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Wie die Wasserdiligencen und die noch seltenen Dampfboote, die rheinauf- und abwärts herangeschwommen kamen, so waren auch die durch Getreide- und endlose Kappesfelder, Wälder und fette Viehweiden führenden und immer wieder sich verzweigenden Landstraßen um Düsseldorf am Sonnabend, dem 13. Mai 1826 noch bevölkerter als sonst. Eilwagen und Extraposten, altmodisch behäbige Kutschwagen und blinkende Landauer rollten, mit lauter Fröhlichkeit befrachtet, der heitern Kunst- und Gartenstadt entgegen, die, einst Residenz der Herzöge von Berg, jetzt die Hauptstadt eines preußischen Regierungsbezirkes und seit kurzem auch der Sitz dieses gesegneten rheinischen Provinziallandtags war und nahezu zwanzigtausend Einwohner zählte. Ach ja, dieser Landtag! Der aufrechte rheinische Mann ärgerte sich, wenn er nur daran dachte. Von jedem Einfluß auf die Geschicke des Staates sah er sich nach wie vor ausgeschlossen und auf die der Provinz hatte er im Grunde auch keinen. Denn die »Ritterschaft«, die Adligen, die einschließlich ihrer Frauen und Kinder noch nicht sechstausend Seelen zählten und insgesamt keine fünfundsiebzigtausend Taler Steuern zahlten, waren durch fünfundzwanzig Deputierte in diesem Landtag vertreten, während Köln und Aachen, die doch zusammen an die neunzigtausend Einwohner hatten und über dreimalhunderttausend Taler Steuern aufbrachten, zusammen nur drei Deputierte entsenden durften. Und dann hatte dieser Landtag ja auch nur zu beraten, zu entscheiden war ausschließliches Vorrecht der Krone Preußen. Hatte da nicht zur Franzosenzeit, trotz allem »Despotismus«, ein freierer und frischerer Wind durch das bürgerliche Leben geweht? Und viel billiger war die französische Verwaltung auch gewesen mit ihren wenigen Beamten, die unvergleichlich viel artiger auftraten als diese kalten und hochnäsigen preußischen Bureaukraten. Aber daran wollte man heute nicht denken! Denn in Düsseldorf sollte ja morgen und übermorgen das neunte der rheinischen Musikfeste sich abspielen, zu denen am Pfingstsamstag im Rheinland und noch ein wenig über dessen Grenzen hinaus für viele frohe Menschen schlechthin jeder Weg führte.
Auch Wolfs Anton, der vor einigen Jahren als Ehemann wie als Kutscher sein silbernes Dienstjubiläum gefeiert und aus solchem Anlaß eine silberne Taschenuhr mit Kette und eine neue Livree: grau mit silbernen Knöpfen, erhalten, hatte anspannen müssen und nun seine Freude an der guten, von Napoleon angelegten Straße. Im Wagen saßen, festlich gewandet, der Bürgermeister, den seine Freunde unter sich immer noch den Maire nannten, und Frau Maria Magdalena, und ihnen gegenüber ihr Ältester, Friedrich Wilhelm, und seine kindlich junge Frau, die zarte Gabriele. Und alle vier genossen des schönen Maitages und des jungen Eheglückes. Mit der niederrheinischen Fähigkeit, dem Vergnügen ebenso restlos sich hinzugeben wie der Arbeit, unterhielten sie sich lebhaft sowohl von den Freuden, die in Düsseldorf ihrer warteten, wie von den bisherigen Musikfesten, deren einige sie mitgemacht, während von den andern Verwandte und Freunde mündlich und brieflich ihnen eingehend berichtet hatten. Frau Maria Magdalena, die alle Sorgen und trüben Gedanken zu Hause gelassen zu haben schien, versicherte mit Entschiedenheit, für sie sei Händels erhabener »Messias«, Anno neunzehn zu Elberfeld, doch bei weitem das Schönste gewesen, während ihr Gatte dem Elberfelder Musikfest von Anno dreiundzwanzig den ersten Preis zusprechen wollte, weniger wegen des großen Händelschen Oratoriums »Jephta«, obschon das ja auch wunderhübsch und ergreifend gewesen, sondern wegen der göttlichen Ouvertüre zum »Freischütz« am zweiten Tag, und ganz besonders wegen der pläsierlichen Exkursion, die man am dritten, in vielen Wagen und von Reitern begleitet, durchs Wuppertal unternommen. Er müsse immer noch lachen, wenn er daran denke, wie komisch der dicke Kommerzienrat Weyerstraß zu Pferde ausgesehen habe.
Die zarte Gabriele hatte nur das erste Musikfest vor acht Jahren und dann voriges Jahr das achte, beide zu Düsseldorf mitgemacht. Auf jenem ersten sei sie doch wohl noch reichlich jung gewesen, meinte Frau Maria Magdalena etwas strenge, aber Gabriele beteuerte, sowohl von den »Jahreszeiten« wie von der »Schöpfung« eine unendliche Freude und starke Eindrücke gehabt zu haben. Und unter ihrem Strohhut bis an die Wurzeln des Blondhaars errötend gestand sie, sie habe damals eine richtige Liebe zu Haydn gefaßt und sei sehr schmerzlich enttäuscht gewesen, als man ihr gesagt, daß der ja schon lange tot sei. – Ja, belehrte die Schwiegermutter sie tiefsinnig, das sei nun immer so: wenn man etwas ganz besonders schönes lese, höre oder sehe, so sei dessen Urheber sicher schon tot. Es sei, wie wenn das Kunstwerk mehr Zeit zum Reifen brauche als der Künstler, es könne aber auch sein, daß dieser seinen Zeitgenossen allzu weit voraus sei und somit die Menschheit erst nach seinem Hintritt für sein Werk reif werde. »Ach ja, was ist das Leben?« seufzte sie leise und klappte ihren Sonnenschirm zu, denn sie fuhren jetzt im Schatten einer großen und schöngeformten weißen Wolke. Dabei streifte ihr Blick unwillkürlich die rundliche Fülle des Eheherrn und sie raunte ihm zu: »Wolf, du wirst zu stark!«
Was das vorjährige Musikfest betraf, so waren alle darin einig, daß es nicht gehalten habe, was man sich davon versprochen. Zwar mußte man anerkennen, daß Ries sich große Mühe gegeben hatte, besonders um die neunte Symphonie, zu der Beethoven aus Wien ihm die Noten abschriftlich zugesandt, nachdem der Verleger Schott in Mainz das Werk nicht früh genug hatte erscheinen lassen können. Aber so großartig, wie man erwartet, sei diese neunte Symphonie nun doch nicht gewesen; Frau Maria Magdalena behauptete sogar, sie habe etwas beunruhigend Heidnisches an sich gehabt. Das wollte ihr Gatte freilich nicht Wort haben: zum mindesten sei doch das Lied an die Freude nicht nur ganz wunderschön, sondern auch entschieden christlich. Und er sang, daß die beiden Braunen einen Ruck taten
»Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder, überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen ...«
Dieser Ries sei übrigens ein rechter Glückspilz, wie ihm denn auch erst kürzlich ein hübsches Landhaus in Godesberg als unverhoffte Erbschaft zugefallen. Der junge Herr von Woringen aus Düsseldorf, der ja alle diese Musikanten persönlich gut kenne, habe neulich in der »Gesellschaft« manches Interessante aus Riesens Leben erzählt, dessen Vaterstadt, wie die Beethovens, Bonn sei: als zehnjähriger Junge sei er zu einem Organisten nach Arnsberg in die Lehre gekommen, der ihn im Komponieren und im Generalbaß habe unterrichten sollen, statt dessen aber bald nur noch sein Schüler im Violinspiel gewesen sei. Später habe Ries über München nach Wien zu Beethoven sich durchgehungert. Der habe ihn als Kopisten beschäftigt, aber auch innerlich an seinen Arbeiten teilnehmen lassen und endlich ihn gar zum Klaviervirtuosen ausgebildet, als welcher Ries dann auf großen Reisen rasch sein Glück gemacht, dem edlen Lehrer überall sich dankbar erweisend. Wie denn auch für die vorjährige Aufführung der neunten Symphonie Ries für Beethoven ein Douceur von vierzig Karolinen vom Komitee erwirkt habe, wogegen dieser ja allerdings die Kopisten selber habe entlohnen müssen.
Auf einer seiner Konzertreifen sei dem Virtuosen übrigens einmal ganz übel mitgespielt worden. Das sei zur Franzosenzeit und Ries von Dänemark nach Rußland unterwegs gewesen, als ein englisches Schiff das seine angehalten und mitgenommen hätte, nachdem die Passagiere auf eine wüste kleine Insel verbracht worden wären. Und erst nach acht Tagen hätte man die schon ganz Verzweifelten aus diesem Salas y Gomez der Ostsee erlöst und nach St. Petersburg weiterbefördert, also daß jener doch noch mit einem blauen Auge davongekommen. – »Ja, mit einem blauen Auge«, bestätigte Friedrich Wilhelm, das sei nun ganz wortwörtlich richtig, sintemal Herr Ries das andere schon als Junge durch die Blattern eingebüßt habe.
Damit kam man auf die Kuhpockenimpfung zu sprechen, von der der Bürgermeister wünschte, daß sie sich immer mehr einbürgere. Hierfür sei freilich seiner Ansicht nach ihre obligatorische Einführung ganz unerläßlich, wozu man in einigen deutschen Ländern mittlerweile ja auch sich bequemt habe.– In Preußen hätten die Blattern übrigens wohl nie so viele Opfer gefordert, wie gerade jetzt vor dreißig Jahren, Anno sechsundneunzig. Da waren mehr als dreißigtausend daran gestorben, auch die Narben des Zuckerbäckers Stümges stammten noch aus jenem Jahr. Und zu dem, wofür man am linken Niederrhein den Franzosen heute noch dankbar sein dürfe, gehöre die Einführung der Impfung.
Frau Maria Magdalena sagte, sie finde es gottversucherisch, etwas auf so grausame und unappetitliche Weise Erzeugtes wie diese Lymphe einem wehrlosen, gesunden und unschuldigen Kindlein ins Blut zu geben. Und wenn man es dadurch auch wirklich gegen die Blattern feie, so sei doch noch nicht erwiesen, ob durch solche künstliche Vergiftung der Säfte nicht vielleicht andere, mehr schleichende Krankheiten hervorgerufen würden. Ihr jedenfalls sei es lieb, daß sie als Mutter dergleichen nicht mehr zu verantworten brauche. Das Leben jedes Menschen stehe in Gottes Hand und die einzige Quelle aller Krankheiten sei die Unsauberkeit in ihren verschiedensten Formen. Die möge man bekämpfen, wo und wie immer man könne, der einzelne, die Gemeinde, der Staat, dann würden alle Seuchen von selber aufhören. Im Übrigen denke sie von diesen wie der alte Polizeidiener Hermges vom Kaschott: wer hinein soll, entgeht ihm nicht. Noch bevor der Bürgermeister antworten konnte, lenkte sein Sohn, sich erinnernd, daß die Eltern in solchen Fragen einander leichter verstimmten als überzeugten, das Gespräch rasch auf die Pfingstlichen Musikfeste zurück, indem er seiner schön bestickten Brieftasche, einem Geschenk Gabrielens, das Programm des bevorstehenden entnahm und fragte, wer wohl dieser »Herr N. N. aus Kassel« sein möchte, der da beim Baß unter den Solisten figuriere; eine derartige Anonymität sei doch seltsam. Der Vater erwiderte, dieselbe Frage sei gestern Abend in der »Gesellschaft« auch aufgeworfen worden, aber man sei nicht dahintergekommen, obwohl C. C. Windemann gerade gestern seinen Schwager aus Kassel bei sich gehabt, der mit allen dortigen Verhältnissen vertraut zu sein scheine. Ein konzilianter Herr, dieser Schwager, und viel Interessantes habe er zum besten gegeben.
Ja, ja, die Zustände in Kassel müßten unter dem jetzigen Kurfürsten doch noch viel schlimmer sein als unter seinem Vater, dem Siebenschläfer. Da könne man sich wirklich freuen, in Preußen und nicht in Kurhessen zu leben. Es sei ein öffentlicher Skandal, wie dieser Wilhelm II. seine Frau behandle, und man müsse sich nur wundern, daß ihm von Berlin aus nicht derber auf die Finger geklopft werde, denn die Frau Kurfürstin sei doch eine leibliche Schwester des Königs. – Die Mamsell Ortlöpp, die ja nun Gräfin Reichenbach heiße, habe den Kurfürsten offenbar völlig in ihrer Gewalt und den Jähzornigen schon des öftern zu schweren Mißhandlungen seiner Frau und besonders seines Sohnes aufgestachelt, ja vor einigen Jahren sogar versucht, den jungen Kurprinzen durch Gift aus dem Wege zu räumen. Von sehr großem und üblem Einfluß sei auch der Bruder der Ortlöpp, den der Kurfürst, durch etliche Drohbriefe erschreckt, zum Postdirektor gemacht habe, als welcher er nun die schamloseste Briefspionage betreibe: in Kassel werde jeder ankommende und jeder abgehende Brief auf der Post geöffnet und, sofern sein Inhalt diesem famosen Postdirektor irgendwie mißfalle oder ihn interessiere, einfach unterschlagen. Die Kasseler vermieden infolgedessen nach Möglichkeit, die Post zu benutzen und schickten und empfingen ihre Briefe lieber auf langwierigen Umwegen. So hatte auch Windemanns Schwager von allen seinen Kasseler Bekannten Briefe mit auf die Reise bekommen, die er unterwegs teils selber zustellen, teils bei der Post aufgeben solle, was ihm, wie er gesagt, heidenmäßig viel Umstände mache. Aber man balle die Faust nur im Sack, und wenn es hoch komme, räche man sich heimlich durch boshafte kleine Scherze wie den, daß man den Hauptsatz des Staatsgrundgesetzes auf die Gräfin Reichenbach deute: »Die Person des Kurfürsten ist heilig und unverletzlich.«
Ein sehr niedliches Geschichtchen habe Windemanns Schwager aus der Prinzenzeit seines saubern Landesvaters gewußt: Anno sechs sei ja bekanntlich der Landgraf Wilhelm IX., der Siebenschläfer, vom großen Bonaparte aus Hessen verjagt worden. Mit dem Vater habe der dreißigjährige Sohn, der gegenwärtige Kurfürst, sich ins Exil begeben. Der sei bei solch' unfreiwilligem Wanderleben auch nach Berlin gekommen, allwo er der Mamsell Ortlöpp ins Garn gegangen sei. Anno dreizehn nun habe er als sogenannter preußischer General im Yorkschen Hauptquartier herumgelungert und dort eines Tages ein kleines Fest gegeben. Beim Mahl sei ihm eine rührselige Sehnsucht nach Thron und Fleischtöpfen des Landes seiner Väter aufgestiegen und weinerlich habe er gefragt, ob die Herren nicht auch meinten, daß das schöne Hessenland schließlich doch seinem Hause zurückgegeben werden müßte. Da habe der neben ihm sitzende General Hünerbein geantwortet, wenn's nach ihm ginge, bekäme der Landgraf von Hessen nicht soviel Land zurück, wie er Schmutz unter den Fingernägeln hätte... Und als der Prinz, durch solche Antwort einigermaßen verstimmt und betrübt, gleichsam hilfesuchend zu York aufgesehen, habe dieser ihm nur bestätigt, daß er's freilich so grob nicht ausgedrückt haben würde, – Auf dem gesegneten Wiener Kongreß hätten die Diplomaten ja nun freilich auch hierin leider wieder anders gedacht, als jene verständigen preußischen Militärs, und wenn sie auch dem verjagten Siebenschläfer die beantragte Krone eines »Königs der Katten« vorenthalten und ihm nur den nichtsmehrsagenden Titel eines Kurfürsten zuerkannt, als welcher der Sohn jetzt statt der IX. eine II. hinter seinen Namen malen dürfe – das schöne Hessenland hätten sie ihm doch wieder ausgeliefert, das bei Preußen viel besser aufgehoben sein würde. Das Neueste sei übrigens, daß dieser Wilhelm der Zweite von seinen Offizieren und Beamten verlange, sie müßten Schnurr- und Wangenbart durch Rasieren und Beschneiden zu einem lateinischen großen W formieren. Um aber auf das bevorstehende Musikfest zurückzukommen, fuhr der Bürgermeister fort, so solle der Hofkapellmeister Spohr, mit dem Ries ja diesmal sich in die Leitung teilen werde, weil jener sein Oratorium »Die letzten Dinge« begreiflicherweise selber zu dirigieren wünsche, persona grata beim Kurfürsten sein. – Was das heiße: »Person agrata«, fragte die zarte Gabriele. »Das heißt, was du bist«, antwortete Friedrich Wilhelm ihr galant die Hand küssend: »ein süßes Persönchen« – und wieder überzog das Antlitz der jungen Frau sich mit einem flüchtigen Rot. – Na, ein Persönchen könne man Spohr nun wohl gerade nicht nennen, erklärte der Vater, denn er sei ein Hüne, und der Ausdruck persona grata heiße in diesem Fall soviel wie »sehr gut angeschrieben«. – Ob der Kurfürst aber wirklich Freude an der Musik habe, oder auch diese nur benutze, um seiner Verschwendungssucht zu frönen, das wisse er nicht, habe Windemanns Schwager geäußert. Tatsache sei, daß er schon mehreren hessischen Regimentern Janitscharenmusikinstrumente aus Ebenholz und reinem Silber geschenkt. Freilich habe jener gut schenken, da die Untertanen schließlich doch alles bezahlen müßten, wie das Land ja auch jetzt schon dem Hause Rotschild an dreimal hunderttausend Taler kurfürstliche Schulden zu verzinsen hätte.
Nun sei ihr lieber Mann doch schon wieder bei diesem Kurfürsten, bemerkte Frau Maria Magdalena, ob der berühmte Schwager aus Kassel denn über Spohrs Oratorium nichts gesagt hätte, das würde sie weit mehr interessieren. »Die letzten Dinge« ... der Titel verspreche ja viel für morgen, auf jeden Fall aber freue sie sich, daß übermorgen wieder ein paar der schönsten Stellen aus dem »Messias« aufgeführt werden sollten, darunter das ganz prachtvolle Grave der Ouvertüre, Ihr Gatte aber meinte, nein, über »Die letzten Dinge« hätte Windemanns Schwager nichts aussagen können und er seinerseits freue sich am meisten auf die »Jubelouvertüre« von Karl Maria von Weber.
»Die letzten Dinge«, sagte die zarte Gabriele nachdenklich, das klinge so geheimnisvoll – sie fürchte sich fast ein wenig... worauf die Schwiegermutter sie belehrte, daß es sich selbstverständlich um die Offenbarung Johannis handle, und daß, bevor die dort geweissagten letzten Dinge einträten, erst die Türken aus Europa vertrieben sein müßten. Davon den Anfang erlebe man ja jetzt und deswegen interessiere sie nichts so sehr, wie dieser griechische Freiheitskampf, denn der sei der Anfang. Sie halte für ein bedeutsames Zeichen der Zeit, daß nun endlich auch die Mächte sich anschickten, den edlen Griechen zu Hilfe zu kommen. Lange genug hätte das freilich gedauert, denn die entsetzlichen Greuel der Türken auf Chios lägen doch nun auch schon wieder vier Jahre zurück und es sei erstaunlich, wie rasch die Zeit vergehe, wenn man älter werde: »Ach ja, was ist das Leben?« Diese Frage zu beantworten, fühlte keiner sich berufen, nur meinte Gabriele schüchtern, sie könne sich gar nicht denken, daß sie so alt werde, vorläufig wolle ein Jahr ihr, wenn es vor ihr liege, wie eine kleine Ewigkeit und auch, wenn es zurückliege, recht lang erscheinen. Und schließlich bringe doch jeder Tag so viel Liebes und Schönes, daß man wohl einen reichen Schatz an Erinnerungen aufspeichern könne. Aber Frau Maria Magdalena war nicht geneigt, auf eine derartige, unreife Lebensphilosophie sich einzulassen. Sie nahm ihr Griechenthema wieder auf und sagte, daß Gottes Mühlen oft über menschliches Verstehen langsam mahlten, daß aber diese heldenhafte Verteidigung Missolunghis den europäischen Staatsmännern das Gewissen wachgerüttelt zu haben scheine. Die mitten durch die Feinde den Weg nach den Bergen der Freiheit sich bahnenden Krieger und die in der Stadt zurückbleibenden und mit den eindringenden Türken sich selber in die Luft sprengenden Wehrlosen, die hätten eine wahrhaft antike Größe betätigt und sich ihrer hohen Ahnen wert gezeigt. Darum freue sie sich, daß, wie ja das Komitee nachträglich bekanntgegeben, der Überschuß der Einnahmen aus dem Musikfest den bedrängten Griechen zufließen solle. Das werde wohl nicht eben viel sein, milderte der Bürgermeister, er halte dafür, daß die Verschiedenheit der Eintrittspreise, zu der man sich entschlossen habe, weil das Fest diesmal im Theater stattfinde und man der Verschiedenartigkeit der Plätze habe Rechnung tragen wollen, das Gesamtergebnis ungünstig beeinflussen werde, wie er denn auch sonst bedaure, daß der Rittersaal des alten Schlosses nicht mehr zu haben sei. Viel oder wenig, Gott werde es segnen, schloß Frau Maria Magdalena.
Was wohl der dritte Tag bringen werde, fragte Gabriele, und der Schwiegervater antwortete, soviel er gehört, sei der Plan einer gemeinschaftlichen Dampferfahrt aufgegeben worden. Dann würde er, meinte Friedrich Wilhelm, Gabrielen gern Cromford zeigen, das sie ja noch nicht kenne und das er selber auch lange nicht mehr gesehen habe. Der Vater fand dies verständig, er hoffe, daß sie den Kommerzienrat Brögelmann morgen treffen und mit ihm das Nähere vereinbaren könnten, er würde ihn ohnehin gern in einigen technischen Dingen ein wenig aushorchen. Frau Maria Magdalena fragte, was das sei: »Cromford«, das klinge ja ganz englisch. Das sei auch englisch, erwiderte ihr Sohn, und sie habe wohl nur den Namen vergessen, denn gehört habe sie sicher schon zuweilen von dieser großen, ganz nach englischem Muster und zugleich nach deutschen philanthropischen Ideen angelegten und baulich der Landschaft romantisch angepaßten Baumwollspinnerei bei Ratingen, der allerersten übrigens auf dem Kontinent. – Ja, ja, sie erinnere sich, meinte die Mutter, würde aber ihrerseits vorziehen, in der Stadt zu bleiben, um einige ihr noch unbekannte Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen. So das Innere der Lambertikirche, dahinein der König ja vor einigen Jahren den Sarg der unglücklichen Jakobe von Baden feierlich habe überführen lassen, der länger als zwei Jahrhunderte einsam und ungeehrt im Kirchlein des Kreuzbrüderklosters gestanden. Wogegen an sich gewiß nichts einzuwenden sei, denn Ordnung müsse sein, und die tote Jakobe gehöre nicht zu den toten Kreuzbrüdern, sondern zu ihrem toten Gemahl. Aber daß aus solchem Anlaß ein evangelischer König Messen für das Seelenheil einer leichtfertigen Papistin ausdrücklich anbefohlen, sei doch unerhört, wie ja Friedrich Wilhelm der Dritte leider auch sonst des öftern schon eine bedauerliche Hinneigung zum Katholizismus verraten habe, sie erinnere nur an die von ihm verfaßte Agende. – Das sei nicht tragisch zu nehmen, entgegnete der Bürgermeister, sei einfach Politik und sonst nichts, und auch für die arme Jakobe müsse er eine ritterliche Lanze brechen: sie sei weniger leichtfertig als unglücklich gewesen, und die gewiß nur läßlichen Sünden ihres kurzen Erdenlebens habe sie durch die zweijährige Kerkerhaft und den grausamsten Tod schwer genug gebüßt. – Gabriele fragte, ob sie mehr von jener armen Frau erfahren dürfe, und ihr Schwiegervater, erfreut, das Lichtlein seiner Kenntnis der Historie hell aufleuchten lassen zu können, erzählte behaglich und ausführlich, wie die schöne junge Markgräfin Jakobe von Baden, früh elternlos geworden, sich heimlich mit einem Grafen von Manderscheid verlobt, wie die beiden sich gegenseitig mit lieblichen Minneliedern angedichtet und nicht anders vermeint hätten, als daß sie in Bälde Mann und Frau und solchergestalt auf Erden schon aller himmlischen Seligkeit miteinander teilhaftig sein würden. Wie dann plötzlich die Politik dynastischer Interessen sich eingemischt und die gutkatholische Jakobe gezwungen habe, ihre Hand dem Thronerben von Jülich, Cleve und Berg zu reichen. Noch während der Hochzeit und der mancherlei glänzenden und rauschenden Festivitäten, die man am Hofe zu Düsseldorf der jungen Herrin zu Ehren abgehalten, und zu denen auch die Aufführung einer richtigen »Seeschlacht« aus dem Rhein gehört habe, sei die Jakobe leider dahinter gekommen, daß ihr Minnesänger über ihre Untreue den Verstand verloren, und daß ihr Eheherr nie einen besessen, daß man vielmehr auf dessen Haupt vordem, seinem Schwachsinn aufzuhelfen, vergeblich schon manches frischgeschlachtete Huhn hätte verfaulen lassen. Auch daß, was alles man ihm schon in die Kleidung eingenäht: Reliquien und Amulette und Hostien und die Offenbarung Johannis und Austern – ihm alles nicht hätte helfen können. »De Düwel is im Wamms«, hätte er dann wohl gesagt, so oft er dergleichen gemerkt, dieser Geistesblitz wäre aber leider auch das einzige Licht geblieben, das ihm auf jene Manipulationen hin aufgegangen. – Acht lange Jahre habe die arme Jakobe das grauenvolle Elend solcher Ehe getragen. Und dann sei es wieder die Politik dynastischer Interessen gewesen, die für gut befunden habe, die Kinderlose zu beseitigen. Ehebrecherischer Liebschaften angeschuldigt, sei die Unglückliche gefangen gesetzt und eines Morgens erwürgt in ihrer Zelle aufgefunden. – Die zarte Gabriele war während dieser Erzählung ganz blaß geworden, aber Friedlich Wilhelm, der dessen nicht acht hatte, meinte mit robustem Lachen, so ganz unschuldig sei »die tolle Herzogin« am Ende doch wohl nicht gewesen, von der in Düsseldorf männiglich wisse, daß sie, so oft der Sturm nächtens um den alten Schloßturm heule, in ihrem langen Schleppkleide ruhelos durch die finstern Gassen irren müsse ...
Während hinter seinem breiten Rücken solche Gespräche mit Pausen sich ablösten, in denen man schweigend der wohligen Frühlingssonne sich erfreute, ließ Anton die beiden Braunen gemächlich traben, zuweilen dem Lenker eines Planwagens oder eines ungefügen zweiräderigen Bauernkarrens zürnend, wenn solche allzu nachlässig auswichen oder gar geflissentlich sich nicht überholen lassen wollten. Als sie endlich an den Rhein kamen, stand die fliegende Brücke natürlich gerade am andern Ufer, so daß die pfingst- und musikfestlichen Wallfahrer zunächst ausstiegen, um auf dem Damm sich ergehend die Steifheit der Gelenke loszuwerden und den vorbeiziehenden Schiffen zuzusehen. Ja, meinte der Bürgermeister, die Rheinschiffahrt würde wohl Schaden leiden und insbesondere würden die Holländer ihren unverschämten Durchgangszöllen nachtrauern, wenn Herrn Harkorts Plan, die rheinische und westfälische Industrie durch einen Schienenweg mit Emden oder Bremen zu verbinden, sich durchsetze. Er seinerseits glaube freilich nicht, daß der Staat auf eine so riskante und kostspielige Unternehmung sich einlassen könne und dürfe, aber möglicherweise sei dies etwas für eine Gesellschaft auf Aktien. Friedrich Wilhelm sagte, wie er Herrn Harkort kenne, werde der nicht locker lassen. Und wenn die Rechnung stimme, daß auf solchem Schienenwege eine Maschine von acht Pferdekräften nur fünf Scheffel Kohle brauche, um tausend Zentner in zweiundeinerhalben Stunde von Düsseldorf nach Elberfeld zu schaffen, dann gehöre diesem Gedanken doch wohl die Zukunft, Ja, erwiderte der Vater, es tue ihm nur leid, daß der selige Aders diese Zukunft nun nicht mehr erleben könne, denn gerade für die Rheinisch-Westindische Kompagnie würde solche unmittelbare Verbindung mit einem deutschen Seehafen ja von ganz kolossalem Vorteil sein. Rotterdam schlucke ohnehin zuviel. In ähnlichem Betracht tue es ihm leid, bemerkte Friedrich Wilhelm, daß sie nun doch alle Maschinen für die Fabrik aus England verschrieben hätten. Diese neuen Harkortschen Webstühle nach englischem Muster müßten gar nicht so schlecht sein. – Ach nein, das tue ihm gar nicht leid, meinte der Vater, bei den echt englischen habe man doch mehr Garantien, Übrigens solle Herr Harkort neuerdings mit der Absicht sich tragen, neben seiner Maschinenfabrik in Wetter auch noch ein Puddel- und Walzwerk anzulegen. Wenn ihm die vielen Unternehmungen und Projekte nur nicht am Ende über den Kopf wüchsen ... Erst jenseits des Stromes nahmen die Musikfestfahrer ihre Plätze im Wagen wieder ein und dann ging's in raschem Trab durch die gesegneten Obstwäldchen von Hamm dem Bergertor zu, dem die Franzosen das bergische Wappen genommen, aber die lateinische Schrift gelassen hatten, wonach es von den »als wahre Eltern des Vaterlandes fromm regierenden Serenissimis Carolo Theodoro und Elisabetha Augusta« erbaut worden war. In der Dämmerung des weiten Gewölbes schlug Anton ärgerlich mit der Peitsche nach einem der Jungen, die hier »Räuber und Schandiz« spielten, weil er ihn beinahe überfahren hätte. »Heia, berge romerike!« rief der Bürgermeister dem verdutzten kleinen Düsseldorfer zu, der aber auf diesen uralten Schlachtruf der bergischen Bauern nichts zu erwidern wußte. – Und dann hielt der Wagen vor dem »Römischen Kaiser«, denn man wollte die vom Komitee angebotene Gastfreundschaft der einen oder andern Düsseldorfer Familie diesmal nicht in Anspruch nehmen.
Aus zweihundert Kehlen und hundertfünfzig Instrumenten ergoß sich am Abend des Pfingstsonntags, von Spohrs Dirigentenstab gebändigt, eine Flut von Wohllaut auf fünfzehnhundert Hörer. Unter denen waren vielleicht nicht viele gläubiger, schriftkundiger und von lebhafterer Phantasie als Frau Maria Magdalena, die im Gefühl des persönlichen Geborgenseins »Die letzten Dinge« auf diesem alten Planeten im Geiste sich vollenden sah:
Der Gesang der Schnitter verstummt im Feld der Ernte
und die Stimme der Hirten auf den Bergen.
Klage tönt vom Tal herauf
und aus den Klüften Wehgeschrei.
Er kommt, der Tag der Schrecken,
sein Morgenrot bricht an...
Weltlicher gesinnt mochten mit dem einstigen Maire wohl die meisten der letzten Dinge gedenken, die nicht einer wahrscheinlich doch sehr, sehr fernen Zukunft, sondern einer noch recht nahen Vergangenheit angehörten, der großen Dinge, die sie selber erlebt, und des Mannes, der solche herauszuführen, aber nicht zu vollenden vermocht hatte, und der nun seit fünf Jahren auf einer weltverlorenen Insel im Atlantischen Ozean unterm Rasen lag. Ihrer viele hatten ihn gesehen, wie er kalten Angesichts durch die Königsallee geritten war oder im grauen Hütchen unbeweglich eine Truppenschau abgehalten hatte. Und wer, der je ihn gesehen, hätte seiner vergessen können, dessen harte Züge sprachen: »Du sollst nicht andre Götter haben neben mir!«
Es hat sich aufgemacht der Tyrann,
die Geißel Gottes für die Völker.
Auf den Gassen geht das Schwert,
in den Häusern wohnt Hungersnot.
Sie werfen ihr Silber heraus
und achten ihr Gold als Spreu,
denn es errettet sie nicht am Tage des Herrn,
ihre Seelen werden nicht davon gesättigt.
Für ihre Glieder macht man Ketten,
Könige stehen gebeugt,
die Fürsten klagen in Trauer,
des Volkes Arme sinken matt herab
und seine Tränen fallen in den Staub...
Aber gewiß fühlte unter den Fünfzehnhundert niemand von Spohrs Oratorium stärker sich ergriffen als die zarte Gabriele. Mit großen glänzenden Augen saß sie da, sie dachte an keine Zukunft und an keine Vergangenheit, ganz gab sie dem Zauber der Töne und der starken Worte sich hin, und plötzlich, bei einer Stelle, die doch gar nichts sonderlich Erschütterndes an sich hatte, brach sie zum Schrecken ihres Mannes in die herzlichsten Tränen aus:
Die Stunde der Ernte ist da,
reif ist der Erde Saat...
Als endlich der letzte der vielen Töne verklungen war und Spohr mit königlicher Würde für die letzte der immer sich erneuernden Huldigungen gedankt hatte, begannen die Gärten und Weinstuben der Stadt rasch mit lärmender Fröhlichkeit sich zu füllen. Auch Wolfs hatten mit Bekannten ein Waldmeisterböwlchen verabredet. Aber Gabriele bat, schlafen gehen zu dürfen, und Frau Maria Magdalena bestand darauf, die Erschöpfte mütterlich zu Bett zu bringen. Friedrich Wilhelm war über seine »weinerliche« Frau und ihre »Fahnenflucht« zunächst ein wenig verstimmt, da ein Musikfest doch ein Vergnügen sei, und zu einem Vergnügen eine Bowle gehöre, als aber seine Mutter ihm leise bedeutete, er müsse Gabrielens »Zustand« berücksichtigen, schlug seine Verstimmung alsbald in die herzlichste Ritterlichkeit um, die allerdings am Tor des Römischen Kaisers ihn nicht hinderte, die angebotene Freiheit dankbar anzunehmen und zu seinem Böwlchen zu eilen. Wohin den kurzen Weg er sich noch aufs beste zu verkürzen wußte, indem er das Lieblingslied seines Vaters vor sich hinsang, das auch das seine geworden war und das ihn schöner däuchte als »Die letzten Dinge« mit all' ihrer Tonfülle, schöner und verständlicher:
»Freut euch des Lebens,
weil noch das Lämpchen glüht,
pflücket die Rose
eh sie verblüht.«
»Die letzten Dinge« – nein, die lagen ihm, so oder so, doch allzu fern.
Obwohl die an die Rathaustür angeheftete »Informatio de commodo et incommodo« niemand zu einem Einspruch gegen die Dampfmaschine veranlaßt hatte, die J. P. Wolf und Sohn in ihrer neuerbauten Fabrik aufzustellen beabsichtigten, war von einer hochpreislichen Regierung zu Düsseldorf die Konzession nur sehr schwer zu erlangen gewesen. Erfreulicherweise ereignete sich aber nichts, was die obrigkeitliche Furcht vor Untertanenbeschädigung gerechtfertigt hätte. Das blanke Ungetüm, das Schwungrad, zeigte keinerlei Neigung zu Ausflügen in die Nachbarschaft, von deren Wegen man weit hatte abrücken müssen. Sausend drehte es sich vom Morgen bis zum Abend um seine ölige Achse, den Reichtum des Hauses Wolf vermehrend und an hundert Arbeiter wirksamer in Atem haltend, als der häusliche Webstuhl daheim, den man immer mal stillstehen lassen konnte, so oft es in Stall oder Garten andere Arbeit gab. Und der Dampfkessel, dessen gewaltige Feuerung Pastor Kranevoß zur Veranschaulichung der höllischen wirksam benutzte, dachte nicht daran, in die Luft zu fliegen. Für alle Fälle aber versicherte J. P. Wolf, der Ehrenbürgermeister, Gebäude, Maschinen und Einrichtung bei der Gothaer Feuerversicherungsbank, bei der er des guten Beispiels halber sein Wohnhaus schon vor fünf Jahren unmittelbar nach ihrer Gründung angemeldet hatte. – Nur seinen Weinkeller hatte er nicht mitversichert. Er glaubte dem Gewölbe unbedingt vertrauen zu dürfen, und dann hatte es ihm auch widerstanden, den Agenten dahinein zu führen und die lagernden Werte abschätzen zu lassen, die ja zum Teil, wie der herrliche Eilfer, unschätzbar waren, und schließlich doch auch niemand nichts angingen. Nein, den Weinkeller, der seine heimliche Liebe barg, wenn auch eine anders geartete als vor Zeiten das Gartenhaus, den konnte er unmöglich profanen Blicken preisgeben. Prüfte er doch sogar jedes Weinchen selber mit Strenge, bevor er es der Einlagerung würdigte. – Und wie wohlwollend auch der Bürgermeister jedem neuen Unternehmen bürgerlichen Fleißes gegenüberstand – als man vor etlichen Jahren in der »Gesellschaft« die ersten Erzeugnisse der ersten deutschen Champagnerfabrik probierte, die in Grünberg in Schlesien sich aufgetan, da hatte er, indessen die meisten der anderen Herren schmunzelten, im Herzen seinem Weinkeller unverbrüchlich gelobt: »Niemals!«
Unter den Fabrikanten gingen die Ansichten über den Wert der neuen Betriebskraft auseinander, besonders erschien es manchen zweifelhaft, ob die hohen Anschaffungskosten sich vor der vielleicht raschen Abnutzung der Maschine bezahlt machen würden. Das mußte abgewartet werden, aber J. P. Wolf zweifelte nicht daran, wenn er sich auch nicht träumen ließ, daß dieselbe Maschine noch nach achtzig Jahren für seine Urenkel Geld verdienen würde.
Seine Urenkel! Ach! J. P. Wolf ahnte ja nicht, ein wie gutes Geschäft er abschloß, als er, auch jetzt wieder seinen Mitbürgern vorangehend, 1829 in die als erste in Teutschland soeben gegründete Lebensversicherungsbank zu Gotha eintrat. Ein wenig hatte zu solchem Entschluß wohl auch das Vergnügen beigetragen, das ihm Arnoldis Tüchtigkeit und Begeisterung bereitete. Denn dieser kluge und energische Mann hatte nicht nur selber in so kurzer Zeit zwei so bedeutende und wohltätige Versicherungsgesellschaften ins Leben gerufen, sondern auch noch den Plan eines allgemeinen »Bundes deutscher Fabrikanten« angeregt und unermüdlich verfochten. Und jetzt, 1829, hatte er in dem Zusammenschluß des Preußischen Zollverbandes mit dem Süddeutschen die sichere Anbahnung des großen »Deutschen Zoll- und Handelsvereins« erkannt, der dann, allen partikularistischen Quertreibereien zum Trotz, wenige Jahre später auch wirklich zustande kam und Deutschlands Wohlstand begründete. In dieser gewissen Erkenntnis hatte Arnoldi überschwänglich gejubelt: »Heil den edlen Häuptern, welche den von der edelsten Glorie umgebenen Handelsvertrag am 27. Mai abgeschlossen. Sie haben ein Werk vollbracht, das alles überstrahlt, was seit der Reformation Großes in Deutschland geschehen ist.«
Freilich wäre Wolf dem Tode, der ihn 1830 durch eine giftige Auster aus einem heiter-tätigen Leben abrief, wohl leichter unversicherten Lebens gefolgt, wenn er den Enkel noch gesehen hätte, den er mit einer Bestimmtheit erwartete, die keinen Spaß verstand. Was half ihm Friedrich Wilhelms und Gabrielens erstes und bis jetzt einziges Kindlein, das aus Verlegenheit auf die Namen Jeanette Philippine getauft war. Denn Frau Maria Magdalena hatte die vielen und zierlichen Wäsche- und Kleidungsstückchen allzu zuversichtlich mit J. P. bestickt, sintemal der Junge natürlich wie sein Großvater heißen sollte.
Mit der Eröffnung der mechanischen Fabrik waren die Seitenflügel des Wohnhauses, soweit sie geschäftlichen Zwecken gedient hatten, frei geworden. Nach dem Tode des einstigen Maire wurden ihre Obergeschosse zu Wohnungen umgestaltet. Das eine bot Frau Maria Magdalena einen annehmbaren Witwensitz und das andere, gegenüber, bezog ihr Liebling Johannes, der die Mahlzeiten bei der Mutter einnahm, im übrigen aber den ganzen Tag mit seinen Glasröhren, Retorten und Tiegeln an langen Tischen hinter seinen Fenstern hantierte, so daß sie ihn wenigstens viel vor Augen hatte, wie unverständlich ihr auch sein Tun blieb. Sie hätte ihn so gerne verheiratet, den lieben Jungen, seitdem er jedoch diesem geheimnisvollen künstlichen Brot auf der Spur war, das fast nichts kosten und eine Hungersnot, wie die von 1816, unmöglich machen würde, seitdem war er solchem mütterlichen Wunsch erst recht unzugänglich geworden.
Im Vorderhaus aber sah Friedrich Wilhelm Wolf wenige Monate nach dem Heimgang des Vaters dessen sehnlichstem Verlangen, das auch das seine war, zuversichtlich die Erfüllung nahen. Die alte Frau van Neersen, die allen honetten Kindern behilflich war und mit den Sternen gut Bescheid wußte, erlaubte durchaus keinen Zweifel. Sie hatte die genauesten Berechnungen angestellt; diesmal mußte es ganz unbedingt ein Junge sein. Doktor Latschert, der Hausarzt, hatte nicht widersprochen. Gabriele freilich weinte viel und war von bangen Ahnungen erfüllt, von denen ihr Mann nichts wissen wollte. Sie hatte so seltsame Träume gehabt. Einmal hatte sie ein Leichenbegängnis gesehen, und als sie ein Paar junge Fabrikarbeiterinnen, die dabeistanden, fragte, wer es sei, den man zu Grabe trage, da hatten die aufgekreischt und sich bekreuzt und waren ohne zu antworten davongelaufen. Und ein andermal hatte sie ihren Mann gesehen, wie er mit einer stattlichen Dame am Arm, Pinchen an der Hand und ein Knabentrüpplein hinter sich, vor ihr her zur Kirche ging. – Frau van Neersen, die sich auch auf Träume verstand, versicherte, der erste Traum bedeute einfach ein langes Leben, das sei ganz bekannt, und der andere, daß es nicht bei dem einen jetzt erwarteten Jungen bleiben und daß sie selber, Gabriele, sich ins Stattliche verändern werde, wie das ja bei Frauen mit den Jahren meist geschehe. Aber der fromme Weber Schlüpjes, der Totengräber, von dem doch jeder wußte, daß er über die Dinge dieser und der zukünftigen Welt seine besonderen Gedanken und Erkenntnisse hatte, der war auf ihre Not eingegangen. Gott habe von jeher, hatte er gemeint, einzelnen Menschen seltsame Träume gesandt, und sie tue gut, auf die ihrigen zu achten. Dann hatte er sie aus einer flachen Pappschachtel, in der einige hundert einzeln zusammengerollte Papierlein nebeneinander standen, eines herausziehen heißen. Und als sie das gezogene aufrollte, las sie: »Darum verziehe nicht, dich zu bekehren und verschiebe es nicht von einem Tage zum anderen. Sirach 5, 8.« Da war sein ernstes Gesicht noch ernster geworden und er hatte mit ihr gebetet, daß Gott ihr die Gnade schenken wolle. Und seitdem war sie viel ruhiger geworden. Nur daß Wort und Weise einer Stelle aus den »Letzten Dingen« jenes Musikfestes ihr immer durch den Sinn gingen:
Die Stunde der Ernte ist da,
reif ist der Erde Saat...
Nun war Pinchen schon seit ein paar Tagen bei der Großmutter untergebracht, die es jeden Abend vor dem Einschlafen um ein Brüderchen beten, vorsorglich aber morgens auch ein Sprüchlein für den Storch hersagen ließ.
Endlich war die Zeit erfüllt: Kurz nach Mitternacht schickte Friedrich Wilhelm zu Doktor Latschert und Frau van Neersen. Es waren lange, bange Stunden, und das gute Gesicht des Doktors hatte alle Farbe verloren, als er sich nicht länger verhehlen konnte, daß von den beiden Hauptbeteiligten nur einer sie überleben würde. Wessen Leben nach den Bestimmungen des noch gültigen französischen Rechts in erster Linie zu erhalten war, darüber konnte kein Zweifel bestehen.
»Ein gesundes Mädchen,« murmelte Frau van Neersen und mit noch leiserer Stimme vorwurfsvoll: »und rote Haare hat es auch!« Da schlug die gänzlich entkräftete junge Mutter noch einmal die Augen auf und sah ihren Mann an, voll unendlicher Liebe und doch, wie wenn sie zugleich an etwas ganz andres denke oder auf etwas nur ihr hörbares horche... »Verzeih mir, Fritz!« flüsterte sie und starb.
Als aber am Nachmittag der Totengräber Schlüpjes kam, um sich die Anweisungen wegen der Beerdigung zu holen, bat er, die Tote sehen zu dürfen. Er sah sie lange an und seine schmalen Lippen bewegten sich leise. Dann sagte er ruhig und zufrieden, er sähe auf ihrem Antlitz den Morgenglanz der Ewigkeit.