erregung, als mein Vater eines Tages gegen Ende der großen Ferien sagte: »Habt ihr eure Ferienarbeiten fertig? Dann könnt ihr morgen mit ins Wesergebirge.« Die Ferienarbeiten waren natürlich nicht fertig, aber wie ist an dem Tage geschuftet worden, um wenigstens das Schriftliche noch halbwegs unter Dach zu bekommen. Für den auch noch fehlenden Aufsatz: »Der schönste Tag der Ferien« war ja Aufschub von selbst geboten, da der Stoff dafür ja nun erst kommen sollte. Das Programm für die drei Tage, die mein Vater und sein Freund nur Zeit hatten, war stark: den ersten Tag mit Postwagen und Bahn über Bremen und Hannover bis Hameln – der Roland und das Rattenfängerhaus waren die Höhenpunkte –, den zweiten in aller Herrgottsfrühe auf die Klus und dann nach kurzer Fahrt zu Fuß über Schauenburg, Pagenburg, Ahrensburg nach Bückeburg, den dritten wieder nach Hause. Zwei Herren, drei Jungen und ich.

Wenn ich an diese Reise zurückdenke, so kommt es mir vor, als ob die Menschen viel rücksichtsvoller und teilnehmender miteinander umgingen als jetzt. Als ob das Publikum gebildeter gewesen wäre und kein solches Drängen und Stoßen wie heutzutage. Die erste Eisenbahnfahrt, die ich machte, führt mir lauter freundliche Bilder vor die Augen. Alles freute sich an unserer Freude. Mir fuhren natürlich dritter Klasse; ein junger Musikus, der nach Hannover mußte, aber kein Geld hatte, lag den ganzen Weg von Bremen ab unter der Bank, und nicht nur wir Kinder, sondern sämtliche Mitreisenden waren lebhaft besorgt, ob er auch nicht entdeckt würde, wenn er sich oben mal ein wenig verschnaufte. Sperre gab es damals nicht, und so kam er denn wirklich zu unser aller Erleichterung glücklich nach Hannover. Daß der Staat betrogen wurde, beschwerte unsere unkomplizierten Gemüter weiter nicht. Lebhaften Eindruck machte mir noch ein anderes Erlebnis. Mein Vater, der sich angeregt mit einem Herrn neben ihm unterhalten hatte, rief mich dazu und ließ mich hören, wie dieser in Versen über die Reise und die Gegend, die wir durchfuhren, improvisierte. Das gab am folgenden Tage Veranlassung zu einer Preisaufgabe. Fünfzig Pfennig wurden für das beste Gedicht ausgesetzt. Ich erinnere mich, daß das Gedicht von Julius Brunsmann – mein Bruder und mein Vetter beteiligten sich nicht an der Konkurrenz – mit den mir sehr imponierenden Worten schloß: »Das Oldenburger Bürgerrecht.« Dem gegenüber glaubte ich sicher die Segel streichen zu müssen; die beiden Herren lachten aber und sprachen mir den Preis zu, ob aus Freundlichkeit gegen das kleine Mädchen oder wegen meiner begeisterten Lyrik, muß dahingestellt bleiben. Die Hochstimmung zu schildern, die ihr zugrunde lag, unternehme ich nicht. Es war, als ob sich Jahre in den einen Tag zusammendrängten. Berge, Ritterburgen, Wälder – es war überwältigend. Die höchst respektable Fußleistung des Tages, über die mich der lyrische Schwung lange hinweggetragen hatte, machte sich nun aber bei hereinbrechender Nacht mächtig geltend. Zwischen meines Vaters Spazierstock und meinem Regenschirm humpelte ich nur noch so meines Weges auf der endlosen Chaussee von der Ahrensburg nach Bückeburg. Da klang von der nach Eilsen führenden Straße das Geklirr eines Wagens; er kam näher! Es war ein Mietsfuhrwerk, das nach Bückeburg zurückfuhr und nun für uns requiriert wurde. Die Jungen taten zwar, als ob sie lieber marschiert wären, waren aber im Grunde gerade so froh wie ich, die ich dann in Bückeburg, fest eingeschlafen, aus dem Wagen gehoben werden mußte.

Eine letzte, mir unvergeßliche Reise nach Schwarzenhütten machte ich mit meinem Bruder Otto noch im letzten Schuljahr. Ich erwähne sie noch in anderem Zusammenhange.

Mit diesem letzten Schuljahr schloß auch meine Kindheit ab. Ende Januar 1864 starb mein Vater nach ganz kurzer Krankheit am Gehirnschlag. Die Umwälzung, die damit für mein Leben eintrat, war mir damals noch keineswegs klar. Mein Vater halte noch für meine »Pensionszeit« – damals ein durchaus notwendiger Abschnitt im Dasein eines jungen Mädchens – Verfügungen getroffen, so daß mein Leben vorläufig noch in gebahnten Geleisen verlief. Aber die Empfindung, daß es an einem Abschnitt stehe, wurde mir auch noch durch andere Erlebnisse jener Zeit gegeben. Die Kindheit war versunken, die Zeit der selbständigen Lebensgestaltung, de Jugend, begann.


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