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Jedem Hause wird ein Zauber, daß es unvergänglich dauert, etwas Liebes und Lebend'ges in den Grundstein eingemauert.« – In den Fundamenten der niederrheinischen Textilindustrie modern die Seelchen Tausender von Kindern. Von Kindern, die keine Kindheit gehabt haben, weil sie, oft schon vom sechsten Lebensjahr an, »auf die Fabrik« mußten, um im Staub und Getöse der überhitzten Säle täglich ihre zwölf bis sechzehn Stunden mitzuarbeiten. Sie hatten keinen Fluch, sie hatten nicht einmal Tränen, sie kannten es nicht anders. Dumpf und stumpf, wie kleine niedere Tiere, siechten sie dahin, stumme und ungepflegte Maschinchen zwischen ihren Herren, den lauten und blanken Maschinen, und wie diese nur dazu auf der Welt, das Geld, das in der Fabrik steckte, möglichst hoch zu verzinsen. Die staubige Hitze fraß an ihren Lungen, und wenn ihre Seelen eine Zeitlang den Schmutz, der hier gedieh, eingeatmet hatten, dann begannen die elenden Körperchen frühe eignen und fremden Lüsten sich hinzugeben. Fünfzehn, und wenn es hoch kam, zwanzig Jahre hielten sie dieses Leben aus. Dann machten sie dem Doktor wenig und im Sarge dem Pfarrer auch nicht gerade viel Mühe. Und ein bleicher Nachwuchs, der meist den Vater, oft auch die Mutter nicht kannte, schickte sich an, auf ihren Spuren den Weg in die Fabrik und durch die Fabrik zu gehen.
Der fern in Berlin von Gottes Gnaden thronte und schöne landesväterliche Gefühle in seinem Herzen hegte, der wußte nichts, oder allzu wenig von diesem Elend.
Huldvoll hatte er 1818 einem rheinischen Spinner seine besondere königliche Anerkennung aussprechen lassen, der »aus eigenen Mitteln eine Fabrikschule eingerichtet« hatte. Daß dieser Spinner Nacht für Nacht eine Menge kleiner Kinder elf Stunden arbeiten ließ, die dann morgens zwei Stunden Unterricht erhielten, das wußte der König gewiß nicht, und ebenso wenig, daß der Unterricht der tagsüber in der Fabrik arbeitenden Kinder auf eine Stunde beschränkt blieb. – Und seine Präsidenten und Räte – ja, die wußten genug von solchen Zuständen und verfügten und verordneten unermüdlich dagegen. Besonders seitdem der Generalleutnant von Horn 1828 in seinem Landwehrgeschäftsbericht gemeldet hatte, daß die Fabrikgegenden ihr Kontingent zum Ersatz der Armee nicht mehr vollständig stellten. Da hatte der Unterrichtsminister Karl Freiherr von Stein zum Altenstein, der Schöpfer des höheren Schulwesens in Preußen, sich gefreut, daß nun auch die Kinder der Armen zu ihrem Recht kommen und in die Schule, statt in die Fabrik gehen würden. Aber sein Kollege, der Handelsminister von Schuckmann, war der Ansicht, daß das Leben eines mit Schularbeit belasteten Gymnasiasten der Gesundheit auch nicht zuträglicher sei ... Und schließlich – die Zeiten waren schwer, die junge Industrie mußte geschont werden, und der Staat brauchte kapitalkräftige und wohlgesinnte Männer, Stützen für Thron und Altar. Und dann blieb die Überwachung der Verfügungen und Verordnungen einer hohen Königlichen Regierung im einzelnen ja natürlich auch der Ortspolizei überlassen, deren Organe wohl wußten, mit wem sie's nicht verderben durften. Ward aber wirklich einmal von Düsseldorf aus eine Fabrik inspiziert, so ließen die kleineren Kinder sich rasch auf dem Speicher verstecken. Denn das war doch nur ein ganz vereinzelter Ausnahmefall, daß man auch dort nachsah und beim alten Damian Gottfried Huyskens siebenundzwanzig kleine Kinder hinter Fässern und Kisten entdeckte. »Die fünfzig Taler Strafe quetsche ich in einer Woche wieder aus den Kröten heraus,« erklärte der Alte mit ärgerlichem Lachen, als man ihn abends in der »Gesellschaft« wegen seines Mißgeschicks hänselte.
Während des in Manchester verlebten Jahres hatte Anna Reichardt entsetzliche Wirkungen der industriellen Ausnutzung kindlicher Arbeitskräfte beobachtet. Es war natürlich nur ein winziger Bruchteil des Elends, der in ihren Gesichtskreis getreten. Aber schon dies Wenige hatte ihren Gottesglauben in allen Tiefen erschüttert, so daß sie Jahre brauchte, um sich wieder zurechtzufinden. Den in Manchester gewonnenen Glauben aber, daß Mammon der Teufel oberster und sein Reich das eigentliche Reich der Finsternis sei, den hat sie den ganzen langen Rest ihres Erdenlebens festgehalten und, wo und wie immer sie konnte, mit ihrem unerschrockenen Frauenherzen tapfer gegen diesen größten Feind des Menschengeschlechts gekämpft. Den Anbruch seiner Weltherrschaft zu erleben, ist ihr erspart geblieben.
Wie in England, so hatte Anna auch in Düsseldorf ganz harmlos des Glaubens gelebt, daß solcher Kindermord im lieben Deutschland selbstverständlich ganz unmöglich wäre, und erst recht in Preußen, wo doch so viele Regierungsräte, Polizeidiener und Pastoren überall nach dem Rechten sahen und jedes Kind schulpflichtig war. Daß nun sogar ihr Fritz in seiner Fabrik zahlreiche Kinder beschäftigte, die statt zu lernen oder zu spielen den ganzen langen Tag surrende Maschinen zu bedienen hatten, das lastete schwer auf ihr, und ganz offen sprach sie ihm aus, wenn sie das gewußt hatte, würde sie Lehrerin geblieben sein. Es beirrte sie auch nicht im geringsten, wenn er ihr schön beschriebene Blätter brachte, aus deren Zahlen sie sehen sollte, daß die Firma ohne solche billigen Arbeitskräfte Bankrott machen müßte. Sie ließ sich auf nichts ein. Sie könne seine Zahlen nicht nachprüfen, das Papier sei geduldig, und in ihren Augen wenigstens heilige der Zweck das Mittel nicht. Aber seine Liebe, vielleicht noch mehr seine Verliebtheit, und seine Gutmütigkeit wurden ihr Bundesgenossen in diesem Kampf, und als sein Gegengeschenk für die Zwillinge erhielt sie zu Weihnachten das schriftliche Versprechen, daß zu jedem Osterfest die Altersgrenze für Kinderarbeit um ein Jahr hinaufgerückt werden solle, solange, bis kein Junge und kein Mädchen von weniger als vierzehn Jahren für J. P. Wolf und Sohn arbeite.
Während dieses Kampfes noch nahm Anna sich persönlich der in der Fabrik beschäftigten Kinder an. Durch die Kinder kam sie zu den Eltern in Beziehung, was wieder den Kindern zum Segen gereichte. Und nach Verlauf einiger Jahre war alles ganz anders geworden und die Fabrik selber hatte auch ihren Vorteil davon. Frau Maria Magdalena aber, in einem heimlichen Gefühl der Beschämung, ließ sich durch solche weltlich-soziale Fürsorgearbeit ihrer dem Reich Gottes doch noch recht fernstehenden Schwiegertochter anregen, das eigene Interesse von der äußeren Mission auch auf die innere zu übertragen. Es drängte sie ohnehin längst, die vermehrten Kräfte, die Gott ihr durch Hahnemanns Kügelchen und Pülverchen geschenkt hatte, auch mehr als bisher in seinen Dienst zu stellen, schade nur, daß ihr als Frau so enge Grenzen gezogen waren. Zunächst trat sie in die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft ein, die der junge Kaiserswerther Pfarrer Fliedner in Düsseldorf gegründet hatte. Und um die Zeit, da dieser in sein kleines Gartenhaus einen entlassenen weiblichen Sträfling aufnahm und auf so unscheinbare Weise den Grundstein seiner großartigen Schöpfung der weiblichen Diakonie legte, gewann sie auch eine persönliche Beziehung zu diesem frommen und tatkräftigen Mann, dem die Not der Ärmsten auf der Seele brannte. Bis zu ihrem späten Tod ist sie mit immer offnen Händen seinem Lebenswerk eine treue Freundin geblieben.
So oft Friedrich Wilhelm Wolf seine schöne junge Frau beobachtete, wie sie sich Gabrielens, ihren eignen und nun auch noch den Kindern in der Fabrik gab, wie sie ihr Hauswesen pflegte, die Dienstboten in freundlicher Zucht hielt, und immer heiter, immer für ihn frei war, ja sogar ihn den Büchern Geschmack abgewinnen zu lassen wußte, gedachte er dessen, was seine selige Gabriele einst von Fraulein Antoinette Jeanbon gesagt hatte, und tief beglückt segnete er den Rhein im allgemeinen und den »Herzog von Nassau« im besondern, darauf ihm diese »richtige Hexe und resolute Person« in sein Leben geschwommen war.
Wenn das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Frauen fürs erste auch kein ganz vertrautes ward, so versagte doch Frau Maria Magdalena der Schwiegertochter ihre Anerkennung und ein weises Gewährenlassen nicht, was von dieser bei dem großen Altersunterschied und der nahen Nachbarschaft als eine besondere Freundlichkeit des Schicksals mit Vorsicht genossen ward. Der Kommerzienrat aber fand, daß seine Mutter sich zusehends verjünge. Nur daß er geneigt war, diese erfreuliche Tatsache mehr auf den stillen Einfluß seiner Frau als auf die Hahnemannsche Hausapotheke und Taschenapotheke zurückzuführen. Allerdings: daß Hahnemann soeben als Achtzigjähriger zum zweitenmal geheiratet hatte und daß er in so hohem Alter noch von Köthen nach Paris, der Vaterstadt seiner jungen Frau, übergesiedelt war, um dort sich eine lohnendere Praxis zu suchen – das ließ am Ende doch auf eine verjüngende Wirkung seiner Präparate schließen. Oder sollte solche Verjüngung oder Jugendlichkeit vielleicht darauf zurückzuführen sein, daß jener viel und nur ganz reinen Wein trank? Denn Johannes hatte erklärt, von allen Weinuntersuchungsmethoden sei die Hahnemannsche die beste ... Frau Maria Magdalena aber, als sie von den unternehmenden Schritten des ihr so teuren Mannes hörte, mußte sich am meisten darüber wundern, daß der Herzog seinen Leibarzt ziehen ließ. Sollte er dessen Wert so unterschätzt haben, wie er die Baukosten einer Eisenbahn unterschätzt hatte, als er in der ersten Begeisterung ausrief, er wolle und müsse eine im Lande haben und wenn sie tausend Taler kosten sollte ....
Ganz nah und herzlich gestalteten sich die Beziehungen zwischen Anna und ihrem Schwager Johannes. Zwar hatte sie nicht selber die Hand im Spiel, aber es war doch die Wärme ihres Wesens, die im Herzen des kleinen und häßlichen Mannes die Sehnsucht nach Frauenliebe aufblühen ließ. Gegen das junge Mädchen aus dem Kreise der »Gesellschaft«, mit dem seine Gedanken sich immer wieder beschäftigten, hatte Anna einige Bedenken, die sie auch ganz offen aussprach, nicht ohne zu betonen, daß in so zarter Angelegenheit letzten Endes jeder nur sich selber raten könne, und daß sie als Fremde ja auch nicht mehr denn flüchtige Eindrücke habe. So konnte sie freilich nicht verhüten, daß Johannes sich eines Tages ein Körbchen holte. Daß die Schöne aber herzlos genug gewesen war, zu ihren Freundinnen über den »Werwolf« zu spotten, den man ja doch nicht heiraten könne – wovon diese keineswegs in dem Maße überzeugt waren, wie sie es zu sein versicherten – das schmerzte Anna vielleicht tiefer als ihren Schwager, der ja seit seiner Kindheit an viel Zurücksetzung gewöhnt war. Der häßliche Name »Werwolf« aber begann sich einzubürgern.
Immer mehr Kinder der Welt fanden den Weg zu dem blaugetünchten Weberhäuschen, das Johannes Wolf mit den Katakomben im alten Rom verglichen hatte. So fehlte seit einem halben Jahr in keiner Gebetsversammlung der junge Herr Walter Götze, der in der Leitung der Fabrik die rechte Hand des Kommerzienrats war und nächstens Vollmacht erhalten sollte. Der war doch wirklich recht weltlich gesinnt gewesen. Wie mächtig mußte in Schlüpjes die Wahrheit sein, wenn er solche Sinnesänderung bewirkte! – Allerdings hatte er gerade in letzter Zeit des öftern über die Offenbarung Johannis gesprochen und die Stellen gedeutet, nach denen der Anbruch des Tausendjährigen Reiches im Jahre 1836 mit Sicherheit zu erwarten war. Das mochte ja auch wohl solche interessieren, die der Gnade noch nicht teilhaftig waren. Katakombenartig waren die zwei niedrigen Stuben, in denen der fromme Weber seine Versammlungen abhielt, aber nun wirklich nicht, sondern, zumal wenn die Sonne hineinschien, ganz hell und freundlich, nur daß die gekalkten Wände vielleicht ein wenig zu kahl waren. In der Mitte der Hauptwand des größeren Zimmers, in das man zuerst eintrat, hing ein Spiegel oder er stand vielmehr, beträchtlich nach vorn geneigt, mit seinem Goldrahmen auf zwei großen Goldrosetten, die ziemlich weit aus der Wand herausragten. Zwischen ihnen, dicht unter dem Spiegel, war eine niedrige, oben offene Pappschachtel aufgehängt, auf deren halbrunder Außenwand, mit Goldperlen auf blauem Grunde »Nur selig!« stand. Im Innern barg sie ein paar hundert Bibelsprüche, die, jeder für sich auf ein Zettelchen geschrieben, zusammengerollt dicht nebeneinanderstanden. Wenn Schlüpjes in irgendeiner Sache unschlüssig war, pflegte er in diese Schachtel zu greifen und blindlings ein Sprüchlein zu ziehen, das ihn auch noch immer gut beraten hatte. Auf der Kommode unter der Pappschachtel stand eine zinnerne Kaffeekanne, aus deren behaglichem Bauch ein Kränlein sich vorstreckte. Diese Kaffeekanne, die nur bei festlichen Gelegenheiten benutzt ward, blinkte mit dem eisernen Kanonenöfchen in der Ecke um die Wette und ein ebenso lauterer Wettbewerb schien zwischen dem weißgescheuerten Holz des Tisches, der Bank und des Fußbodens entbrannt zu sein. Vor den altersgrünen Fensterscheiben hingen kleine weiße Tüllgardinen und auf den Fensterbänken standen unermüdlich blühende Topfblumen, der besondre Stolz der Frau Schlüpjes und ihrer dritten Tochter, der schwarzen Billa, die ein abenteuerlicher Sinn und ein frommer väterlicher Wunsch zur Missionsbraut gemacht hatten. Unmittelbar nach ihrem zwanzigsten Geburtstag wollte sie »in die Heidenwelt gehen«, um dort die Gattin eines ihr und den Eltern unbekannten Sendlings der Barmer Missionsgesellschaft zu werden, der durchaus eine Gehilfin brauchte und von Zeit zu Zeit schrieb, daß er sie sehnlichst erwarte. – In dieses Zimmer mußten Willemken und Michel vor jeder Versammlung so viele Stühle schleppen, wie nur irgend hineingingen, und neben den Ofen ward dann ein Tischlein gestellt, darauf der Stundenhalter Bibel und Brille ablegen, auch wohl sich selber ein wenig niederlassen konnte, wenn ihn das lange Stehen zu sehr angriff. Seinem Platz gerade gegenüber befand sich die Tür zum zweiten Zimmer, dessen gesamte Einrichtung in dem großen, zwischen Decke und Fußboden fest eingebauten Webstuhl bestand. Dieses Zimmer nahm die Familienmitglieder, soweit sie im vorderen ihre Stühle den Freunden geopfert, auf, außerdem bei sonderlichem Andrang auch noch die, die lieber stehn als wieder fortgehn wollten. Denn Sitzgelegenheiten gab's hier nicht, wenn auch der Webstuhl einige Stützpunkte darbot.
Daß es heute so früh dunkel ward, machte das Gewitter, das den ganzen Nachmittag drohend umhergezogen war und nun langsam anfing, sich zu entladen, gerade als Herr Walter Götze, ein wenig verspätet, das Weberhäuschen betreten hatte. Er fand im vorderen Zimmer keinen Platz mehr und stellte sich daher neben die neunzehnjährige Billa Schlüpjes, die, ein zierliches Wunder keltischer Mädchenschönheit, leicht an den Webstuhl gelehnt, dastand, so daß er durch die offene Tür den Stundenhalter gut hören und auch sehen konnte. – Mit dem Sehen war's freilich bald vorbei, denn die einbrechende Nacht, mit Wolken und Regen verbündet, ließ aus der tiefen Dämmerung rasch die finsterste Finsternis werden, die immer für Sekunden nur durch Blitze aufgehellt ward. Herr Schlüpjes entzündete eine Kerze auf seinem Tischlein, aber da wurden einige Frauen unruhig: während eines Gewitters dürfe man kein Licht brennen, das ziehe den Blitz an. »O ihr Kleingläubigen!« rief der fromme Weber, aber er löschte die Flamme doch und fuhr im Dunkeln fort, den Weg der Wahrheit zu weisen und den Sieg des Lichtes zu verkünden. Schwüle und Dunkelheit ließen von den arbeitmüden Männern und Frauen manche ein wenig einnicken, aber die meisten nahmen die Worte, die schlicht und ernst von den unsichtbaren Lippen flossen, innig auf. Das Gewitter tobte vorüber, auch der Regen ließ nach und schien endlich aufgehört zu haben. Schlüpjes kam zum Schluß. In Versen des teuren Gerhard Tersteegen ließ er seine Darlegungen ausklingen, den Freunden ein geistliches Schlaftrünklein mit auf den Heimweg und ins Bett zu geben:
Nun schläfet man,
und wer nicht schlafen kann,
der bete mit mir an
den großen Namen,
dem Tag und Nacht
wird von der Himmelswacht
Preis, Lob und Ehr gebracht:
O Jesu. Amen. –
Weg Phantasie!
Mein Herr und Gott ist hie.
Du schläfst, mein Wächter, nie,
dir will ich wachen.
Ich liebe dich,
ich geb zum Opfer mich
und lasse ewiglich
dich mit mir machen.
Es leuchtet dir
der Himmelslichter Zier;
ich sei dein Sternlein, hier
und dort zu funkeln.
Nun kehr ich ein;
Herr, rede du allein
beim tiefsten Stillesein
zu mir im Dunkeln.
Noch ehe die Andächtigen im Herzen ihr Amen hinzusetzen konnten, zuckte ein verspäteter Blitz hernieder, die schwülen Zimmer mit einem jähen, gelben Lichte füllend. »Satanas! Satanas!« schrie Schlüpjes auf, und einige sahen noch seinen emporgereckten Arm und die krampfhaft geballte Faust. Wach waren jetzt alle, aber Schlüpjes sagte nichts mehr, und als er die Kerze anzünden wollte, da zitterten seine Hände so stark, daß er's nicht vermochte und ein andrer es ihm abnehmen mußte. Sie drangen nicht mit Fragen in ihn .... Vielleicht hatte er eine schwere Anfechtung überstanden .... Gott würde ihm beistehen, vertrauten sie, und schweigend oder in leisem Geflüster verließen sie das Haus. Und alsbald bot die schwarze Billa nach ihrer Gewohnheit dem Vater den Mund zum Gutenachtkuß. Da versetzte er ihr unversehens einen harten Schlag mitten in das hübsche Gesichtchen, so daß sie laut aufschrie und auf der Stelle sterben zu müssen vermeinte. Darauf erfolgte in dem schwülen Zimmer eine Aussprache, wobei Vater, Mutter und Tochter im Licht der kleinen Kerze wie ruhelose Geister zwischen den Stuhlreihen hin und her irrten, indessen Willemken im Nachtkittel vor der Zimmertür stand und lauschte.
Es waren Worte von alttestamentarischer Wildheit, mit denen Schlüpjes die Tochter und dann auch die Frau überschüttete, Worte so voll Grauen, daß Billa noch nach vielen Jahren aufstöhnte, wenn sie durch ihre Träume tobten. Der Anblick aber, den der letzte Blitz dem frommen Weber dargeboten, war auch wirklich entsetzlich gewesen: ihm gerade gegenüber hatten Billa und Herr Walter Götze sich innigst umschlungen gehalten, mit festgeschlossenen Augen die Schmerzen und Wonnen eines langen Abschiedskusses auskostend.
Für den leichtgekleideten Lauscher draußen, den auf den Ziegelsteinen des Hausflurs plötzlich ein kräftiges Niesen anfiel, womit er sich schleunigst ins Bett flüchtete, hätte es beinahe noch eine Tracht Prügel abgesetzt. Aber er versicherte so treuherzig, nur zu einem allgemein menschlichen Zweck unterwegs gewesen zu sein, daß er den Großvater wieder entwaffnete.
Übrigens war's gut, daß er gelauscht hatte und gleich am andern Nachmittag seinen Freundinnen Pinchen und Regina berichtete. Durch sie erfuhr die Kommerzienrätin von der Sache, und ihrem Takt gelang es, mit Hilfe ihres Mannes eine allerseits befriedigende Verständigung herbeizuführen, bevor so oder so ein Unglück geschehen konnte. Schon aus Rücksicht auf Herrn Walter Götze versagte dann auch die Familie Wolf ihre Teilnahme an Billas Hochzeitskaffee nicht, wie auch der Kommerzienrat sich in einer kleinen Festrede den Witz nicht versagte: daß eine Tochter aus so frommem Haus hinfort ohne Scheu Götzendienst treiben wolle und dürfe, sei doch eine höchst merkwürdige, ja befremdliche Sache.
Das Körbchen, das Johannes Wolf sich geholt hatte, verleidete ihm die kleine Vaterstadt, worin Begegnungen mit der herzlosen Schönen sich nicht vermeiden ließen, und wo obendrein der häßliche Name »Werwolf«, den statt erhofften Eheglückes die mißratene Werbung ihm eingebracht, immer mehr Anklang fand. Nicht als ob man dem Sohn des alten Maire, dem Bruder des neuen Kommerzienrats übelgewollt hätte, aber er war so anders als die andern und das hatte man nicht gern, auch kannte man ihn so wenig, weil er nur selten in die »Gesellschaft« kam und dann – zu seinem unschönen Äußeren paßte der Name so gut. Schon lange hatte Johannes mit dem Gedanken gespielt, noch einmal wieder auf die Universität zu gehen, war doch seine junge Wissenschaft, die Chemie, gerade im letzten Jahrzehnt, besonders durch die beiden menschlich und wissenschaftlich einander so wunderbar ergänzenden Freunde Justus Liebig und Friedrich Wöhler um so viel weitergeführt, ja durch deren gemeinsame Begründung der organischen Chemie um ganz unabsehbare neue Möglichkeiten bereichert worden. Ner Gedanke verdichtete sich zur Absicht, und er sprach mit den Seinen darüber.
Der Kommerzienrat schlug ihm vor, wenn er durchaus einmal für längere Zeit fortwolle, was ja gut zu verstehen sei, dann solle er doch statt zu Liebig besser zu Liebieg gehen. Von diesem, Österreichs größtem industriellen Genie, dessen Ruhm als eines Vaters der Arbeit und der Arbeiter dreißig Jahre später keine Landesgrenzen mehr kannte, wußten zu jener Zeit außerhalb Böhmens nur Wenige. Dort, zu Braunau, war Johannes Liebieg 1802 geboren, armer Leute Kind, und, kaum des Lesens und Schreibens kundig, zuerst Hausweber, dann Fabrikarbeiter und endlich zu Reichenberg Mitinhaber einer »Schnittwarenhandlung« gewesen. Überall hatte er viel gearbeitet, viel beobachtet und viel gelernt, und schon bevor er sich zu einer kurzen Reise nach Frankreich und dann nach England entschloß, wußte er genau, wie und wo der Hebel des Erfolges anzusetzen war in einem Lande, dessen Handelspolitik auf dem Grundsatz beruhte, es sei besser, für eine Ware zwei Taler zu bezahlen, die im Lande blieben, als einen, der ins Ausland ginge. Auf der Rückreise aus England hatte er die junge niederrheinische Textilindustrie flüchtig berührt, gerade in den Tagen, als das Schwungrad in der neuen Fabrik von J. P. Wolf und Sohn sich anschickte, die Befürchtungen der Königlichen Regierung zu Düsseldorf zu entkräften. Unmittelbar danach erwarb Liebieg im Josephinental bei Reichenberg ein altes Gebäu mit reichlicher Wasserkraft, dem kein Mensch ansah, was aus ihm noch werden sollte. J. Liebieg war Spinner, Weber, Appreteur, Färber und Techniker, besonders aber – Kaufmann. Und in jeder dieser Eigenschaften steckte er, wie der Kommerzienrat versicherte, ihn und alle andern Herren der »Gesellschaft« zusammen in die Tasche. Denn zu der Zeit, da die Brüder Wolf hierüber sich besprachen, hatte das Liebiegsche Unternehmen schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt, auf dem es das bedeutendste seiner Art auf dem europäischen Festlande werden sollte. – Seinem Begründer aber, diesem Universalgenie, solle Johannes, so riet ihm der Bruder, möglichst viel abgucken und dann in die väterliche Fabrik eintreten, die man gemeinsam vergrößern, durch eine Färberei erweitern und in J. P. Wolfs Söhne umtaufen wolle.
Aber Johannes fühlte, daß dies nicht sein Weg sei. Er hielt an Justus Liebig fest, der in den letzten zehn Jahren seinem Lehrstuhl zu Gießen einen europäischen Ruf erarbeitet hatte. Dieser Vater der deutschen Chemie, der ihr die Bahn zugleich ins praktische Leben und in die medizinische Wissenschaft brach, hatte jene zehn Jahre hindurch ein echt deutsches Martyrium erlitten. Denn die hohe Regierung zu Darmstadt versagte dem auf Alexanders von Humboldt Empfehlung nach Gießen Berufenen jegliche Förderung, stellte ihm statt eines Laboratoriums einen völlig leeren Raum zur Verfügung und verweigerte ihm, dem aus halb Europa die Schüler zuströmten, Jahr für Jahr die Mittel für Einrichtung und Unterhaltung dieser Arbeitsstätte. So sah Liebig sich gezwungen, hierfür seine Besoldung bis auf einen winzigen Rest aufzubrauchen, »der nicht gereicht hätte, seine Kinder zu kleiden«. Und während er der kleinen Universität einen großen Namen machte, begegneten die andern Professoren dem »Ausländer« und »gescheiterten Pillendreher« mit überheblicher Mißachtung. Mit solchen Bezeichnungen hatten jene ja nun freilich nicht ganz unrecht, denn Liebig stammte zwar aus Darmstadt, hatte aber in Erlangen promoviert, und etliche Jahre vorher hatte der Apotheker zu Heppenheim den Lehrling heimgeschickt, der statt Pillen zu drehen eine höchst ungemütliche Neigung zu Experimenten mit – Knallsilber betätigte. In denselben Wochen aber, da Johannes Wolf sich zu dem Entschluß durchrang, wieder Student zu werden und Liebig zum Lehrer zu wählen, befand dieser sich, durch Überarbeitung und Nahrungssorgen in seiner Gesundheit schwer erschüttert, zur Erholung in Baden-Baden, von wo aus er jenen aufrichtigen Brief an seinen höchsten Vorgesetzten, den Kanzlei Linde zu Narmstadt schrieb, den sein Schwiegersohn Moritz Carriere später veröffentlicht hat. Jenen Brief, der den Kanzler merkwürdig rasch die »fehlenden Mittel« finden ließ.
Frau Maria Magdalena hotte zu der Frage: »Liebig oder Liebieg« gemeint, wenn ihr Johannes sich überhaupt von ihr trennen wolle, so sei es ihr am Ende einerlei, ob er zu Liebieg oder zu Liebig gehe, immerhin sei Hessen nicht so weit wie Böhmen, was ihr für alle Fälle einige Beruhigung gewähre. So bezog Johannes Wolf zu Beginn des Wintersemesters 1834 die Universität zu Gießen. Er arbeitete fleißig in seinem Fach und gewann auch rasch ein menschlich nahes Verhältnis zu der bedeutenden und gütigen Persönlichkeit seines ihm gleichalterigen Lehrers. Die Mußestunden aber begann Johannes in dieser Zeit dem Studium der Ideen des französischen Grafen Saait-Simon zu widmen, der vor zwölf Iahren in bittrer Armut gestorben war, aber in Enfantin und andern überzeugte Jünger hinterlassen hatte. Der Graf Saint-Simon war schon neunundfünfzig Jahre alt gewesen, als er 1819 die Frage aufgeworfen hatte: was geschieht, wenn in Frankreich die dreitausend tüchtigsten Vertreter der Wissenschaft, der Kunst und des Handwerks – und was, wenn dreißigtausend Prinzen, Grafen, Barone und Millionäre plötzlich sterben? In jenem ersten Fall, meinte er, würde Frankreich verwaist und gelähmt sein, während dieser zweite Fall kulturell keinerlei Bedeutung noch Wirkung haben würde. Saint-Simon wollte also statt auf Vorrechte, Gewalt und Unterdrückung den Staat lediglich auf Leistung sich gründen sehen und die von seinen Zeitgenossen vielumstrittene Charte, die Verfassung, die Ludwig der Achtzehnte bei der Wiederherstellung des Königtums 1814 den Franzosen gegeben und, zum Gelächter Europas Napoleon gänzlich ignorierend, aus dem neunzehnten Jahr seiner Regierung datiert hatte (sintemal 1795 der unglückliche Exdauphin seinen Leiden erlegen war) – diese Charte war für Saint-Simon nur ein Fetzen Papier: Denn die Revolution von 1789, deren Errungenschaften die Charte garantierte, war von der Bourgeoisie und für die Bourgeoisie gemacht, die »Enterbten« hatten wenig davon. – »Mein ganzes Leben,« hatte der Graf kurz vor seinem Tode gesagt, »ist in dem Gedanken aufgegangen, wie man allen Menschen die freie Entwicklung aller ihrer Gaben ermöglichen könne.« Und Johannes fühlte, daß diesem Gedanken, weit über die nationalen Ziele der Völker hinaus, die Zukunft der Menschheit gehöre. Mit Eifer las er Saint-Simons »Neues Christentum« und mit Interesse unterrichtete er sich über die praktischen Versuche seiner Schüler, deren Scheitern ihn nicht überraschte, da sie in der Ausschaltung der persönlichen Freiheit zu weit gingen oder in schrankenloser Willtür an ehrwürdigen und unentbehrlichen Lebensmächten rüttelten.
Da waren hauptsächlich Enfantin und Bazard, die alles verstaatlicht wissen wollten und 1829 sich mit ihren Anhängern zu einer »Kirche« zusammengeschlossen hatten. Nach der Julirevolution, die wiederum nur der Bourgeoisie genützt hatte, kauften sie die Zeitung »Globe« und begannen darin und durch Schriften und Vorträge eine bedeutende Werbetätigkeit. Aber der zweiköpfige »Papst« fiel auseinander, als Enfantin auch die Frauen berief und die freie Ehe verkündete, was ihm zwei Jahre Gefängnis wegen Beleidigung der öffentlichen Moral einbrachte. Er verlegte den Sitz seiner Kirche daraufhin in den Orient, nebenbei den Plan einer Durchsuchung der Landenge von Suez entwerfend. Johannes ahnte nicht, daß er mit solchen Interessen auf politischem Gebiet in eine ähnliche Gefahr sich begab, wie auf religiösem ihr sein junger Oheim Johannes Pieper zu Königsberg erlegen war. Oder wenn solche Gefahr innerlich ihm bei seiner Reise, Besonnenheit und Klarheit des Geistes nicht leicht zum Verhängnis werden konnte – daß er doch alsbald in den gefährlichen Geruch eines Revolutionärs geraten sollte, indem sich ganz von selbst zwischen ihm, dem politisch interessierten Manne, und seinen jungen politisch schwärmenden Kommilitonen Beziehungen herstellten. Beziehungen, die ihn, wenn auch nicht allzu schwer, in einen jener Prozesse verwickeln sollten, von denen die dunkelsten Blätter der Geschichte der deutschen Rechtspflege berichten.
Sind es nicht immer, auch wenn sie irren, wertvolle Menschen, die, obwohl sie selber nicht darunter zu leiden brauchen, herrschende Mißstände bekämpfen, einfach weil sie des Volkes jammert? Auch der Rektor der Lateinschule zu Butzbach in Hessen, der Theologe Dr. Friedrich Weidig, war ein Mann edler Gesinnung, reinen und starken Willens und gebildeten Geistes. Umstürzlerischer Absichten verdächtig, war er, dem seine Arbeit als Lehrer und Erzieher Herzenssache und dessen Lebenswandel vorbildlich war, zu der Zeit, da Johannes Wolf nach Gießen ging, schon ein Dutzend oder mehr Jahre hindurch von der hessischen Regierung in immer neue Untersuchungen gezogen worden. Schließlich, im Sommer 1834, hatte man ihn seines Rektorates enthoben und zur Übernahme eines kleinen ländlichen Pfarramtes gezwungen. Auch hier, in Obergleen bei Alsfeld, erwies er sich als pflichttreu und hilfsbereit. Er trat der Habsucht und Völlerei der Bauern mit Strenge entgegen und gab ihnen durch sein eignes das Vorbild eines christlichen Lebens. Seiner radikalen politischen Überzeugung freilich blieb er treu, und mehr noch als bisher suchte er sie zu verbreiten, besonders unter der akademischen Jugend zu Gießen. Dort hatte der einundzwanzigjährige Student der Philosophie und Naturwissenschaften Georg Büchner, ein Dichter, dem erst fast hundert Jahre nach seinem Tode der Lorbeer zu grünen beginnt, die geheime »Gesellschaft der Menschenrechte« gegründet, deren Ziel war, mit Hilfe nicht des satten liberalen Bürgertums, sondern der darbenden, durch die Jahrhunderte enterbten und entrechteten Masse des Volkes die monarchische Staatsform durch die demokratische zu ersetzen. Züchteten diese deutschen Monarchen, der Preußische an der Spitze, nicht selber den Umsturz, indem sie durch knechtische und grausame Beamte der Polizei und Inquisition auch das besonnene freie Wort verfolgten und ihre durch das deutsche Volk von der Fremdherrschaft befreiten Staaten zu Kleinkinderbewahranstalten zu machen versuchten? Weidig, der schon einige Nummern des »Leuchters und Beleuchters für Hessen oder der Hessen Notwehr« herausgegeben und verbreitet hatte, war mit Büchner in Verbindung getreten und hatte dessen Manuskript »Der Landbote« überarbeitet, besonders aber dem darin Ausgesprochenen zahlreiche Beweise und Kraftstellen aus der Bibel hinzugefügt. Glühende Leidenschaft spricht aus diesen Blättern: Gott werde dem Volke Kraft geben, die Füße seiner Tyrannen zu zerschmeißen, sobald es sich bekehre und die Wahrheit erkenne, daß eine Obrigkeit, die Gewalt, aber kein Recht über ein Volk habe, nur so von Gott stamme, wie der Teufel auch, und daß der Gehorsam gegen eine solche Teufelsobrigkeit nur so lange gelte, bis ihre Teufelsgewalt gebrochen werden könne; daß der Gott, der ein Volk durch eine Sprache zu einem Leibe vereinigt habe, die Gewaltigen, die es zerfleischen und vierteilen oder gar in dreißig Stücke zerreißen, als Volksmörder und Tyrannen hier zeitlich und dort ewiglich strafen werde. – Und nach einer Schilderung der elenden Lage der hessischen Bauern heißt es: »Das alles duldet ihr, weil Schurken euch sagen, diese Regierung sei von Gott. Diese Regierung ist nicht von Gott, sondern vom Vater der Lügen. Diese deutschen Fürsten sind keine rechtmäßige Obrigkeit; den deutschen Kaiser, der vormals vom Volke frei gewählt wurde, haben sie seit Jahrhunderten verachtet und endlich gar verraten. Aus Verrat und Meineid und nicht aus der Wahl des Volkes ist die Gewalt der deutschen Fürsten hervorgegangen und darum ist ihr Wesen und Tun von Gott verflucht; ihre Weisheit ist Trug, ihre Gerechtigkeit Schinderei. Sie zertreten das Land und zerschlagen die Person des Elenden.«
In der frühen Dämmerung eines Novembernachmittages, als Johannes soeben in den Botanischen Garten eingetreten war, in dessen Einsamkeit er nach seiner Gewohnheit ein wenig spazierengehen wollte, sah er sich von einem stattlichen Herrn eingeholt, der als Pfarrer Weidig von Obergleen sich vorstellte und versicherte, seine Bekanntschaft machen zu müssen. Jeder von ihnen habe durch Büchner schon vom andern gehört und jeder wisse vom andern, daß er, wenn auch nicht seine politischen Ansichten, so doch die Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen in Deutschland und den ehrlichen Wunsch nach ihrer Verbesserung teile. Nun meine er, der Pfarrer, wenn zwei aufrechte und unbefangene Männer ihre vaterländischen Gedanken aufeinanderplatzen ließen, müsse der göttliche Funke der Wahrheit herausspringen. Und schon begann er leidenschaftlich und eindringlich, dem andern seine Überzeugung von der Notwendigkeit und den Zielen eines gewaltsamen Umsturzes darzutun. – Johannes hatte seine Freude an der Wärme und Aufrichtigkeit des Mannes, der so befangen sich für unbefangen hielt. Er hörte ihm gerne zu, und wenn er voraussah, daß er den Fanatiker so wenig bekehren werde, wie dieser ihn, so war es ihm doch nicht unerwünscht, die eigenen Sorgen und Hoffnungen einmal im Zusammenhang auszusprechen und an denen des andern nachzuprüfen: ja, der deutsche Bund laste auf Deutschland wie die Heilige Allianz auf Europa, und die kleinstaatlichen Serenissimi seien ebenso vom Übel wie in Preußen die absolutistischen Neigungen, die durch Rußland, und wie in den süddeutschen Staaten die »liberalen« Verfassungen, die durch Frankreich sich zu stärken suchten. Aber für eine Republik, die auch er für die würdigste Staatsform halte, seien die Deutschen nicht reif, solange Uneinigkeit, Eigennutz und Bedientenhaftigkeit zu ihren bezeichnendsten Eigenschaften gehörten. Der Fortschritt müsse von innen nach außen einsetzen. Und da nun, was zu überwinden sei, mehr mit dem Verstande als mit dem Gemüt überwunden werden müsse, so setze er seine Hoffnung auf Preußen, wo trotz allem die Intelligenz am stärksten entwickelt sei, und auch am meisten zu ihrer Verbreitung geschehe. So wenig aber der Fortschritt auf die Dauer durch äußere Gewalt sich hemmen lasse, so wenig lasse er ungestraft durch solche sich beschleunigen. Aus eigener erstarkender Kraft müssee die Masse sich den Fortschritt genau in dem Maße, in dem sie ihn ersehne und gebrauchen könne, Schritt vor Schritt erkämpfen. Durch Gewalttat, zu der man sie aufreize, lasse sich nur der rasch verfliegende Schein der Freiheit gewinnen, einer Freiheit, mit der das Volk nichts anzufangen wissen würde, weil es nicht dazu erzogen, noch gereift sei. Der Pfarrer möge doch bedenken, daß auch das Reich Gottes, wie die Heilige Schrift bezeuge, nicht mit äußeren Gebärden komme, sondern inwendig in den Menschen sich zu entfalten beginne, daß auch sein Weiden und Wachsen nicht durch Gewalt und Paragraphen hervorgerufen oder gefördert werden könne. – Aber es heiße doch, entgegnete Weidig, daß die Stürmer und Dränger das Reich Gottes an sich rissen, und bevor man nicht ein wenig am Baum geschüttelt habe, könne man nicht wissen, ob der Apfel schon reif sei oder noch nicht. – Nein, sagte Johannes, sobald die Deutschen besserer Zustände und Regierungen wert würden, würden die gegenwärtigen in sich selbst zusammenbrechen... So verhandelten sie lange, ohne einander zu überzeugen, zuerst im Botanischen Garten, dann im Schein der wenigen Öllaternen den Seltersweg, an dem Johannes wohnte, ein paarmal auf und ab schreitend. Daß ihnen dabei ein Mann bald nachbald voranging, und daß dieser Unbekannte ihn mehrmals scharf ansah, das kam Johannes erst zu Bewußtsein, als er sehr viel später einmal an diesen Abend erinnert ward.
Schon im August war ein Gießener Student verhaftet worden, der den »Landboten« verbreitet hatte, aber die Untersuchung belastete Büchner und Weidig nicht so stark, daß man ihnen den Prozeß hätte machen können. Erst im April 1835 legte ein andrer Student ein Geständnis ab, auf das hin man den Pfarrer von Obergleen alsbald in Haft nahm, Büchner, der im Winter in seinem Elternhaus zu Darmstadt in beständiger Furcht vor der Verhaftung sein Revolutionsdrama »Dantons Tod« geschrieben hatte, war zu seinem Glück im Ausland in Sicherheit: Er studierte jetzt in Straßburg Philosophie und vergleichende Anatomie. Johannes Wolf aber hatte sich vor dem Disziplinargericht der Gießener Universität zu verantworten, was ihm, dem die Königlich Preußische Regierung zu Düsseldorf das Zeugnis loyalster Gesinnung ausstellte, auch ganz leidlich gelang. Er hielt sich aber in Fühlung mit dem Weidigschen Kreise, weil er am ferneren Ergehen des revolutionären Pfarrers herzlichen Anteil nahm.
Nachdem Weidig ein paar Monate im Gefängnis zu Friedberg gesessen, ward er in das Arresthaus zu Darmstadt gebracht. Mit der Leitung des Verfahrens gegen ihn ward der Hofgerichtsrat Georgi betraut, den für seinen persönlichen Feind zu halten der Angeklagte allen Grund zu haben glaubte. Aber seine Versuche, jenen wegen Befangenheit abzulehnen und einen andern Richter zu erhalten, mißlangen.
Der hartnäckig und trotzig alles leugnete und, was sich gar nicht leugnen ließ, mit allen Künsten der Verstellung ins Harmlose umzudeuteln suchte – war das wirklich der kampffrohe Verfechter ewiger Menschenrechte? War das wirklich der Pfarrer mit dem zarten Gewissen, der vor kurzem erst, als er eine Bäuerin seiner Gemeinde über die Heiligkeit des Eides belehren mußte, aus eigner Tasche das Geld bezahlt hatte, das einem Juden nicht schuldig zu sein jene, wie er glaubte leichtfertig, zu schwören Willens gewesen war? Ja, einer Regierung gegenüber, die nach seiner Überzeugung nur auf den Teufel, den Vater der Lügner, sich stützte, hielt der Verblendete jedes Mittel, auch Lug und Trug und Verstellung für erlaubt und geboten.
Monat auf Monat verging ohne Ergebnis. Der Hofgerichtsrat Georgi war in Verzweiflung. So hatte noch kein Verbrecher seiner inquisitorischen Künste gespottet! Es war eben doch ein Unterschied, ob man einen Analphabeten zum gewünschten Geständnis zu bringen hatte oder einen Akademiker, Er wandte die schärfsten Mittel an, die das Gesetz ihm erlaubte: er ließ den Gefangenen mit Kugeln beschwerte Ketten schleppen, er ließ ihn wie einen bösen Hund an die Kette legen, er ließ ihn an die Zellenwand anschließen, er stellte ihm Farrenschwanzhiebe in Aussicht. Alles vergeblich! Und dabei versagte sein Präsident ihm noch die Erlaubnis, den Verstockten tatsächlich prügeln zu lassen, weil der Arzt dagegen war!
Jetzt beschloß Georgi einen anderen Weg zu versuchen. Er stellte die Verhöre gänzlich ein und überließ den Gefangenen sich selbst, um inzwischen allenthalben nach Beweisen zu fahnden, unter deren Menge und Schwere jener dann später zusammenbrechen sollte.