Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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»Ach ja, was ist das Leben? – Eine rechte Kalamität!« fragte sich und antwortete sich seufzend Frau Maria Magdalena Wolf, die in der Dämmerstunde eines Novembertages im Jahre 1824 einsam an ihrem Nähtisch saß, indessen der Wind den Regen unaufhörlich gegen die Fensterscheiben trieb. Sie legte die Brille in Jean Pauls Titan, darin sie gelesen hatte, denn es wurde zu dunkel, auch erregte das Buch sie zu sehr und zu Ende kam sie heute doch nicht. Welch ein entsetzlicher Mensch, dieser Roquairol, und wie fürchterlich sein Selbstmord auf der Bühne, vor so vielen Leuten und angesichts der von ihm so schändlich betrogenen Geliebten ... An der Dachrinne mußte eine schadhafte Stelle sein, ein Wasserfall ergoß sich gerade vor der Haustür auf die Plattform der großen Treppe. Aber der Seufzer hatte weder der naturgemäß erlaubten, noch der gesetzwidrigen Betätigung des nassen Elements gegolten, sondern dem Leben im allgemeinen.

Frau Maria Magdalena, wie sie dasaß, über dem dunkeln Kleid ein schwarzes Tüchlein auf den magern Schultern und das etwas spitze Gesicht von dem gekräuselten Rand einer weißen Haube eingerahmt, war rascher gealtert als ihr Gatte, und in ihrem Herzen hatte das Schwärmerische längst einer etwas unklaren religiösen Sehnsucht Platz gemacht, das Lehrhafte aber war geblieben.

Eigentlich hatte das Leben ein so hartes Urteil nicht verdient. Gewiß, das schreckliche Ende ihres Bruders hatte sie erschüttert, aber bei dem großen Altersunterschied war das geschwisterliche Verhältnis doch kein so nahes gewesen, daß sie persönlich dauernd viel zu entbehren gehabt hätte. Und wenn sie auch den guten Vater lieber noch länger behalten hatte, so mußte sie sich doch sagen, daß er die biblische Altersgrenze erreicht und einen schmerzlosen Tod gehabt hatte. Leicht war auch das Ende ihrer Mutter gewesen, die sich so oft gewünscht, vor ihrem Pastor heimgehen zu dürfen und ihm nun wenigstens bald nachgefolgt war. Und Frau Maria Magdalenas eigene Wünsche als Gattin und Mutter, Wünsche, die nie sehr ausschweifend gewesen waren, hatte das Leben ihr in der Hauptsache ja ganz freundlich erfüllt. Trotzdem lag jetzt immer etwas, wenn nicht Anklagendes, so doch Klagendes, ja beinahe Weinerliches in ihrer Stimme. Nun, es war doch auch traurig, daß der alte Doktor Kükes ihr so gar nicht zuhelfen vermochte in den vielen, vielen gesundheitlichen Störungen, die schließlich doch wohl noch nicht die Gebresten des Alters sein konnten. Wenn wirklich einmal eine Medizin von ihm ein Leiden behob, so schien sie dafür ein neues hervorzurufen. Gewiß war er zu alt geworden, um sich in seiner Wissenschaft auf dem Laufenden zu halten. Jetzt hatte sie an Hahnemann geschrieben, den herzoglichen Leibarzt in Köthen, der ja eine ganz neue Heilweise erfunden hatte. Die Pastorin Kranevoß hatte ihr davon erzählt: Er verordne lauter Gifte, aber in ganz winzigen Dosen, die nicht schaden könnten. Es komme nun darauf an, für jedes Leiden die Arznei zu finden, die, von einem Gesunden in großen Mengen eingenommen, ein ähnliches Leiden hervorrufen würde. Dann fräßen das Krankheitsgift und das ihm verwandte künstliche Gift einander restlos auf und man wäre die Sache los. Ganz verstanden hatte Frau Maria Magdalena das nicht, aber eingeleuchtet hatte es ihr. Nun erwartete sie mit Ungeduld Hahnemanns Antwort und Verordnungen.

Schwer war auch, daß der liebe Gott ihr eine so lebhafte Phantasie gegeben, die ihr, was sie Schreckliches hörte oder las, immer noch schrecklicher und in allen Einzelheiten ausmalte, besonders in der Nacht, wenn sie den Schlaf nicht finden konnte. Wie fürchterlich hatten die Türken auf Chios gehaust! Dreiundzwanzigtausend Männer hatten sie ermordet, siebenundvierzigtausend Frauen, Jungfrauen und Kinder hatten sie in die Sklaverei verschleppt! Welche Greuelszenen mochten sich da abgespielt haben und wie wenig tat die Christenheit, den armen Griechen in ihrem Freiheitskampf zu helfen! – Aber schließlich – in den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, mochte manche Träne getrocknet sein, und Gott würde schon wissen, warum er solches zugelassen. Sein Geheimnis war ja auch, warum der edle Lord Byron in Missolunghi dem Fieber hatte erliegen müssen, der doch mit so selbstloser Hingabe sich in den Dienst der griechischen Sache gestellt und auf eigene Kosten eine Brigade von fünfhundert tapfern Sulioten aufgestellt hatte. Denn daß er, wie Wolf sie hatte glauben machen wollen, nach Griechenland gegangen, um sein Krönchen in eine Krone zu verwandeln, das war doch ganz gewiß nicht wahr. Ebensowenig wie, daß die heutigen Griechen keineswegs Nachkommen der alten Hellenen wären, sondern – Slowaken.

Nein, das Traurigste war doch, daß sie keine Tochter hatte, die ihr die vielen einsamen Stunden erheitern könnte, denn ihr Mann ging ganz auf in den Plänen und Vorbereitungen der mechanischen Fabrik, die, als erste des Städtchens, ja des Kreises, er zu erbauen beabsichtigte, sobald sein Ältester, Friedrich Wilhelm, aus England zurückkäme. Den wenigstens, der sich drüben mit dem Wesen und der Behandlung dieser merkwürdigen neuen Dampfkraft vertraut machte, brauchte die Mutter jedenfalls nicht zu beseufzen, denn er war auf gutem Wege, beruflich, bürgerlich, kirchlich.

Über den zweiten Sohn, Johannes, zu seufzen, wäre wohl viel Ursache gewesen, aber daß es doch nicht helfen würde, wußte die Mutter recht gut. Trotz dem großväterlichen Einfluß und dem mütterlichen Bitten und Drängen hatte der Junge durchaus nicht Pastor werden wollen. Nun saß er in Berlin, diesem Sündenbabel, darin fast eine Viertelmillion Menschen hausten – wie viele schlechte mochten darunter sein! – und studierte, was die Mutter bei keiner der vier Fakultäten unterzubringen vermochte: Physik und Chemie und allerlei Naturwissenschaft. Ach, wenn sie ihn doch nur erst wohlbehalten wieder hätte, den kleinen zarten Kerl mit seinen roten Haaren und dem großen Mund, ihren Johannes, der immer so viel Zurücksetzung erfuhr und der doch nun einmal ihr Liebling war. Gerade weilten ihre Gedanken wieder in diesem schrecklichen Berlin, als auf dem weiten Hausflur die Glocke dreimal ertönte. Sie wußte, wer zwei Minuten später ins Zimmer eintreten und ihr die Hand küssen würde: Gabriele ten Bompel, die Urenkelin des seligen Herrn Henricus, eine zarte Blondine von jener rührenden Schönheit, die auf ein kurzes Erdenleben deutet. Sie war Friedrich Wilhelms heimliche Braut geworden als er vor seiner Reise unter ihrer Assistenz bei ihrer zweiten Mutter, einer Engländerin, sich einige Gewandtheit im Englischen erworben hatte. Heute war ein Paket von ihm eingetroffen, darin er seiner teuersten Schwiegermutter einen neuen Roman übersandte, der jetzt in England viel gelesen werde: Ivanhoe von Walter Scott, – der innig geliebten Fräulein Braut aber ein kleines, auf Elfenbein gemaltes Bildnis seiner selbst. Für seine Mutter endlich hatte er ein Päckchen jenes feinsten Tees beigefügt, den die Engländer nur in England einführen ließen, und das hatte Gabriele trotz dem schlechten Wetter heute noch überbringen wollen.

Während nun die zierliche Kleine nach gemeinsamer Bestaunung des Elfenbeinbildchens und immer erweiterter Anerkennung seiner sprechenden Ähnlichkeit mit durchleuchteten Händen den Docht in dem »Komföhrchen« in Brand setzte, darauf das vorgewärmte Wasser stand, bedachte Frau Maria Magdalena sorgenvoll, daß jene doch noch ein rechtes Kind und viel zu zart für ihren derben Friedrich Wilhelm sei. Aber die jungen Leute liebten einander, die Väter hielten die Verbindung für richtig, und Gabriele war von ihrer ersten Mutter her sehr reich: »Sechzigtausend Taler mindestens« hatte Wolf ihr schmunzelnd anvertraut. Warum nur kam jetzt wieder dieser Seufzer über ihre Lippen, den Gabriele so gut kannte, und stets mit einem kindlich ehrerbietigen und gleichsam um Verzeihung bittenden Lächeln beantwortete, der Seufzer: »Ach ja, was ist das Leben? Eine rechte Kalamität!«


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