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An der Arbeit

Im Herbst 1876 trat ich in die Crainschen Anstalten in der damals noch zu den Außenwerken Berlins gehörenden Landgrafenstraße ein, um dort zunächst in einem im Entstehen begriffenen Lehrerinnenkursus ein paar Stunden zu übernehmen; nach kurzer Zeit war ich als Lehrerin an der höheren Mädchenschule und Leiterin der Seminarklasse angestellt. Damit war für die nächsten anderthalb Jahrzehnte mein Haupttätigkeitsfeld abgesteckt.

Lucie Crain war ein Original, äußerlich und innerlich. Klein, rund, sehr beweglich, war sie von einer nie abreißenden Betriebsamkeit. Dabei war es ihr fast unmöglich, allein zu sein; sie mußte die Pläne, die sie unaufhörlich beschäftigten, anderen mitteilen, sich an ihnen, meist ruhelos auf und ab gehend, klar sprechen. Und da es sich eigentlich immer um ihre Anstalten handelte, hielt man auch still. Nur wenn sie einen manchmal aus der Klasse holen wollte – »Sie geben dann nachher die Quintessenz« –, weigerte man sich, und sie achtete auch im Grunde die Abneigung gegen Quintessenzen. Mittellos, war es ihr gelungen, eine Reihe von Anstalten hochzubringen: »Man muß immer mit vier Strang ziehen«, pflegte sie in ihrem unverfälschten Mecklenburger Dialekt zu sagen – von denen eine die andere halten mußte und schließlich, nach jahrelangen, oft drückenden finanziellen Schwierigkeiten auch hielt: Höhere Mädchenschule, Knabenvorschule, Selekta, Seminar, Pension. Diese Schwierigkeiten waren besonders in der Landgrafenstraße groß; ihr Optimismus aber war nicht totzukriegen und hat schließlich recht behalten. Sie brachte es mit entschiedenem finanziellen Genie fertig, zunächst ein großes eigenes Haus für ihre Anstalten in der Keithstraße zu errichten, auch als Baumeister mit großem Geschick und weitem Überblick operierend, so daß ihre Schule das stattlichste Heim von allen Berliner Privatschulen erhielt. Kaum hier fest im Sattel, kaufte sie sich in Westend an und schuf mit sicherem Blick für künftig sich ergebende günstige Chancen das schloßartige »Tanneck«, das das stark vergrößerte Pensionat aufnahm.

Bei diesem ausgedehnten äußeren Betrieb würde ihr für den inneren Schulbetrieb schon die Zeit gefehlt haben; es fehlten ihr aber auch sonst die Voraussetzungen dafür, und sie war klug genug, sich darüber keiner Täuschung hinzugeben. D. h. es fehlte ihr an Fachbildung und Methode; sie sprach nicht nur mit Leichtigkeit die modernen Fremdsprachen, wenn auch mit Mecklenburger Färbung, sondern hatte auch eine Menge Bildungsstoff regellos aus der Lektüre aufgesammelt. Sie las auch dauernd; bezeichnend für ihre durchaus optimistisch gerichtete Grundanschauung war aber, daß sie ein Buch sofort beiseite legte, wenn es nicht gut auszugehen drohte: »Das kann ich nicht aushalten.« So erteilte sie denn überhaupt keinen Unterricht, sondern war rein »Unternehmerin«. Sie war aber auch großzügig genug, solchen, denen sie eine besondere Eignung für die Schularbeit zutraute – sie griff darin selten fehl –, völlig freie Hand zu lassen. So hatte sie tüchtige Lehrkräfte, und ihre Schule verdiente den guten Ruf, in dem sie schließlich stand. Mit beiden Füßen fest auf der Erde stehend, hatte sie doch für ideale Ziele Verständnis. Selbst bemüht, mit den Behörden auf gutem Fuß zu bleiben, machte sie mir doch keinerlei Schwierigkeiten, als meine eigene Stellung zu ihnen anfing, recht bedenklich zu werden, ja sie hielt zu mir, obwohl ihr die etwaigen Folgen für ihre Schule nichts weniger als gleichgültig waren.

Was sie trotz ihrer mangelnden fachlichen Eignung ihre Stellung doch nach anderer Richtung hin voll ausfüllen ließ, war etwas ausgesprochen Mütterliches in ihrem Wesen, in Verbindung mit organisatorischen und hausfraulichen Talenten. Das zeigte sich besonders, wenn es Feste und Feiern für die Kinder zu veranstalten galt; sie wußte da mit viel Geschick die wirkungsvolle Repräsentation ihrer Anstalten mit wirklichem Behagen für ihre großen und kleinen Gäste zu verbinden. Auch hinderte ihr ausgesprochener Erwerbssinn sie keineswegs, das Geschick verwaister oder in Not befindlicher Kinder großmütig in die Hand zu nehmen; gar manche hat ihr ihr Fortkommen im Leben zu danken gehabt. Eigentlich soziales Gefühl leitete sie dabei kaum; sie verhehlte durchaus nicht, daß sie in solchen Fällen das Nützliche mit dem Guten zu verbinden suchte und die Beziehungen, die sich dadurch ergeben konnten, mit einsetzte. Das war einer der vielen Widersprüche in ihrer Natur. Jedenfalls war nichts Kleinliches an ihr; sie verstand alles Menschliche und ließ es gelten; das versöhnte immer wieder mit manchem Zug, den man nicht verstand und nicht mochte, der aber aus dem harten Kampf ums Dasein – besonders ihrer ersten Berliner Zeit – seine Erklärung fand. Gehörte sie doch – und deswegen habe ich sie hier in ein paar Strichen festzuhalten versucht – dem Typ »erwerbende Frau« an, der jener Zeit eigen war: mittellos, ohne eigentliche Fachbildung, bis in die vierziger Jahre hinein Haustochter, dann nach dem Tode der Ernährer auf sich selbst gestellt. Nächster Schritt: Großstadt; nächstliegender, weil im Grunde einziger »standesgemäßer« Beruf: Lehrerin. Ob es dann zur Privatschulvorsteherin und damit zur Selbständigkeit reichte, kam auf Umstände und persönliche Tüchtigkeit an. Wer es zu etwas bringen wollte, mußte sich durchzusetzen verstehen, mußte auch finanzielles Geschick besitzen. Denn die märchenhaften Reichtümer, die die Privatschulen bringen sollten, gehörten, wenigstens nach meinen Berliner Erfahrungen, eben ins Märchenreich. Gewiß, die Schulgelder waren höher als in den öffentlichen Anstalten und die Gehälter der Lehrerinnen niedriger, dafür waren aber auch die Klassen klein. Wenigstens hätte sich die Crainsche höhere Mädchenschule ohne die »vier Strang« niemals gedeckt, besonders nicht, seit die Baulichkeiten durchaus denen der öffentlichen Schulen ebenbürtig waren. Bezeichnend für jene Zeit waren immerhin die Lehrerinnengehälter. Die Crainsche Schule galt als anständig zahlend; als Grundsatz für die Elementarlehrerinnen galt dabei: »soviel Stunden wöchentlich, soviel Taler monatlich«. Dazu kam dann noch eine steigende Alterszulage, so daß das Gehalt der normalen Lehrerin – mir selbst und wohl noch einigen anderen ist von Anfang an eine Ausnahmestellung gegeben worden – sich schließlich auf etwa 1800 Mark stellte. Man darf aber diesen Zahlen gegenüber nicht vergessen, daß man damals in Berlin volle Pension mit eigenem Zimmer für 60 bis 70 Mark monatlich hatte, daß man, falls man eigene Wirtschaft vorzog, für 80 Pfennig ausreichend zu Mittag essen konnte, und daß ein Ei 5 bis 6 Pfennig kostete. Trotzdem reichten die Gehälter wenigstens zu Anfang nicht für den Lebensunterhalt. Prinzip der Privatschulen war eben, Töchter guter Familien anzustellen, denen das Gehalt nur einen Zuschuß, ein angenehmes Taschengeld zu bedeuten brauchte. Auf die Gehälter hat das natürlich gedrückt, zum Schaden derer, die davon leben mußten. Für die Kinder und die Berufsauffassung ist es von Vorteil gewesen. Denn gerade unter den jungen Töchtern gebildeter Familien war der heiße Wunsch lebendig, ihr Leben mit einem ernsten Inhalt zu füllen; sie brachten aus ihrer Häuslichkeit den Idealismus mit, der sie nicht als Mietlinge arbeiten ließ, nicht als ob sie nur ein Taschengeld dafür empfingen. Sie arbeiteten mit ganzer Berufstreue und verwuchsen völlig mit ihrer Klasse; manch eine hat den geliebten Beruf an den eigenen Kindern später noch eine Weile ausgeübt. So ist das volkswirtschaftlich natürlich nicht zu rechtfertigende System vielfach zum Segen für die Erziehung geworden; das empfanden wir lebhaft, als unsere ersten Seminaristinnen ausgebildet waren und mit besonderer Vorliebe bei der Anstalt als Lehrerinnen zu bleiben suchten.

Ich selbst habe es als günstige Schicksalsfügung betrachtet, daß ich die besten Jahre meines Lebens, ohne die Last eines eigenen Unternehmens tragen zu müssen, meine Ideen als Lehrerin ungehindert verwirklichen durfte, d. h. soweit es die behördlichen Vorschriften gestatteten, die allerdings den Spielraum beschränkten.

Zunächst hatte ich natürlich genug zu tun, mich in die verschiedenen Zweige meiner Tätigkeit einzuarbeiten. Da war in erster Linie der mir unterstellte, eigentlich erst zu schaffende Lehrerinnenkursus. Er war einjährig, zu einer Zeit, wo auch die Lehrerinnenseminare nur zweijährig waren; als diese später dreijährig wurden, fügten wir ein zweites Jahr an. Was ich aus den Lehrerinnenseminaren hervorgehen sah, flößte mir nicht genug Hochachtung ein, um meine Auffassung umzustoßen, daß es im Grunde ein Glück sei, der bedrückenden, kleinmachenden Seminarbildung zu entgehen, und daß man besser tue, sich die Prüfungserfordernisse auf anderem Wege anzueignen, um dann unbelastet und uneingeklemmt in seine Berufsarbeit einzutreten. Die ersten Lehrerinnentypen sind einmal so treffend gezeichnet worden, daß ich hier darauf verweisen kann Gertrud Bäumer: Die Frau in Volkswirtschaft und Staatsleben der Gegenwart, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1914. Seite 162 f..

»Am Anfang stehen drei Gestalten, alle mehr oder weniger vom Schicksal mitgenommen: erstens die Gouvernante, die ein armes Fräulein aus guter Familie war, und mit ihren paar Töchterschulkenntnissen den Weg der Entsagung durch fremde Häuser zog; zweitens eine Art Anstandsdame in höheren Mädchenbildungsanstalten, die mit Vorsicht zum Unterrichten herangelassen wurde, deren wesentliche Obliegenheit der Aufsichtsdienst war, und schließlich: eine derbe, harmlose Spieltante, Witwe oder ältere Jungfrau, die den kleinen Kindern den Anfang vom Lesen, Schreiben und Rechnen oft mit urwüchsigen Muttertalenten beibrachte, bis sie der sachgemäßeren und geregelteren Obhut der Schule übergeben wurden. Kandidatinnen für alle drei Posten stellte der gebildete Mittelstand, von den Lehrers- und Landpfarrers- bis zu den Töchtern des armen Adels in Scharen. Alle erfüllte das Gefühl, aus tiefstem Herzen dankbar sein zu müssen, daß ihnen das Schicksal und edle Menschen nach gescheiterten Lebenshoffnungen noch vergönnten, sich in bescheidener Weise nützlich zu machen. Alle waren sie mehr oder weniger durchdrungen von der Degradierung des Verdienens, und der äußersten Delikatesse und Schamhaftigkeit in Geldangelegenheiten beflissen.

Die ersten Lehrerinnenbildungsanstalten waren auf alle drei Typen eingestellt: auf die Gouvernanten, die pädagogischen Anstandsdamen und die Elementarlehrerin. Jedenfalls war man durchdrungen davon, daß die Frauen nie etwas anderes im Schulwesen sein sollten als »ein ergänzendes Glied«. Das Programm eines solchen ersten Lehrerinnenseminars, der Bildungsanstalt für evangelische Gouvernanten in Droyssig, erklärte etwaigen hochfliegenden Begierden seiner Zöglinge gegenüber ausdrücklich ›alle weitergehenden Hoffnungen für illusorisch‹.«

Die Zeit, wo jene ersten Typen die einzigen waren, war schon vorüber. Verschwunden waren sie noch nicht. Ich habe sogar noch die pädagogische Anstandsdame im Katharinenstift in Stuttgart ihres Amtes walten sehen; sie durfte dem Lehrer auch noch die Mühe des Heftekorrigierens abnehmen. Immerhin hatte gerade die Entwicklung der Privatschule, auf der zum großen Teil die höhere Mädchenbildung beruhte, die Notwendigkeit der Lehrerin erwiesen, wenn auch zum Teil nur, weil sich die Männer auf die unsichere Anstellung an der Privatschule ungern einließen und aus diesem Grunde den Platz räumten. Aber die Auffassung, daß die Frau in der Schule nur ein Lückenbüßer sei, daß sie – außer vielleicht bei den Kleinen, die ja allerlei mütterliche Dienste verlangten – durchaus entbehrlich sei, war noch die durchgehende. Es hat nicht lange gedauert, daß sich mir während und infolge meiner Tätigkeit an der Schule und der Lehrerinnenbildung die Überzeugung des: » Qu'est ce que le tiers Etat? Rien. Que doit-il être? Tout« in mein geliebtes Deutsch übertrug: Was bedeutet die Lehrerin an der Mädchenschule? Nichts. Was muß sie dort bedeuten? Alles.

Gefühl war das von Anfang an. Wenn ich mir eines gleich vorgenommen habe, so war es das: unsere zukünftigen Lehrerinnen sollten mit dem Bewußtsein erfüllt werden, daß sie etwas zu bedeuten haben würden für die Mädchenerziehung; sie sollten nicht mit dem durchbohrenden Gefühl ihres Nichts gegenüber den männlichen Kollegen erfüllt werden, wie das mindestens stillschweigende Voraussetzung in den Lehrerinnenseminaren war. Ich habe das weniger ausgesprochen als vorgelebt; die ganze Crainsche Schule, in der nur in den beiden ersten Klassen einige Stunden von Lehrern gegeben wurden, war eine lebendige Darlegung des Gedankens: Mädchen müssen in erster Linie durch Frauen erzogen werden.

Ich hatte im Seminar die meisten entscheidenden Fächer selbst in der Hand: Psychologie mit Pädagogik und Methodik, deutsche Literatur und einen Teil der Aufsätze, Geschichte, Geographie, Rechnen, französische Literatur. Bei der knappen Vorbereitungszeit hätte auf alle Fälle mit viel selbständiger Arbeit gerechnet werden müssen; im Grunde war das aber nicht Notbehelf, sondern Prinzip. Die Stunden sollten diese Selbsttätigkeit nur organisieren. Denn nur so war es möglich, die Schülerinnen vor dem Gefühl einer öden Paukerei zu bewahren, die eigentlich für das, was in der Prüfung verlangt wurde, Voraussetzung war. Wenn ich denke, was für Pensen zu erledigen waren, so kann ich sagen, daß ehrlich gearbeitet wurde. Auch in die Methoden fanden sich die meisten schnell hinein. Wenn ich zum Beispiel verlangte, daß jedes Land »auswendig« mit den Hauptgebirgszügen und Flüssen und den wichtigsten Städten an die Wandtafel gezeichnet werden mußte – jede Woche war ein solches Pensum zu erledigen –, so ließen die Neulinge wohl mutlos die Arme sinken, fanden dann aber bald, daß es sich ausführen ließ und daß es ein besseres Mittel zu schneller und dauernder Aneignung der geographischen Verhältnisse überhaupt nicht gäbe.

Ich muß bekennen, daß wir manchmal so etwas wie doppelte Buchführung getrieben haben. Da war auf einem Blatt das, was für das Examen gelernt werden mußte, auf dem anderen, was ich meinen Schülerinnen für sich selbst und fürs Leben zu geben wünschte. So war es zum Beispiel in Psychologie und Pädagogik; wir haben die Prüfungserfordernisse da manchmal mit sehr wenig, Respekt behandelt. Wenn einer der beiden Schulräte, denen unsere Schülerinnen als »Wilde« für die Prüfung zugewiesen werden konnten, noch fest auf dem Boden der alten Wolffschen »Seelenvermögen« stand, der andere ein ebenso bedingungsloser Herbartianer war, so blieb natürlich nichts übrig, als beides mit dem Hinweis »einzuüben«, daß beides nicht stimme, und hinzuzufügen: »Wenn Sie nun zu Schulrat A. kommen, so haben Sie Seelenvermögen; kommen Sie aber zu Schulrat B., so haben Sie keine. Nun verwechseln Sie es aber nicht.« (Ich würde die wirklichen Namen der beiden Herren hersetzen, wenn ich nicht fürchtete, sie inzwischen selbst verwechselt zu haben.) Die Ironie dieser Behandlung hat natürlich die Hochachtung vor der Lehrerinnenprüfung nicht erhöht, aber die fröhliche Stimmung, die eigentlich ausnahmslos bei unseren jungen Seminaristinnen herrschte, und das Selbstvertrauen gehoben, mit dem sie der Arbeit gegenüberstanden.

Religion gab ich nicht. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß in Verbindung mit dem Examen von Religion im eigentlichen Sinne des Wortes nicht die Rede sein konnte. Während in den oberen Klassen der Schule Bibellesen und Kirchengeschichte den Unterricht ausmachten und eine freiere Einstellung zu den religiösen Problemen ermöglichten, galt es hier, den jungen Mädchen ein erstarrtes System von »Heilswahrheiten« und eine Menge Wissensstoff aus dem Gebiet der Bibelkunde und des Katechismus beizubringen, was in der amtlich verlangten Form eigentlich nur durch Lehrkräfte geschehen konnte, die selbst ein Seminar durchgemacht hatten. So geschah es denn auch bei uns. Es war das einzige Fach, das die Schülerinnen tatsächlich unglücklich machte, weil die latente Unwahrhaftigkeit des ganzen Betriebes sie bedrückte. Wie oft habe ich ihnen auseinandergesetzt, daß sie ja gar nicht nach ihrem Glauben, ihren Überzeugungen gefragt würden, sondern daß man zu wissen verlange, ob sie in dem, was für die Lehrerseminarbildung von der Behörde festgelegt sei, ausreichende Kenntnisse hatten, daß sie ihren Lehrer nicht persönlich für den ihm vorgeschriebenen Unterricht verantwortlich machen könnten, und daß er es fraglos viel schlechter machen würde, wenn er es viel besser mache. Sie fühlten wohl, daß mir diese kasuistische Auseinandersetzung selbst wenig genügte; aber sie mußten sich ja schließlich damit abfinden; es ging eben nicht anders.

Es versteht sich von selbst, daß ich mich denen nicht versagt habe, die nicht durch den seminarmäßigen Religionsbetrieb, der nun einmal nicht zu ändern war, sondern durch ihre eigene innere Stellung zu religiösen Fragen sich bedrängt fühlten. Der Ernst und die tiefe Gewissenhaftigkeit solcher inneren Kämpfe hat mich oft ergriffen, um so mehr, als der Mangel an irgendwelchem philosophischen Rüstzeug schwer empfunden wurde und doch durch solche Unterhaltungen nur sehr ungenügend ausgeglichen werden konnte. Soviel ich vermochte, habe ich wenigstens geholfen, das Joch des Buchstabens zu erleichtern, indem ich sie etwa in die weite Perspektive hineinschauen ließ, die Lessing in der »Erziehung des Menschengeschlechts« eröffnet. Manchen half auch schon die Erhebung des Tatsächlichen in das Reich des Symbols, wie es etwa Friedrich von Sallets Laienevangelium versucht. Die Stunden selbst boten ja auch mancherlei Gelegenheit zur Besprechung solcher Fragen; Lessing, der Theologe, wurde weit über das Examenpensum hinaus, das ihn im Grunde gar nicht vorsah, besprochen, ebenso die große, erlösende Weltanschauung Goethes und Schillers. Jedenfalls habe ich nie das Ungenügende und Irreführende des üblichen, schulmäßigen Religionsunterrichts stärker empfunden als nach solchen Unterredungen oder Stunden. Der gedankenlose Mißbrauch, der mit dem Wort »Religion« getrieben wird und der ihre erlösende Kraft in eine schwere Fessel verwandelt, ist mir nie so klar geworden, nie so als Sünde gegen den heiligen Geist erschienen. »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten«, das Goethewort sollte kein Religionslehrer je außer acht lassen.

Alljährlich kam dann die Aufregung der nicht vor den eigenen Lehrern, sondern vor einer wildfremden Kommission abzulegenden Prüfung. Daß sie fast ausnahmslos gut bestanden wurde, gab den Späteren wohl ein Gefühl der Sicherheit; dennoch brachten die drangvollen Examenstage Erregung genug. Galt es doch im letzten Augenblick noch alles Mögliche wieder auf die Oberfläche zu bringen, was versunken und vergessen war, und mein guter Rat, die letzten beiden Tage vor der Prüfung nur spazieren zu gehen und an andere Sachen zu denken, ist sicher selten befolgt worden. Als erschwerender Umstand kam dann noch die Lehrprobe mit ihrer fürchterlichen Mechanik hinzu. Ob sie je zu vermeiden sein wird, weiß ich nicht; das aber weiß ich, daß die ausgearbeiteten Präparationen, die in dicken Bänden in den besten Schulverlagen erschienen und geachtete Namen auf ihren Titelblättern trugen, den Tod jedes fruchtbaren Unterrichts bedeuteten. Streng nach den Herbartschen Formalstufen aufgebaut, mußten sie schon in jedem einigermaßen geistig gerichteten Lehrer, ganz sicher aber in den Kindern das töten, was das Wesen des geistigen Austausches ist: das leise Suchen nach innerem Anschluß, die aus dem Augenblick, aus unerwarteten Antworten und Einwürfen erwachsende geistige Arbeit, nach der sich eigentlich der Wert jeder Unterrichtsstunde bemißt. Bei den Lehrproben, die wir mit den Schülerinnen der unteren Klassen in unserer eigenen Schule abhielten, habe ich – soweit die Examensvorbereitung nicht dazu zwang – diese Vorbereitung nach Formalstufen oder sonstigen Schablonen nie gelitten; die Seminaristinnen hatten sich mit dem Stoff vertraut zu machen und dann den Gang der Unterhaltung ohne Festlegung auf ein bis ins einzelne ausgearbeitetes Frage- und Antwortspiel möglichst zu ihrem Ziel zu lenken. Für die Examenslehrprobe aber gab es nur die eine hohle Gasse, schon weil eine ganz eingehende Disposition schriftlich eingereicht werden mußte. Das hatte mich schon bei meiner eigenen Examenslehrprobe – sie drehte sich um das Gedicht »Es zieht ein stiller Engel durch dieses Erdenland« – fast zur Verzweiflung gebracht, bis ich zu diesem, zu meiner Eigenart so wenig passenden Engel der Geduld, bei dem ich nach jeder Strophe eine neue, edle Eigenschaft »herausgearbeitet« haben sollte, durch ironische innere Einstellung das richtige Verhältnis gewonnen hatte. So haben wir es denn häufig auch bei der Dutzendfabrik von Lehrproben während der Examenstage gemacht. Am unbeholfensten waren aber dabei doch die wirklich Befähigten, während die innerlich Unselbständigeren meistens »gut abschnitten«.

Neben dem Seminar stand dann die Schule. Ich hatte das Ordinariat der ersten Klasse, in der ich vor allem die deutschen Stunden gab. Sie sind für mich selbst – und ich weiß das auch von vielen meiner Schülerinnen – Stunden reinsten Glücks gewesen. Ich hatte vor allem die Klassiker mit ihnen zu lesen, Nathan, Iphigenie, Tasso, die Schillerschen Dramen, die leichtere Schillersche und Goethesche Gedankenlyrik, wozu gelegentlich sowohl die Antigone wie neuere Dichter kamen. Wo sind wir da oftmals gelandet, wenn der Eifer in der Verteidigung der eigenen Ansicht oder die Sehnsucht nach Aufklärung irgendwelcher Zweifel und Skrupel den Gang der Unterhaltung abgelenkt hatte, und wie willig folgten die biegsamen jungen Geister dann doch wieder der unmerklich lenkenden Hand, der sie so rührend vertrauten. Nie ist mir die Verantwortung und zugleich der ganze innere Reichtum meines Berufes so nahegetreten wie in solchen Stunden.

Sie führten gleich in den ersten Jahren zu einer Neueinrichtung, die dauernd wurde. Ein Jahrgang besonders befähigter Schülerinnen mochte sich weder von der Schule trennen, noch durch die von ihnen ziemlich verächtlich angesehene »Selekta« gehen, in der die modemäßige Salonbildung – so lautete wenigstens ihr Urteil – ohne Lernzwang vorgesetzt wurde. So begründeten wir denn mit ihnen eine »Oberklasse« – sie waren unsäglich stolz auf den Namen –, die unter ernsthaften Arbeitsansprüchen eine Fortbildung in ausgewählten Schulfächern geben sollte. Ich selbst übernahm die deutschen Stunden und eine Art philosophischer Propädeutik, die eine Einführung in psychologische und ethische Fragen zu geben halte. Diese Stunden wurden sehr bald der Tummelplatz geistiger Turniere und ernsthafter Kämpfe. Besonders die ethischen Probleme lösten ein leidenschaftliches Ringen in dem kleinen Kreise aus. Wie schnell kam man dabei vom »System« auf das wirkliche Leben; wie oft merkte man es einer Fragestellerin an, daß es sich ihr nicht um ein Schulfach handelte, um eine theoretische Frage, in der man recht oder unrecht haben kann, ohne daß es ans Herz greift, sondern um Probleme, mit denen sie persönlich zu tun hatte, persönlich angstvoll und gewissenhaft rang. Und bei all den kritischen Neigungen, die von jenen Jahren untrennbar sind, trat doch immer wieder das Bedürfnis hervor, irgendwo das Absolute, das außer Frage stehende zu finden, irgendwo ganz verehren und vertrauen zu dürfen, die Welt der fünf Sinne sub specie aeterni zu sehen; das Bedürfnis, hinter der Problematik der Erscheinungsweit die immaterielle Wirklichkeit zu erfassen, die diesen jungen, hoffnungsfrohen Menschen schon durch die eigene Empfindung verbürgt erschien. Da kamen dann zu willkommener Ergänzung die deutschen Stunden heran, um sie auf der Grundlage, die schon die erste Klasse gelegt hatte, in die Weltanschauung unserer Klassiker tiefer einzuführen. Wir arbeiteten uns in die schwierigere Weltanschauungslyrik Goethes hinein, in die philosophischen Abhandlungen Schillers, in seine »Künstler«. Als ein Niederschlag jener Stunden sind mir die kleinen Vorträge über Schillers philosophische Gedichte geblieben, die ich im Winter 1885-86 auf Wunsch von Fräulein Crain vor einem der Schule nahestehenden Kreise hielt. Auf den »veralteten Standpunkt der Pietät vor unseren großen Dichtern«, zu dem ich mich im Vorwort bekenne, haben wir uns mit vollem Bewußtsein auch in unseren Stunden gestellt; ebenso auf den »Frauenstandpunkt«: »Uns steht nie eine Wahrheit für sich, nie abstrakt da. Sie ist uns nie nur Gegenstand theoretischer Erkenntnis, wir suchen sofort eine Anwendung, Beziehungen zum wirklichen Leben: sie wirkt etwas in uns, wenn wir sie einmal erfaßt haben, und wir versuchen, sie für andere wirksam zu machen.« Und weil wir beide, Leitende und Suchende, uns auf dieser Grundlage fanden, darum konnte der Austausch so fruchtbar werden. Für beide fruchtbar – denn auch mir haben diese Stunden intensivstes Lebensgefühl und innere Bereicherung gebracht. Denn »Glück« bedeutete mir mehr und mehr: Menschen bilden, ihnen helfen dürfen, aus sich das Höchste zu entwickeln, was ihre Natur nur irgend hergab. Darum gehören diese Stunden auch zu den schönsten Erinnerungen meiner »Wanderjahre«. Und in diesen Stunden habe ich auch in einem besonderen Sinne die Ehrfurcht vor dem Werdenden gelernt. Wie oft habe ich mich, wenn meine reifere Weisheit der »Entsagenden« sich wie kalter Reif auf den jungen Idealismus gelegt haben würde, des Lessingschen Wortes erinnert: »Hüte dich, du fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte deines Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, daß du es deinen schwächeren Mitschüler nicht merken lassest, was du ahnest oder schon zu sehen beginnst.« Gar manche von denen, die damals jung und lebensmutig in unserem Kreise saßen, hat das Leben mit eiserner Härte angefaßt; die gläubige Zuversicht auf seine Schönheit und innere Kraft, mit der sie es dereinst antraten, hat ihnen geholfen, es zu ertragen und es zu überwinden.


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