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England und die Kaiserin Friedrich

Eine Hoffnung für die Erfüllung unserer Forderungen war immer noch geblieben: das warme Interesse der künftigen Kaiserin. Aber die Schatten fielen dichter und dichter. In der drängenden Hast der 99 Tage wäre doch wohl kaum Raum für eine als so untergeordnet geltende Angelegenheit gewesen. Jedenfalls kam die Petition aus dem Abgeordnetenhause mit dem bekannten Formular für nicht mehr während der Session erledigte Sachen zurück, und die Regierung verschleppte ihrerseits die Antwort – um das gleich vorwegzunehmen – über ein Jahr, um dann die Petentinnen in scharfen Ausdrücken zurückzuweisen.

Aber viel früher schon war uns die Überzeugung unabweisbar erschienen, daß an eine Bewilligung unserer Forderungen, auch nur an ein annäherndes Verständnis der Regierung nicht zu denken sei. Die Voraussetzung der von uns angestrebten Reform der Mädchenbildung: bessere Bildungsmöglichkeiten für die Lehrerinnen, würde nicht oder in ganz unzureichender Weise erfüllt werden, wenn wir nicht selbst die Wege dazu zu bahnen suchten. Sie waren in England längst geschaffen. Vielleicht ließ sich ähnliches unter Anpassung an die deutschen Verhältnisse auch bei uns versuchen. Ich hatte mir längst vorgenommen, einmal die englischen Frauenbildungsanstalten kennen zu lernen. Nun bot sich mir unerwartet die denkbar beste Einführung dahin.

Die Kaiserin Friedrich ließ mich bald nach dem Tode des alten Kaisers nach Charlottenburg kommen, um mit mir die Möglichkeit einer Durchführung unserer Pläne zu besprechen. Ich traf sie strickend am Kamin und hatte die erste der anregenden und innerlich bereichernden Stunden mit ihr, der später noch so manche gefolgt ist, die als eigenster Besitz in meiner Erinnerung lebt. Diesmal hatte die Unterhaltung ihre gewiesene Bahn. Mein Wunsch, in England die Frauenbildungsverhältnisse zu studieren, erregte die lebhafte Anteilnahme der Kaiserin, und sie stellte mir sofort eine persönliche Einführung für die in Frage kommenden Stellen in Aussicht, die sich denn auch nachher als sehr wirksam erwies. Sie entließ mich mit dem zuversichtlichen Ausdruck der Hoffnung, doch noch für die Durchführung unserer Pläne wirken zu können. Die tiefe Tragik, die darin lag, daß gerade dieser Fürstin, die wie keine andere berufen schien, Neues herausführen zu helfen, eigene Ideen in die Tat umzusetzen, gewaltsam die Gelegenheit dazu abgeschnitten werden mußte, kam mir angesichts dieser Hoffnung doppelt ergreifend zum Bewußtsein.

Ende Mai 1888 trat ich dann meine Reise an. Ich nahm meinen Aufenthalt in London im deutschen Lehrerinnenheim 16 Wyndham Place. Helene Adelmann, die Schöpferin und Vorsitzende des Vereins Deutscher Lehrerinnen in England, war in Deutschland; so empfing mich ihre Mitvorsteherin Magdalene Gaudian, und ich betrat zum erstenmal die Räume, in denen ich bei wiederholtem Aufenthalt in England so viele frohe und wertvolle Stunden zugebracht habe – wenig ahnend, daß drei Jahrzehnte später jede Spur der segensreichen Arbeit zerstört sein würde, die sich hier in den Dienst der deutschen Lehrerinnen – und auch der Vermittlung zweier Kulturen – gestellt hatte. Am nächsten Morgen gab ich meinen Einführungsbrief von der Kaiserin in St. James' Palast bei Lady Ponsonby ab. Sie lag krank im Bett. Die Großzügigkeit, mit der sie jede Konvention beiseite schob und die Fremde trotzdem empfing, weil ihr der Wunsch der Kaiserin doch zu wichtig sei, imponierte mir und zeigte mir zugleich, mit welcher Liebe und Treue das Andenken der Prinzeß Royal in ihrer Heimat gepflegt wurde. Wir verabredeten dann alles in bezug auf meine Besuche in den Frauencolleges von Cambridge, bei deren Vorsteherinnen Lady Ponsonby mich selbst ankündigte. Das brachte mir den für meine Zwecke unschätzbaren Vorteil, daß ich in den Colleges selbst wohnen durfte und dort jede Art von Förderung für meine Studien fand.

Ich bin nicht gerade auf Bewunderung fremder Völker angelegt und habe bei meiner ersten Italienreise durch stete Vergleiche zugunsten Deutschlands mir den Ruf völliger Verständnislosigkeit für südliche Reize zugezogen, bis Rom und Neapel mich überwältigten. Aber als ich an einem wundervollen Sommertag den stolzen Bau von Girton zum erstenmal auf dem satten Grün der weiten Rasenplätze vor mir sah, als ich mir sagte, daß das eine Schöpfung aus freier Initiative der englischen Frauen sei, denen Männer großherzig und mit warmem Interesse ihre Hilfe geboten hatten, da habe ich aufrichtige Bewunderung empfunden. Der gleiche Eindruck wiederholte sich in Newnham-College. An seiner Spitze stand damals noch seine Mitbegründerin, Miß Anne Clough. Eine feine, mütterlich sorgende, geistig hochstehende Frau. Ich durfte dabei sein, als sie einige Abgehende empfing und mit ihnen ihre weitere Lebensgestaltung besprach, jede nach ihrer Eigenart würdigend und beratend. Beide Colleges boten je hundert Studentinnen etwa ein behagliches Heim; in Newnham war neben dem eigentlichen Universitätsstudium auch Gelegenheit zu Studien allgemeinerer Art ohne Abschlußprüfung gegeben. Die vollkommene Selbstsicherheit, mit der alle äußeren und inneren Angelegenheiten von den Frauen selbst nach den ihnen gemäßen Prinzipien geordnet wurden, die freundliche, ohne jene protegierende Überlegenheit gebotene Hilfsbereitschaft der Männer, wenn sich noch Schwierigkeiten auf den neu betretenen Wegen fanden, waren so verschieden von dem, was ich zu Hause erlebt hatte, daß ich oft ein bitteres Gefühl nicht unterdrücken konnte. Viel hing ursächlich damit zusammen, daß in England keine Einmischung des Staates die natürliche Entwicklung hemmte. Der Staat hatte dafür zu sorgen, daß das notwendige Maß elementarer Bildung geboten wurde. Selbst da wurde zuerst von namhaften Schulmännern wie Rev. Edward Thring Verwahrung eingelegt. »Zum erstenmal in der englischen Geschichte legt eine despotische Macht Geleise für den menschlichen Geist und verlangt, daß alle sie befahren sollen und im Namen der Freiheit und Aufklärung gezwungen werden, dafür zu bezahlen« – so weist er die Leitung des Volksschulwesens durch die Regierung zurück. Das höhere Unterrichtswesen aber war frei, und da stand es überhaupt nicht in Frage, daß, wie die Knabenerziehung von Männern, so die Mädchenerziehung von Frauen geleitet werden müsse. Ebenso war es selbstverständlich, daß die Frauen, als sie den Mangel einer gründlichen Vorbildung für ihre Aufgabe empfanden, sich diese schufen. Was dabei wieder in scharfem Gegensatz zu den heimischen Zustanden stand, war das lebhafte Interesse, das die Frauen der gesellschaftlich führenden Kreise der ganzen Bildungsbewegung entgegenbrachten und durch Bereitstellung reicher Mittel betätigten. Bei uns dagegen wandten sie sich mit ganz geringen Ausnahmen sowohl von diesem Stück Frauenbewegung wie von jeder Berührung mit der ganzen »Emanzipation« ab.

Einen Grundriß der ganzen englischen Frauenbildungsverhältnisse zu geben, wie sie sich nur damals in Colleges und High Schools erschlossen, kann nicht im Plan dieser Erinnerungen liegen. Ich habe alle diese Eindrücke damals in dem kleinen Buch »Frauenbildung« (Berlin 1889) verarbeitet. Hier seien nur die Punkte hervorgehoben, die mir am meisten der Beachtung wert erschienen.

Zunächst: kein Mensch sprach, wenn es sich um Wissenschaft handelte, von »weiblicher Eigenart«. Ich selbst warf die Frage mehrfach auf, um mich über die dort herrschenden Anschauungen zu unterrichten, besonders im Gespräch mit Constance Jones, Professor in Girton College, die mir in jeder Weise behilflich war. (Unsere erste Anknüpfung hatte Lotze geboten, dessen »Mikrokosmus« sie mit seiner Einfühlung ins Englische übersetzt hatte.) Die Ansicht war diese: Der gewiesene Weg sei zunächst der, den die Männer gegangen seien. Ob es zweierlei Wege zur Wissenschaft gebe, sei fraglich; sollten sich aber mit der Zeit andere Methoden und Wege aus der Auffassung der Frauen ergeben, so würden sie um so sicherer gefunden und um so wirksamer von den männlichen sich abheben, wenn diese zunächst zugrunde gelegt seien. Das sei um so mehr zu empfehlen, als die allgemeinen formalen Grundlagen zweifellos allgemein menschlich, nicht männlich seien. Ein taktischer Grund für dieses Verfahren sei überdies auch, daß der Mann nur seine Art des Wissenschaftsbetriebs und nur seine Grundlagen dafür als vollwertig anerkenne. Nach dieser Auffassung ist denn auch allgemein verfahren. Es fiel damit auch das unselige Hinken nach zwei Seiten fort, das bei uns begann, als man sich im zwanzigsten Jahrhundert zur Einrichtung von »Studienanstalten« für Mädchen entschloß; wie der Name der Knabenanstalten, so mußte auch die volle Angleichung vermieden werden: der »weiblichen Eigenart« entsprach z. B. etwas weniger Mathematik usw., d. h. man bürdete den Mädchen, da die Universität die gleichen Anforderungen an sie stellte, entsprechend mehr eigene Arbeit auf.

Dann: Männern wie Frauen erschien es vollkommen selbstverständlich, was daheim so schwer begreiflich zu machen war, daß Mädchen durch Frauen erzogen werden müssen. Zu den Selbstverständlichkeiten gehörte es auch, daß in den Colleges bei den Studentinnen die oberste Leitung in Frauenhand lag, wie ja auch die im College selbst lebenden Lehrer natürlich Frauen waren. Der eigentliche Unterricht war gleichmäßig auf Frauen und Männer verteilt; der wichtigere fiel hier den Männern zu, weil die Studentinnen die gleichen Vorlesungen mit den Studenten zusammen hörten.

Die High Schools – die gleichfalls auf freie Initiative der Frauen zurückzuführen sind, besonders auf die 1871 ins Leben gerufene Womens Education Union – standen ebenso selbstverständlich unter weiblicher Leitung. Hier überwog der Frauenunterricht bei weitem: der männliche Unterricht war keineswegs grundsätzlich ausgeschlossen, konnte man aber eine tüchtige Frauenkraft haben, so zog man diese vor. Die größere Geschlossenheit und innere Unabhängigkeit der studierenden jungen Mädchen, soweit ich sie in den Unterrichtsstunden und in den Debattierklubs in Girton und Newnham kennen lernte, schien mir mit dieser durch ihr eigenes Geschlecht bestimmten und gebotenen und darum einheitlicheren Bildung zusammenzuhängen. Wenn auch die Gegenstände genau die gleichen waren wie in den Knabenschulen, so war doch die ganze Art der Vermittlung, die Wahl der Gesichtspunkte durch die Geschlechtseinheit ihrem eigenen Wesen angepaßt, das so zu ruhigerer Auswirkung kam. Eine Debatte darüber war schwierig, weil man bei der Selbstverständlichkeit der Sache kaum eine Möglichkeit der Diskussion sah. Unser deutsches System der Mädchenbildung durch Männer war den meisten kaum verständlich; eine Lehrerin, die in einer Berliner öffentlichen Mädchenschule hospitiert hatte, schilderte ergötzlich ihr maßloses Erstaunen, als sie auf dem Spielplatz inmitten der sich tummelnden Mädchenscharen Männer als Aufseher umherstolzieren sah. Ihre Behauptung, daß auch in den Lehrerinnenseminaren mit Internaten Männer mit der Leitung betraut seien, wurde erst auf meine Bestätigung hin überhaupt geglaubt.

Meine Eindrücke über das in den High Schools befolgte Erziehungssystem habe ich seinerzeit folgendermaßen zusammengefaßt:

»Wie bewährt sich das in den Mädchenschulen befolgte System? Können wirklich Frauen ganz allein ohne irgendwelche männliche Beihilfe große öffentliche Schulen leiten? Die tatsächlichen Erfolge stellen das ganz außer Zweifel. Das Geschäftliche – für das selbst die wohlwollenden Vertreter der Fraueninteressen in Deutschland einen technischen Direktor vorschlagen – wird in mustergültiger Weise erledigt; die Disziplin ist eine vorzügliche und wird mit sehr geringen äußeren Mitteln aufrechterhalten. Eine bemerkenswerte Wohlerzogenheit bei aller harmlosen Fröhlichkeit und die völlige Abwesenheit des herausfordernden Tones, den sich Mädchen, die ausschließlich unter Männerleitung stehen, nur zu leicht aneignen, fällt angenehm auf. Das Uhrwerk des großen Schulorganismus bewegt sich mit geräuschloser Sicherheit; der Verkehr zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen ist in weitaus den meisten Fällen ein freundlicher und herzlicher und die sittliche Haltung eine vorzügliche. Ehrenhaftigkeit gegen die Lehrerinnen gilt durchweg bei den Mädchen als guter Ton; sie wird verdient durch das Vertrauen, das den Kindern geschenkt wird, so lange sie sich desselben nicht unwürdig gezeigt haben ...

System gegen System gehalten, ist das englische dem in unseren öffentlichen höheren Mädchenschulen befolgten entschieden vorzuziehen. Besser die Einseitigkeit, die die heranwachsenden Mädchen in der Schule lediglich in Frauenhand gibt – eine Einseitigkeit, die ja ihr unbeanstandetes Analogon in der Knabenschule hat –, als die Unnatur, die Männer in leitender und Frauen in einflußloser Stellung, ohne wissenschaftliche Durchbildung, den Mädchen gegenüberstellt. Damit wird systematisch in Deutschland eine Überschätzung des männlichen und eine Unterschätzung des weiblichen Elements und weiblicher Fähigkeiten bei den Mädchen großgezogen, die für die Herausarbeitung ihrer Individualität, für die Erfüllung ihrer späteren Verpflichtungen geradezu verhängnisvoll werden muß ...«

Aber den absoluten Wert des ganzen englischen Unterrichtswesens habe ich an derselben Stelle meine kritischen Gedanken geäußert. Die einseitige Betonung der intellektuellen Bildung und Schulfächer gegenüber den ethischen erschien mir als ein Mangel. Aber damit hatte ich es im Grunde nicht zu tun. Was mich interessierte und anging, war das Verhältnis der Mädchen- zur Knabenbildung – sie wurde ebenso bewertet und gehandhabt wie diese – und das Verhältnis der Frauen zur Mädchenbildung, das genau dem entsprach, was mir eigenes Nachdenken und eigene Erfahrung als das Naturgemäße auch für uns gezeigt hatte. Im übrigen war an eine Übertragung der so ganz verschiedenen englischen Einrichtungen auf deutschen Boden ja überhaupt nicht zu denken. Nur um die Übertragung des Prinzips konnte es sich handeln; des Prinzips, wonach den Frauen eines Volkes dieselbe Bildung zugänglich zu machen ist wie den Männern. »Dies Prinzip gesetzt, werden sich die Dinge in Deutschland auf deutsche Weise entwickeln, wie sie sich in England auf englische Weise entwickelt haben«, das war die Folgerung, die ich zog.

Ich habe meine Eindrücke in Colleges und High Schools gleich zusammenfassend gegeben, weil beide nach einem einheitlichen Plan gegründet sind. Eingehend studiert habe ich die High Schools erst nach meinem Cambridger Aufenthalt in London. Auch hier konnte man aufrichtige Anerkennung nicht versagen, wenn man bedachte, aus welchem Tiefstand die englische Mädchenbildung ohne jede Staatshilfe durch freiwilligen Zusammenschluß von Frauen und Männern – unter diesen der Oxforder Professor Max Müller – emporgehoben war. Ich lernte dann auch die School of Medicine und das Hospital for Women kennen, und erhielt einmal wieder ein Stück Anschauungsunterricht, der sehr im Widerspruch zu deutschen Theorien stand. Als ich das Präparierzimmer betrat und die jungen Mädchen emsig an den Leichenteilen an der Arbeit sah, kam mir eine Unterredung mit einem Arzt ins Gedächtnis, einem tüchtigen, auf anderen Gebieten ganz vorurteilslosen Mann, der das, was ich hier mit eigenen Augen sah, für unmöglich erklärte oder nur mit dem Verlust jeder weiblichen Regung zu erkaufen. Die sympathische, freundliche Studentin, die mich umherführte, sah so ganz jungmädchenhaft aus, daß mir wieder einmal die Unfehlbarkeit solcher männlicher Urteile in recht zweifelhaftem Licht erschien.

Ich freute mich, nach dem vielen Sehen und Hören einer Einladung von Miß Jones nach ihrem hübschen Landhaus in Südwales folgen zu können. Hier genoß ich die wundervolle Gegend und vertiefte und bereicherte noch meine Eindrücke durch den Gedankenaustausch mit einer so hervorragenden Vertreterin der bahnbrechenden neuen englischen Frauengeneration. Dann schloß ein Aufenthalt in Chepstow, einem kleinen Walliser Badeort, meine englische Studienreise ab. Ich stellte dort den Teil meines kleinen Buches »Frauenbildung« zusammen, der sich mit England beschäftigt; es mußte mir um so mehr an einer korrekten und eingehenden Darlegung meiner Eindrücke liegen, als ich schon in den Colleges erfahren hatte, daß immer kurz vor mir ein vom preußischen Kultusministerium – offenbar als Konzession an das kurze liberale Regiment – entsandter Berichterstatter dagewesen war. Er hatte sich überall da, wo ich Tage und Wochen lang Eindrücke sammeln konnte, mit Stunden begnügt, noch dazu bei mangelhafter Kenntnis der Landessprache.

Seine Mitteilungen erwiesen sich denn auch als sehr einseitig und korrekturbedürftig.

Die kleine Schrift hat sich mir dann unter den Händen zu einer Fortsetzung der Begleitschrift, zu einer zweiten Kampfschrift gestaltet. Ich suchte darin nicht nur die Argumente der ersten zu vertiefen und Angriffe zurückzuweisen, sondern nahm auch Veranlassung, direkt auf die Frauenfrage einzugehen. Neben der Lehrerinnenfrage drängte jetzt auch die Ärztinnenfrage, für die Mathilde Weber aus Tübingen schon tapfer eingetreten war, zur Entscheidung. Die School of Medicine und das Hospital for Women, die, beide unter weiblicher Leitung, schon zu reichem Segen geworden waren, hatten mir gezeigt, wie anderswo diese Frage schon gelöst war. Zu derselben Zeit aber, wo englische Ärzte längst mit den Frauen konsultierten, legte Professor Waldeyer auf einer Naturforscherversammlung in Köln Protest gegen die Freigabe des medizinischen Studiums an die Frauen ein. Die Universitäten aller Kulturländer hatten sich den Frauen geöffnet, nur die deutschen hielten hartnäckig ihre Tore gesperrt. Es schien an der Zeit, von dem vergeblichen Petitionieren zum Handeln überzugehen.

Aber wie hatten sich inzwischen die Dinge verändert! Mitten in meinen englischen Aufenthalt fiel die Nachricht von Kaiser Friedrichs Tod. Das schwere Leid der Heimat konnte ich nur in der Fremde miterleben.

Bei meiner Rückkehr nach Berlin fand ich schon eine Depesche vor, die mich nach Potsdam berief. Es war ein ergreifender Augenblick, als ich der Kaiserin wieder gegenüberstand, die mich damals so hoffnungsvoll entlassen hatte. Unter stürzenden Tränen streckte sie mir beide Hände entgegen mit den Worten: »So müssen wir uns wiedersehen!« Mit der Teilnahme, die sie immer, auch unter den schwersten persönlichen Erlebnissen, der geistigen Welt entgegenbrachte, ließ sie sich dann erzählen, nahm sie Eindrücke und Pläne entgegen, aber wieder und wieder klang der hoffnungslose Ton durch: »Ich habe keinen Einfluß mehr.« Und ich wußte, daß es so war. Was aus ihren Worten nur andeutungsweise sprach, war uns schon aus unzweideutigen Tatsachen klar geworden: hier war das neue Regiment, dem ganz andere Dinge im Vordergrund standen, als die Pflege seiner Kulturgüter, dem vor allem nichts ferner lag als das Verständnis für geistig gerichtete Frauenbestrebungen. »Kirche, Küche, Kinderstube« schienen in der Tat dem neuen Kaiser das Reich der Frau umgrenzen zu sollen.

Um so schmerzlicher wurde mir bewußt, was wir verloren hatten. Zu einer Zeit, wo trotz des jungen Parlamentarismus die leitende Kraft nach jahrhundertelanger Gewöhnung immer noch oben gesucht wurde, schien gerade dieses Herrscherpaar erlesen, in liberalem Regiment die Geister an Freiheit und Selbstregierung zu gewöhnen. »Die Kultur ist eine Blüte, die nur in der Freiheit gedeiht« – dieses Wort, das die Kaiserin im Verlauf unserer Unterhaltung aussprach, ist mir oft wieder in den Sinn gekommen; es kennzeichnete ihre politische Auffassung und ihr feines psychologisches Verständnis.

Die nächsten Jahre habe ich sie viel sehen dürfen, am häufigsten im Kreise einer Anzahl ihr nahestehender Frauen, die sie regelmäßig bei sich sah. Es ist mir dabei immer klarer geworden, daß die wirkliche Geschichte dieser bedeutenden, weit über dem Alltag stehenden Frau nie geschrieben, die Summe ihres geistigen Seins nie gezogen werden wird. Bei der Vielseitigkeit und Beweglichkeit ihres Geistes, der Mannigfaltigkeit ihrer inneren und äußeren Beziehungen zu allem, was Bedeutung in der geistigen Welt gewann, wäre es vielleicht überhaupt nur durch die Zusammenarbeit mehrerer möglich gewesen. Und die dazu den wesentlichsten Teil beitragen konnten, die in die überreiche Fülle und die unermeßliche Tragik dieses großen Lebens tiefer hineinsehen durften als manche, die ihr Tagesleben teilten, sind fast alle tot. Vielleicht könnte aus dem Nachlaß von Henriette Schrader, die ihr am nächsten stand, noch einiges zu erwarten sein, das die Geschichtslegende zerstören hilft, die in der schmachvollen Hetze der 99 Tage entstand und die sie zur herzlosen politischen Intrigantin stempeln möchte. Einer der erschütternden Fälle historischen Justizmordes, bei denen das Wiederaufnahmeverfahren nur noch der Toten zugute kommen kann.

Ich will hier unter Benutzung früherer Aufzeichnungen ein paar Züge zu ihrem Bilde geben, wie es sich mir in der Folgezeit zusammenfügte.

Was einem bei jedem eingehenden Gespräch auffallen mußte, war die große geistige Unabhängigkeit und Vorurteilslosigkeit ihres Urteils bei einer in ihrer Stellung überraschenden Fülle von Kenntnissen. Der Grund dazu war früh gelegt. Gern erzählte sie, und ihre Augen strahlten dabei, wie ihr Vater bis ins einzelnste ihre geistige Entwicklung überwacht hatte, wie er sie Geschichtsübersichten anfertigen und die Disposition von Parlamentsreden ausziehen ließ, um sie so an Exaktheit der Auffassung und Wiedergabe zu gewöhnen. »Das hat mir unendlich viel für meine Lektüre genützt,« meinte sie, »ich bin in die Gewohnheit hineingekommen, mir Rechenschaft von dem Aufbau einer Rede, eines Buches zu geben und Gründe und Gegengründe gegeneinander abzuwägen.« In der Tal war ihre Fähigkeit in dieser Ansicht erstaunlich. War man schon überrascht durch ihre Kenntnisse auf Gebieten, auf denen man selbst eingehend gearbeitet hatte, durch das gespannte Interesse, mit dem sie alle bedeutenden Neuerscheinungen verfolgte, so noch mehr durch die Schärfe der Auffassung, die produktive Kritik, die Sicherheit, mit der sie über das Gelesene verfügte und es ihrem geistigen Besitzstand eingliederte.

Erstaunlich war auch die Klarheit und Sicherheit ihres politischen Urteils. Das hatte sie wohl vor allem in der Ära des alten Kaisers und Bismarcks mißliebig gemacht. Eine denkende Frau, mit politischen Interessen, die Nächste dem Thron, am preußischen Hof! Sie hielt im vertrauten Kreise mit ihrem Urteil auch keineswegs zurück. Wenn man sonst die Unterhaltungen mit Fürstinnen ohne Furcht vor Indiskretionen jedem Reporter in die Feder diktieren kann – bei ihr war das nicht möglich. Staatsgeheimnisse waren dabei nicht im Spiel, aber die ruhige, rein menschliche Offenheit, mit der sie in solchen Stunden rückhaltlos ihre Gedanken zu allem, was die Zeit bewegte, aussprach, mußte bei einem Menschen von so seltener Urteilsfähigkeit, so scharf eingestelltem kritischen Blick Aussprüche von so individueller, von der Tagesmeinung weit abweichender Prägung schaffen, daß eben dadurch schon die Vertrauensstellung gegeben war, die nach außen hin Grenzen zog. Ihr Vertrauen ist ein paarmal schmählich getäuscht worden; der kleine Kreis von Frauen, den sie um sich versammelte – es gehörten ihm neben Henriette Schrader u. a. Hedwig Heyl, Anna von Helmholtz, A. von Cotta, Ulrike Henschke, Anna Schepeler-Lette, Luise Jessen an –, wußte die fast freundschaftliche Offenheit zu ehren, mit der sie sich in solchen Augenblicken gab. Und sie betonte gern auch nach außen hin den Zusammenhang mit ihren bürgerlichen Freunden. Bei der in ihrem Palais stattfindenden Ziviltrauung zweier ihrer Töchter mußten wir anwesend sein: bei Gelegenheit der Eröffnung meiner »Realkurse für Frauen« sprach sie ausdrücklich den Wunsch aus, ihr beizuwohnen; den Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein begrüßte sie bei seiner Begründung mit einem Telegramm, in dem sie sich öffentlich zu seinen Zielen bekannte. So gab sie Treue um Treue. Und eben diese rein menschlichen Züge haben uns so fest an sie gekettet.

In bezug auf die sozialen Aufgaben der Frau hatte die Kaiserin, ohne sich den zu ihrer Zeit üblichen Methoden der »Wohltätigkeit« entziehen zu können, Gedanken, die sie sicher bahnbrechend an die Spitze derer gestellt haben würden, die den Fortschritt von der Wohltätigkeit zur Wohlfahrtspflege, von der Palliativbehandlung zur gründlichen Änderung von unten auf bahnen wollten. Auch dazu hat ihr das Schicksal die Zeit nicht gegönnt.

Ihre Stellung zur Frauenbewegung hat sich mir so dargestellt:

Eine vornehme geistige Kultur, praktisches soziales Verständnis und die hausfrauliche Dispositionsfähigkeit und Tüchtigkeit, die vor dem Beherrschtwerden durch hausfrauliche Sorgen bewahrt, das war ihr die vor allem notwendige geistige Grundlage, durch die ihr die Gesundheit der wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklung der Frauenbewegung am besten gesichert erschien. Von diesen Prämissen ausgehend, hat sie die Konsequenzen der Frauenbewegung: den Einfluß der Frauen auch im öffentlichen Leben zur Geltung zu bringen, zu Ende gedacht. Denn daß auch bei uns dort Frauensorge und Fraueneinfluß not tue, mußte ihr praktischer Blick schnell genug erkennen.

Aber ihre historische Bildung war zu tiefgründig, um sie nicht die Gefahr des Dilettantismus, der notwendige Stufen überspringen will, deutlich erkennen zu lassen. Und obwohl sie die Notwendigkeit einer vernünftigen Propaganda nicht verkannte – sie hat selbst einem Frauentag des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins beigewohnt –, so erschien ihr doch jede auf Augenblickserfolge gerichtete Reklame, jedes Vorwegnehmen letzter Ziele um der demonstrativen Wirkung auf unreife Massen willen, als eine unwürdige Scharlatanerie. Solche Richtung lehnte sie durchaus ab.

So war ihr Eintreten für die Frauenbewegung voll sicheren, vornehmen Vertrauens auf die unfehlbar wirkende Macht der kulturellen Kräfte der Frau, die sie helfen wollte zu befreien.

Als Kaiser Friedrichs Gemahlin – wußten die Zeitungen zu sagen – wird sie in die Weltgeschichte eingehen. Der Weltgeschichte, die aus Fürstengalerien mit Schlachtenbildern im Hintergrund besteht, wird sie nichts bedeuten. In die Kulturgeschichte aber wird sie eingehen als selbständige Persönlichkeit, als die erste Fürstin, die ihren vollen Einfluß für die Frauenbewegung einsetzte zu einer Zeit, in der die Acht weiter Kreise noch schwer auf ihr lastete.


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