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I. P. Wolf, der Maire der kleinen niederrheinischen Stadt im französischen Roerdepartement, die mit ihrer nächsten Umgebung bis vor gut zehn Jahren noch eine jülichsche Unterherrschaft gebildet hatte, sah im Jahre 1806 sowohl das Erbe Friedrichs des Großen, wie das der alten Kaiser zusammenbrechen. Er bedauerte das, denn sein Vater war gut fritzisch gesinnt gewesen und sein eigenes Weltbürgertum war von durchaus deutscher Färbung, aber es erschütterte ihn nicht. Und wie gut er als Maire auch zwischen den Wünschen der Regierung: das Französische zu fördern und das Deutsche zu unterdrücken, seinen Unterschied zu machen wußte – er fühlte sich doch als Sohn einer neuen Zeit, die ihr Heil vom Erben der französischen Revolution, dem großen Napoleon erwartete. Dazu kam, daß die noch im gleichen Jahr verfügte Absperrung des europäischen Festlandes gegen englische Waren gerade dem Roerdepartement bedeutende Vorteile brachte. Zahlreich siedelten sich hier innerhalb der französischen Zollgrenzen Fabrikanten und Kaufleute von jenseits des Rheins, besonders aus dem Bergischen an, nachdem es ihnen nicht gelungen war, den Kaiser zur Annexion ihrer Heimat zu bewegen, und mancher von ihnen wählte das Städtchen, dem I. P. Wolf als Maire Vorstand. Der gedachte solchen Zuwachs zwei Lieblingswünschen zugute kommen zu lassen, die sich auf die Verbesserung des Schulwesens und auf die Hebung der Geselligkeit richteten.
Bei jedem Besuch im nahen Krefeld – und solcher Besuche machte der Maire viele, um sich in den Dingen der dortigen Fabrikanten auf dem Laufenden zu halten – mahnte die Inschrift, die nun schon an die fünfzig Jahre am dortigen Schulhaus stehen mochte und deren Richtigkeit ihm jährlich mehr einleuchtete:
Bebauet wie ihr wollt ein wildes Krähenfeld,
führt schöne Häuser auf, erweitert Mauern, Toren,
ja legt Fabriken an und häufet Geld auf Geld –
ist keine Schule da, so bleibt es wie zuvoren.
Dann mußte er immer wieder an die ehemalige Pastoratsscheune daheim denken und an den nicht weniger unzulänglichen alten Paulussen, der, für seine schulmeisterlichen Bemühungen von den Eltern seiner Opfer teils durch mittäglichen »Wandeltisch«, teils durch »Schlafung, Waschen und Schuhschmieren« entlohnt, im Winter in ihr sein Wesen hatte. Denn in der schönen Jahreszeit zog er vor, als wandernder Scherenschleifer ein reichlicheres Brot sich zu erwerben. – Durch solchen Schulbetrieb nun mochte freilich die Zahl der Analphabeten nicht wesentlich kleiner werden. Aber der Präfekt in Aachen war nicht imstande oder nicht gewillt, die schulreformatorischen Absichten des Maire zu fördern. Und wenn es diesem schließlich auch gelang, den irrlichtelierenden Scherenschleifer durch einen seßhaften Schneider philosophischer Neigungen zu ersetzen, so waren doch dessen pädagogische Gaben leider gleichfalls allzu bescheiden. Pastor Pieper, der zuweilen einmal einer Schulstunde beiwohnte, wußte davon ergötzlich genug zu erzählen. – Zwar die gesunde Philosophie des bakelschwingenden Schneiders mußte er anerkennen, der etwa seinen Schülern versicherte, das Schwein trage seinen Namen mit Recht, weil es in der Tat ein äußerst schmutziges Tier sei, aber er meinte doch, daß jener noch nicht hinter das Geheimnis der neuen Rechenmethode gekommen sei, sintemal er im Unterricht die Frage aufgeworfen habe, »wenn drei Gänse siebenundzwanzig Silbergroschen kosten, was kostet dann ein Kalb?«
Mehr Erfolg hatten die Bemühungen des Maire um die Hebung der Geselligkeit. Es gelang ihm, die Honoratioren zu einem Verein zusammenzuschließen, der den Zweck haben sollte, »unter gleichzeitiger Pflege der geistigen Interessen die Vergnügungen der Geselligkeit in angenehmer Unterhaltung gemeinschaftlich zu genießen«, und den man kurzweg »Die Gesellschaft« nennen wollte. Der Maire selber übernahm gerne den Vorsitz. Sein Schwiegervater Pastor Pieper, der alte Doktor Kükes mit dem Rohrstock (an dessen durchlöchertem goldnen Knopf zu riechen, gut gegen Miasmen war, sintemal er allerlei heilsame Kräuter barg) und der fast neunzigjährige kleine Herr Henricus ten Bompel wurden zu Ehrenmitgliedern ernannt. Der Wirt vom »Jülicher Hof« am Markt baute einen Gesellschaftsraum an, zu dem nur Mitglieder Zutritt hatten. Ein Billard ward aufgestellt, man subskribierte auf Brockhausens Konversationslexikon, das soeben in Bündchen bescheidenen Umfangs zu erscheinen begann und rasch das am meisten gelesene Buch in Deutschland ward, und hielt sich die Cottasche Allgemeine Zeitung, den Freimütigen und das Journal de l'Empire. Und jeden Abend von sechs Uhr an genoß die Gesellschaft, oder doch ein Teil von ihr, in angenehmer Unterhaltung der Pflege geistiger Interessen und der Vergnügen der Geselligkeit, wobei die Betrachtung der städtischen und häuslichen Angelegenheiten hinter der Würdigung der politischen und kriegerischen Ereignisse der Zeit natürlich durchaus nicht zurückblieb. Aber beides stand im Zeichen der Freude über den Fortschritt. Denn daß noch nicht zehn Jahre vergangen waren, seit des Heiligen Römischen Reiches Kammergericht zu Wetzlar zwei mecklenburgische Städte bestraft hatte, weil sie in einer Klage gegen die überhebliche Ritterschaft das Wort »Menschenrechte« gebraucht hatten, das wollte allen fast unglaublich erscheinen. Und die von Görres verfaßte Todesanzeige, die Pastor Pieper eines Abends vorlas, löste keine Trauer in den Herzen der Hörer aus: »Am 30. Dezember 1797, am Tage der Übergabe von Mainz, nachmittags um drei Uhr starb zu Regensburg im blühenden Alter von neunhundertfünfundfünfzig Jahren, fünf Monaten, achtundzwanzig Tagen sanft und selig an einer gänzlichen Entkräftung und hinzugekommenem Schlagfluß, bei völligem Bewußtsein und mit allen heiligen Sakramenten versehen, das Heilige Römische Reich, schwerfälligen Andenkens.«
Pastor Pieper, der vor kurzem sein fünfundzwanzigjähriges Amtsjubiläum gefeiert, hatte gezögert, die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft anzunehmen. Wenn er sie annahm stand für ihn fest, daß er auch Gebrauch von ihr machen und wenigstens zweimal in der Woche sein Schöppchen Mosel dort trinken würde. Daß ihm dies von den pietistisch gesinnten seiner Gemeindeglieder alle oder fast alle verdenken würden, wußte er. Er wußte und bedachte auch, daß Christus gesagt hatte: »Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist.« Würde er einen ärgern, oder gar alle? Nein! Sie würden sich an ihm ärgern, und das mochten sie mit sich selber abmachen. Er wußte, daß er nicht in die Gesellschaft gehen würde, um Wein zu trinken. Und gehörten die Herren dort nicht ebensogut zu seiner Gemeinde? Würden sie sich nicht mit mehr Recht an ihm ärgern, wenn er es ablehnte, in ihrem Kreise zu verkehren? Mußte er nicht vielmehr die Gelegenheit ergreifen, dem einen oder andern, der vielleicht nur selten in die Kirche ging, näherzukommen, und konnte er nicht möglicherweise das geistige Niveau der Geselligkeit glücklich beeinflussen? So entschloß er sich denn, die Ehrenmitgliedschaft anzunehmen, und der Erfolg gab ihm recht. Sein Rationalismus, der den pietistischen kleinen Leuten so wenig zu geben hatte, hielt von den Herren der Gesellschaft doch manchen wenigstens an der Peripherie des Christentums fest, und da Pastor Pieper nicht nur Theologe, sondern zugleich auch ein in den Dingen der Welt wohlunterrichteter und interessierter Herr war, freute man sich, so oft er im Jülicher Hof erschien. Und er seinerseits, indem er sich zuerst an dem Gespräch etwa über den neuen Webstuhl, den der Franzose Jacquard erfunden hatte, mit Interesse und Verständnis beteiligte, wußte oft die Unterhaltung ganz zwanglos auch auf geistige, ja manchmal sogar auf geistliche Fragen hinüberzuleiten. Auch brachte er zuweilen ein Buch mit, etwa Herders »Cid« oder Arndts »Geist der Zeit« und las Stellen daraus vor, wodurch sich dann der eine oder andere angeregt fühlte, daheim weiterzulesen. Dabei ward Pastor Pieper, auch innerlich nicht, weder ungeduldig noch überheblich, wenn er merkte, daß es den meisten doch wichtiger blieb, welche Erfahrungen die Engländer mit der Dampfmaschine machten, wovon nun schon mehrere Tausend drüben in Betrieb sein sollten, oder wie sich in London diese merkwürdigen Straßenlaternen bewährten, in denen Luft brannte, was mancher geradezu für Teufelsspuk zu halten geneigt war. Wie denn auch zwanzig Jahre später noch, als das Heilige Köln sich anschickte, dem Beispiel Londons zu folgen, die Geistlichkeit aus theologischen Erwägungen Widerspruch erhob: Gott sei es, der die Nacht dunkel gemacht habe, darum dürfe der Mensch sie nicht erhellen. – Und der gute Ton schrieb denen, die sich's leisten konnten, noch lange vor, auch durch die gaserhellten Straßen nach guter alter Sitte das eigene Laternchen sich vorantragen zu lassen.
Ein Gebiet nun gab es, auf dem aller Interesse sich vereinte, das waren die großen kriegerischen Ereignisse der Zeit, die in beruhigender Ferne sich abspielten. Hier nun schied ein anderes die Geister, das war die Stellung für oder gegen den Franzosenkaiser, die der einzelne einnahm. Während der Pastor, besonders seitdem er Fichtes Reden gelesen, die Befreiung der Deutschen zuversichtlich voraussagte, hielt sein Schwiegersohn, der Maire, selbst noch nach der Katastrophe in Rußland daran fest, daß der endliche Sieg doch Napoleon gehören werde. Nicht daß I. P. Wolf dies gewünscht hätte, er rechnete damit als mit etwas Selbstverständlichem und er war keineswegs der einzige, der unbeirrbar an den Dämon des Kaisers glaubte. Ja, noch nach der Völkerschlacht bei Leipzig nahm I. P. Wolf, wie die meisten Herren der Gesellschaft, durchaus für bare Münze, was das in Aachen erscheinende staatliche » Journal de la Roer« immer wieder von militärischen Erfolgen des Kaisers zu melden wußte, den übrigens alle mehr als Friedensfürsten, denn als Kriegshelden zu verehren gewohnt waren. Der Pastor aber hielt sich den Rheinischen Merkur, den Joseph Görres, einer der Hüter und Schürer des Feuers, das die Fremdherrschaft verzehrte, in Coblenz herausgab, und immer wieder las er in der Gesellschaft daraus vor und freute sich, so oft er merkte, daß ein Funke zündete. Und allenthalben in Deutschland stärkten die Besten sich an diesem Merkur, der den Staatsmännern Berater und der öffentlichen Meinung Gewissen sein wollte. Bis er wenige Jahre nach Beseitigung der Fremdherrschaft verboten ward, weil er ein »teutsches Blatt« bleiben und nicht zu einer »K. preuß. privil. Zeitung« degradiert werden wollte.
Indessen wurden in den pietistischen Versammlungen der Kleinbürger die Zeitereignisse nach der Offenbarung Johannis und Napoleon als der Antichrist gedeutet. Und der Komet von 1811 gab auch den Kindern der Welt ernste Gedanken ins Herz. – Aber die Winzer am Rhein ließen alle diese Dinge auf sich beruhen und klimperten vergnüglich mit ihren rasch sich mehrenden Silbertalern, denn ein Wein wie der Gilfer war lange nicht dagewesen.