Wilhelm Langewiesche
Wolfs Geschichten um ein Bürgerhaus -- Erstes Buch: Im Schatten Napoleons
Wilhelm Langewiesche

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Frau van Bornevelde unterbrach ihre Erzählung. Die Sonne war jetzt ganz entschwunden, aber sie hatte den Himmel in einer unbeschreiblichen Pracht zurückgelassen und die beiden Frauen sahen in Ergriffenheit hinaus, die eine Kräfte sammelnd für das Schrecklichste, das sie noch auszusprechen hatte, die andere in diesem erlöschenden Leben, das ein erstes und letztes Mal vor ihr sich aufrollte, die unendlichen Schmerzen der zwischen Licht und Finsternis kreisenden Erde in starkem Mitleiden umfassend.

Sie komme nun zu der qualvollsten Erfahrung ihres Lebens, fuhr die Kranke in ihrer Erzählung endlich fort, das sei die immer tiefere Entfremdung zwischen ihr und den heranwachsenden Zwillingen gewesen. Anfangs hätte sie sich eingeredet, ein Kinderherz sei weich wie Wachs, und mit Festigkeit und Liebe könne sie alles Gute hineinprägen. Sie habe sich aber bald überzeugen müssen, daß eine geheimnisvolle Naturkraft von innen heraus solchen Eindrücken nur allzu wirksam entgegenarbeite und das eigentliche Wesen des Kindes nach ihrem eigenen strengen Gesetz bilde. Da sei ihr der Gedanke an einen Gärtner trostreich geworden, der ja, wenn er auch die große Entscheidung der Natur überlassen müsse, doch mit Einsicht und Treue viel Gutes fördern, viel Schlechtes hindern könne. Aber auch in solcher Bemühung und Fürsorge habe sie von Jahr zu Jahr sich immer mehr bescheiden, immer mehr mütterliche Hoffnungen begraben müssen. – Als ihrem eigenen Wesen besonders fremd habe sie eine gewisse Schäbigkeit der Gesinnung empfunden, die die Zwillinge, so oft es sich um ihr kleines Mein und Dein gehandelt, an den Tag gelegt hätten. Aber was ihr Mutterherz am meisten beunruhigt und bekümmert hätte, sei die mit den Jahren zunehmende Grausamkeit der Knaben gewesen, eine wahrhaft teuflische Freude, mit der sie Tiere und Malaienkinder gequält hätten. Bis in ihre Träume hinein hätten einzelne solcher schrecklichen Vorfälle sie verfolgt, so daß sie oft in Angstschweiß und Tränen erwacht sei. Und deutlich erinnere sie sich noch der Nacht, da sie nach solchem Traum schlaflos geblieben und plötzlich der Gedanke an die Tat, die sie später ausgeführt, vor ihre Seele getreten sei.

Wieder schwieg Frau van Bornevelde und die Kommerzienrätin sah durch die Dämmerung, die das Antlitz der Sterbenden überschattete, in den weitgeöffneten Augen den letzten roten Streifen des Abendhimmels sich seltsam widerspiegeln. Behutsam suchte sie auf der Decke die heiße Rechte und nahm sie in ihre beiden Hände und bedachte im Herzen, daß es nur eine kurze Spanne Zeit sei, bis auch diesen die Lebensarbeit entgleiten werde.

Und Frau van Bornevelde erzählte weiter: Nach der Ermordung des Rittmeisters und Hinrichtung des hierzu angestifteten Malaien habe die Ahnung sie keinen Augenblick mehr verlassen, daß eine Rache und schreckliche Lebenswendung sich vorbereite. Ein Ungeheures habe auf ihr gelastet und ihr den Atem benommen, und so oft sie später an diese Monate zurückgedacht, habe sie nie verstanden, daß sie sie hätte überleben können, so voll Grauen sei ihre Seele gewesen. – Und dann in einer traumhaft schönen Nacht, während sie schlummerlos auf das Sternbild des Orion geblickt, wohl auch zu beten versucht hätte – da habe sie im Nebenzimmer, wo die Knaben schliefen, ganz, ganz leise Schritte gehört. Ihr Mann, der auch noch wach gewesen sei, von ihr aber angenommen hätte, daß sie schlafe, habe sein Jagdgewehr ergriffen und sich an die offene Tür geschlichen. Sie habe noch gesehen, daß er angelegt, aber als der Schuß losgegangen, sei sie ohnmächtig geworden. Als sie endlich wieder zu sich gekommen, habe Antje sich um sie bemüht und zögernd ihr berichtet, Mynheer habe einen Aussätzigen erschossen, der an den Betten der Knaben sich zu schaffen gemacht hätte, und überwache jetzt das heiße Bad, das er für diese befohlen. Sofort habe sie gewußt, daß das vergeblich sein und daß nichts den Ausbruch der entsetzlichen Krankheit verhüten werde. Und sofort auch sei der Gedanke jener Nacht wieder vor ihre Seele getreten, diesmal aber fast wesenhaft, ein Bote und unabänderlicher Befehl des Schicksals. – Als nach kurzer Zeit die ersten untrüglichen Anzeichen des Aussatzes bei den Knaben sich eingestellt, habe sie ein Gift in den Reis der gemeinsamen Mittagsmahlzeit gemischt. – Ihr Mann und die Zwillinge wären daran gestorben und längst begraben gewesen, als sie nach schwerer Erkrankung mit Schrecken sich selber habe genesen sehen.

Frau van Bornevelde schwieg, und als die Kommerzienrätin empfand, daß sie nichts mehr hinzusetzen werde, erhob sie sich und reichte ihr mit festem Druck zum Abschied beide Hände. Sie halte dafür, sagte sie, daß das Leben die am weitesten führe, an die es die schwersten Forderungen stelle, und daß der Leidgesegnete, der ein ungeheures Schicksal bestanden habe, zu beneiden sei. Ihr selber bange zuweilen davor, das Leben, das bisher ihr allzu freundlich sich erwiesen habe, einst mit einem etwas faden Geschmack auf der Zunge beenden müsse. Nun könne ja keiner seinen Weg sich aussuchen, wohl aber seinen Helden, und wenn auch von ihr einmal ein übermenschlicher Entschluß gefordert werden sollte, so hoffe sie, daß unter den guten Kräften, ihn zu fassen und durchzuführen, auch die Erinnerung an den heutigen Abend sein werde. Jetzt aber wolle sie die Freundin der treuen Antje und dem Schlummer nicht länger vorenthalten. Morgen nachmittag werde sie wiederkommen und dann wollten sie von freundlicheren Dingen sprechen.

Seit dieser Beichte glaubte Frau Anna die Antwort auf die Frage zu wissen, die schon so oft sie beschäftigt hatte: Ob der Mensch wirklich die Pflicht habe, jedes einzelne Leben, es sei auch wie es sei, nach Möglichkeit zu erhalten, oder ob es eine höhere und schwerere Pflicht gebe, in zahlreichen Fällen das einzelne Leben zu vernichten – zu seinem eigenen Besten und zu dem der Gesamtheit. Und sie bedachte, um wieviel froher und reicher die Menschheit sein werde, wenn diese Antwort dereinst, in ihr Sittengesetz und in ihre Gesetzbücher aufgenommen, ihr Handeln bestimmen dürfe. Wenn das Töten nicht mehr nur als Ultimo ratio des Willens zur Vernichtung, sondern, durch einstimmigen Beschluß mehrerer gegen Irrtum und Beeinflussung gesicherter Instanzen angeordnet, auch als ultima ratio des Willens zum Leben gelte. Wenn Liebe zweckloses Leben, sinnloses Leiden, endloses Sterben enden und alle Kraft und Gesundheit in den Dienst der Kraft und Gesundheit stellen dürfe.

Doktor Latscherts Voraussage, daß Frau van Bornevelde sterben würde, bevor die Blätter von den Bäumen fielen, bewahrheitete sich; in der Frühe des ersten Septembersonntags ging Antje ihren Tod ansagen, indessen Mynheer van den Bleek auf dem Dachreiter das weiße Fähnlein hißte, den Freunden auf Schloß Dyck die Todesbotschaft hinüberzuwehen. Am Dienstag ward der schlichte Sarg in der fürstlichen Gruft zu Sankt Nikolas, dem Kirchdorf der Herrschaft Dyck, vorläufig beigesetzt. Und Anfang Oktober standen eines frühen Morgens die vier altmodischen holländischen Reisewagen mit müden Gäulen vor Haus Duynberg, um einige Tage später mit ihrer teils lebendigen, teils in Körbe, Kisten und Bündel verpackten Fracht der holländischen Grenze wieder zuzurumpeln. Ihnen folgte, bekränzt und trauerflorumweht, ein Leiterwagen mit dem Sarg. Zu dessen Häupten saß der Kutscher, zu seinen Füßen aber Mynheer van den Bleek, der Hauslehrer. Aus seinen freundlichen Kinderaugen blickte er, das Herz voll brennender Trauer, gedankenvoll in die Weite. Und die beiden Braunen, die den kommerzienrätlichen Wagen zogen, fühlten sich durch sein unaufhörliches Mienenspiel so wenig beunruhigt, wie es ihn beunruhigte, wenn zuweilen eines der nickenden Pferdehäupter gedankenlos nach seiner Hose schnappte. Denn Friedrich Wilhelm und Frau Anna hatten beschlossen, die landrätliche Vorschrift, daß die Leiche bis zur Grenze von einem preußischen Untertan geleitet werden müsse, persönlich zu erfüllen. So fuhren sie an Monsieurs Jagdgründen vorüber, Erinnerungen an Fräulein Antoinette Jeanbon und Frau Cato van Bornevelde austauschend, und der alte Anton ahnte nicht, daß dies seine letzte Fahrt war, und daß, bevor noch die Blätter von den Bäumen fielen, Herr Schlüpjes ihm die endgültige Ruhestatt bereiten sollte.

Am Silvesterabend des Jahres 1840, während die ballfähige Jugend der »Gesellschaft«, von den Müttern behütet, unter Singen, Spielen und Tanzen den großen Weihnachtsbaum plünderte, steckten im Unterhaltungszimmer nebenan die ältern Herren scharf politisierend die Köpfe zusammen. Es waren im Grunde nur wenige, die dabei selber das Wort ergriffen, nicht ohne vor solchem Unterfangen die lange Pfeife durch ein kräftiges Pppp anzufeuern; die meisten begnügten sich, zuzuhören und Mißbilligung oder Zustimmung durch kurze Zwischenrufe oder auch nur durch Kopfbewegungen kundzutun. Was hatte dieses Jahr aber auch nicht alles gebracht! Im Frühsommer den Tod des dritten und die Thronbesteigung des vierten Friedrich Wilhelm. Und dann fast einen Krieg mit Frankreich, wo Thiers gewaltig mit dem Säbel rasselte, als mit den andern Großmächten auch Preußen nicht dulden wollte, daß der Vizekönig von Ägypten aus der türkischen Oberhoheit in die französische überträte. Wie verheißungsvoll hatten übrigens diese gefährlichen Wochen die nationale Zusammengehörigkeit der Deutschen offenbart, denn auch außerhalb Preußens war der Zorn über die Anmaßung der Franzosen hell aufgeloht. Am handgreiflichsten im Königlichen Hof- und Nationaltheater zu München. Da hatte der Athlet Jean Dupuis, der als Deutschenschreck und Kostprobe franzmännischer Urkraft übern Rhein gekommen und in Kassel, Berlin und Dresden Sieger geblieben war, im Simerl vom Faberbräu seinen Meister gefunden. »Du Malefizfranzos, du damischer, di werd i mal richti schmeißn!« hatte der wackre Bierführer gemurmelt und den Gegner unter dem patriotischen Jubel des Hauses auf die weltbedeutenden Bretter gelegt, daß sie krachten.

Am meisten redete auch heute abend wieder und am kräftigsten Herr I. W. Latschert, ein Baumwollagent, der Bruder des Doktors. Er war Demokrat und beschränkte sich keineswegs darauf, solche Gesinnung durch seinen ungebändigten blonden Haar- und Bartwuchs zum Ausdruck zu bringen. Nein, er pflegte wirklich kein Blatt vor den Mund zu nehmen, und wenn man das englische Haus, das er vertrat, hätte entbehren können, so würde die »Gesellschaft« wohl nicht so duldsam gegen ihn gewesen sein. Übrigens hielt er auf »Bildung«, wie er auch den Majoritätsbeschluß durchgesetzt hatte, auf das neue Meyersche Konversationslexikon zu subskribieren, denn anfänglich waren wohl die meisten der Ansicht gewesen, der alte Brockhaus genüge vollkommen. Hierbei nun hatte ihn allerdings auch der Wunsch geleitet, zugleich mit den Fortschritten des Wissens die ausgesprochen neuzeitlich-liberale Gesinnung zu verbreiten, in der jene Enzyklopädie redigiert war. – Darin hatte er ja recht: beim Sterben Friedrich Wilhelms III. war tatsächlich ein allgemeines, erlöstes Aufatmen durchs Land gegangen, und darüber, ob der Verstorbene ausgerechnet ein »Heldenkönig« gewesen war, wie der Nachfolger ihn genannt hatte, darüber konnte man verschiedener Meinung sein. Aber daß Latschert jetzt von der allerhöchstseligen Majestät als von einem »schauderösen Übeltäter« sprach, der in allzu langer Mißregierung durch seine Dumpfheit und Schwäche ein aufstrebendes Kernvolk aufs jämmerlichste mißhandelt und geschädigt, und, während er mit seinem Generaladjutanten von Witzleben eine langatmige Agende gedichtet und den evangelischen Gemeinden aufgenötigt, gleichzeitig mit seinen Schergen unter der gebildeten Jugend wie ein Wüterich und Seelenmörder gehaust hätte – das ging denn doch zu weit! Es war ein lautes und entschiedenes, fast drohendes Murmeln des Unwillens, das solchen Worten folgte, indessen die Jugend nebenan das trutzige Lied anstimmte, das der Hilfsschreiber eines benachbarten Amtsgerichts diesen Sommer gedichtet hatte:

Sie sollen ihn nicht haben,
den freien deutschen Rhein,
ob sie wie gier'ge Raben
sich heiser darnach schrei'n ...

So hatte denn Pastor Kranevoß doppelten Grund zu zeigen, welcher durchdringenden Kraft seine Stimme fähig sei: »Herr Latschert, mäßigen Sie sich! Ich gebe Ihnen ohne weiteres zu, daß Gott den hochseligen König nicht mit außergewöhnlichen Kräften des Verstandes und des Willens gesegnet hatte, wie sie im Blick auf außergewöhnliche Epochen seiner Regierung gewiß erwünscht gewesen wären. Aber wie dürfen Sie ihm persönlich daraus einen Vorwurf machen? Ultra posse nemo obligatur! Das ist denn doch gerade so, wie wenn ich Ihnen vorwerfen wollte, daß Sie das Pulver nicht erfunden haben ... oder ... ich will besser sagen, daß Sie ... daß Sie die Baumwollpflanze in Deutschland zu akklimatisieren nicht verstehen!« Latschert lachte. »Nein, Herr Pastor! Das ist doch was andres! Das Pulver zu erfinden hat Ihnen, nicht mir, ein Amtsbruder von der andern Fakultät vorweggenommen, und meine Aufgabe ist Baumwolle importieren, nicht Baumwolle anpflanzen. Aber wenn einer von uns Kaufleuten oder Fabrikanten sein Geschäft so führte, wie Friedrich Wilhelm III. das seinige alle die langen Jahrzehnte hindurch geführt hat, ohne auch nur durch Schaden klug zu werden, der Mann machte in kurzer Zeit Bankrott und kein Mensch hätte Mitleid mit ihm. Und Sie, Herr Pastor, wären der Letzte, ihm aus den Gottesgaben geringer Einsicht und schwachen Willens mildernde Umstände zuzusprechen. Ich erinnere nur an unseren Freund Windemann, den schönen Oskar. – Nein, was zuviel ist, ist zuviel! Der Alte Fritz, ja das war ...«

»Nun, lieber Herr Latschert, so lassen Sie uns hoffen, daß Gott uns jetzt eine lange Reihe von Alten Fritzen schenken wird, wie wir ja auch alle gedacht hatten, der neue König würde sich Friedrich III. nennen.«

»Wo sollten die wohl herkommen? Der Alte Fritz war ja kinderlos! Nein, die königliche Begabung, die in ihm und im großen Kurfürsten, meinetwegen auch noch in seinem Vater lebendig war, die ist mit ihm gestorben. Das Haus Hohenzollern hat sich in Friedrich dem Großen verausgabt und erschöpft.«

»Aber, Herr Latschert, das ist eine kühne Prophezeiung, deren Eintreffen Gott in Gnaden verhüten wolle. Mir jedenfalls sollen Sie die Freude an unserem gegenwärtigen frommen und geistvollen König nicht beeinträchtigen, durch den Gott vielleicht noch große Dinge tun wird.« – »Jömmich ja! Dummes Zeuch!« warf der achtundachtzigjährige Jup Breskens ein, der jetzt den Ehrensessel des seligen Herrn Henricus ten Bompel bewohnte.

»Über die Frömmigkeit und die Geistesfülle des Königs habe ich kein Urteil,« erwiderte Latschert, »mir fehlt wohl das rechte Verständnis. Die Königliche Regierung hat voriges Jahr die Altlutheraner ihres Glaubens wegen aus ihrer schlesischen Heimat vertrieben. Als diese armen Auswanderer auf ihren Spreekähnen Berlin passierten, verbot die Zensur den Zeitungen, hiervon Notiz zu nehmen, damit im Volke keine Beunruhigung entstehe. Die Königliche Regierung hat voriges Jahr die ihres Glaubens wegen aus der Heimat vertriebenen protestantischen Zillertaler in Schlesien angesiedelt. Da flössen die Zeitungen über vom Lob der Königlich preußischen Toleranz. Ich weiß nicht, auf welche dieser beiden Fakta ich königlich preußische Frömmigkeit reimen soll. Doch das sind meinetwegen kirchenpolitische Interna und war ja auch noch unter dem alten Herrn, dem Agendendichter. Was aber den gegenwärtigen König betrifft, so habe ich ihm schon als Kronprinzen mißtraut, wenn die Leute ihn einen Hort des Liberalismus nannten. Genau das Gegenteil steckte immer in ihm. Er ist geistreich – geistreiche Monarchen sind immer gefährlich – er möchte durch Ungewöhnliches überraschen und wird das auch. Nur, daß dies Ungewöhnliche nicht erfreulich sein wird. Besonders dies viele Reden und dies ewige Betonen des Gottesgnadentums und des von Gott Erleuchtetseins läßt mich nichts Gutes hoffen. Das heißt doch schließlich für die eigenen Dummheiten Gott im voraus verantwortlich machen und grenzt an meinetwegen unbewußte Gotteslästerung.«

»Dummheiten? – mir scheint, bis jetzt hat der König noch keine gemacht! Oder meinen Sie etwa die Amnestie für politische Verbrecher?«–

»Die größte Dummheit, die je ein politischer Stümper fertiggebracht hat! Hat er nicht ohne jeden Anlaß und Gegengabe, allein aus dem Gefühl seiner Gottähnlichkeit heraus, Österreich den Bestand seines italienischen Besitzes garantiert? Wie mag Metternich geschmunzelt haben, als ihm diese gebratene Taube ins Maul flog!«

»Aber, was wollen Sie, wir Germanen müssen doch zusammenhalten, heute gegen die Romanen nicht weniger als vor Zeiten gegen die Hunnen. Es ist die alte Nibelungentreue ...«

»Die denen, die sie hielten, den Untergang brachte! So was ist meinetwegen sehr schön in Sage und Dichtung, aber nichts für die Politik. In Paris und London sprechen solche Sentimentalitäten nicht mit, von Petersburg gar nicht zu reden. Ist denn uns von Österreich schon jemals etwas Gutes gekommen? Gott weiß, was uns diese unsinnige Garantie noch kosten wird! Nein, Herr Pastor, da hätten andere Garantien näher gelegen. Wo sind die 1807 versprochenen »demokratischen Grundsätze in einer monarchischen Regierung«? Statt dessen ist der Deutsche Bund gekommen, diese Polizeiunternehmung gegen das nationale Leben, diese Assekuranz der Fürsten gegen die Völker. Und heute? Blickt der Bürger aus seinen vier Pfählen in das Gemeinwesen, so sieht er nichts als eine aufsteigende Beamtenhierarchie, die ihm jedes selbsttätige Eingreifen verbietet. – Nein! Dieser Mensch ist ein König von Gottes Ungnaden, sonst hätte er auf den richtigen Weg eingelenkt...«

»Aber, Herr Latschert, so warten Sie doch erst ab! Ich meine ...«

»Da ist nichts abzuwarten. Gottes Gnade ist bei den Einfältigen und Klaren, bei den Entschiedenen – kalt oder warm – die wissen, was sie wollen. Nicht bei den Verworrenen und Schwankenden. Wenn in unsern Tagen ein König von Preußen sich einbildet, er könne zugleich die deutschen Hoffnungen und die Ziele der Heiligen Allianz erfüllen, dann ist Gottes Gnade nicht in ihm. Nein, Herr Pastor, von diesem Romantiker ist kein Heil zu erwarten, für Deutschland nicht und für Preußen nicht und für die dreizehntausend politischen Flüchtlinge, die jetzt heimatlos in der Welt umherirren, auch nicht – dreizehntausend Märtyrer, Herr Pastor, und die besten Köpfe und die stärksten Herzen sind darunter! Diese Unsumme von Jammer und Not, zerstörten Leben und unwiederbringlichen Verlusten kann keine Amnestie wieder ausgleichen. Nein, wir gehen schweren Zeiten entgegen bis das souveräne Volk ...«

»Schweren oder leichten, Herr Latschert, wie Gott sie gibt, der die Geschicke der Völker nach seiner Weisheit leitet und der auch unsern frommen König und seine Entschließungen leiten wird.«

»Ja, durch den Hofprediger Strauß meinetwegen, der ja jetzt allmächtig ist, nachdem er im Anfang so knechtselig war, daß er glaubte, bei Hofe jedem Grafen die Hand küssen zu müssen ...«

»Gott wählt seine Werkzeuge nicht nach unsrem ...«

Jetzt aber kam, pfiffig lächelnd, der dicke und asthmatische Herr Paul van Overaad seinem Freunde Latschert unerwartet zu Hilfe, indem er schnaufend einwarf, daß es Gott sei, der sich eines solchen Werkzeuges bedienen werde, könne der Pastor ernstlich doch selber nicht glauben. Es sei noch kein Jahr her, da habe er, der Pastor, ihnen hier an diesem Tische auseinandergesetzt, daß dieser Strauß ein ganz entarteter Theologe und problematisches Individuum und daß sein Buch vom Leben Jesu ein oberflächliches und gottloses Machwerk sei. Ja, daß darin für den nicht theologisch geschulten Leser überzeugend, in schöner Sprache und betörender Geistreichelei der Nachweis geführt werde, Jesus Christus sei gar nicht Gottes Sohn gewesen, sondern ein Mensch wie jeder andere auch ... »Jömmich ja! Dummes Zeuch!« meinte der alte Jup Breskens, aber Herr van Overaad war noch nicht fertig: die Hegelsche Philosophie – so habe der Herr Pastor gesagt – habe in Strauß einen Triumph gefeiert, ähnlich dem des Satans, als er in den Judas fuhr, mithin könne er heute nicht denselben Strauß als Gottes Werkzeug in Anspruch nehmen.

Der Pastor lächelte überlegen: Strauß und Strauß sei eben ein Unterschied. Der fromme und einflußreiche Hofprediger heiße Gerhard Friedrich und stamme aus Westfalen, während jener Vorläufer des Antichrists David Friedrich heiße und ein Schwabe, übrigens noch nicht vierzig Jahre alt sei, so daß man hoffen dürfe, er werde noch zu Verstande kommen und seine Irrtümer einsehen und bereuen, ja vielleicht noch aus einem Saulus zu einem Paulus werden.

Wir winden dir den Jungfernkranz
mit veilchenblauer Seide.
Wir führen dich zu Spiel und Tanz,
zu Glück und Liebesfreude ...

begann das junge Volk im Saal nebenan. Da vergaßen die Herren der Politik und summten das liebe Liedchen mit. Und dann verhinderte das Eintreten des Kommerzienrats Friedrich Wilhelm Wolf die Wiederaufnahme des Streites. Sein freundliches, offnes Gesicht zeigte heute einen besonders beglückten Ausdruck. Nachdem er die Herren einzeln begrüßt und mit jedem ein paar Worte gewechselt, ließ er sich behaglich in der für ihn freigehaltenen Ecke des schwarzen Wachstuchsofas nieder, schenkte sich ein Glas Wein ein, bat seinen Nachbar um Feuer und berichtete: er komme so spät, weil ihm die Post am Abend erst zwei merkwürdige Briefe gebracht habe, deren Inhalt übrigens, wie er denke, die Herren interessieren werde. »Daß ich's nicht vergesse, Latschert,« unterbrach er sich, »meine Pina ist glücklich über die englischen Freimarken, die Sie ihr geschenkt haben. Auch ich danke Ihnen bestens. Das ist wirklich eine geniale Erfindung, die einem viele Umständlichkeiten ersparen wird. Das Ei des Kolumbus. Sie sollen sehen, bald gibt es keinen Staat mehr ohne solche Freimarken, da wird dann hoffentlich mein Vetter in Hamburg für die Pina sorgen, daß sie mit der Zeit eine ganze Sammlung von solchen netten Dingern zusammenkriegt.«

»Jömmich ja! Dummes Zeug!« urteilte der alte Breskens, aber das allgemeine Urteil der kleinen Tafelrunde bestätigte solche Negierung keineswegs, wenn man auch der Ansicht war, die Hauptsache sei und bleibe, daß das Porto billiger würde. Von der neuen Erfindung kam man auf den Generalpostmeister Nagler zu sprechen, der sie wohl bald einführen werde, wie er ja überhaupt in den letzten fünfundzwanzig Jahren das preußische Postwesen auf eine schöne Höhe gehoben habe, was in Anbetracht der unter Einen Hut zu bringenden fünfzehn verschiedenen deutschen Postunternehmungen doch gewiß äußerst schwierig gewesen sei. Ja, meinte einer der Herren, aber das Beste seien doch diese neuen Naglerschen Schnellposten, mit denen man jetzt in drei Tagen und vier Nächten von Berlin nach Köln reisen könne. Mit einer Eisenbahn würde man freilich wohl weniger als die Hälfte brauchen ... Daß Herr von Nagler der Eisenbahn, der doch die Zukunft, auch die der Post, gehöre, so ablehnend gegenüberstehe, sei freilich sehr bedauerlich. Hier nun steuerte Herr van Overaad ein Geschichtchen bei, das er in Dresden gehört haben wollte – aus bester Quelle – und das allgemeine Heiterkeit auslöste: Herr von Nagler habe gegen den Bau der Eisenbahn Berlin-Potsdam geltend gemacht, daß die Diligence, die er wöchentlich viermal fahren lasse, nur ganz selten voll besetzt und es ihm mithin unerfindlich sei, woher man für täglich vier Züge die Reisenden nehmen wolle. Herr Latschert, der heute seinen bösen Tag haben mochte, sagte, man könne nur hoffen, daß ein so rückständiger Beamter bald in den Ruhestand geschickt werde, wozu ja auch wohl einige Aussicht sei, weil Nagler beim alten König persona gratissima gewesen und es in Preußen nicht der Brauch sei, daß mit der Krone auch die besondere Vorliebe für einzelne Beamte sich vererbe. Außerdem sei der Herr von Nagler zu alt. Aber nichts sei mehr zu wünschen, als daß sein Nachfolger mit dem niederträchtigen System der Briefspionage breche, zu dem Nagler sich von Metternich habe verführen lassen, und daß es ihm gelinge, die Achtung vor dem Briefgeheimnis wieder herzustellen. Die Post sei doch wahrhaftig nicht dazu da, die Gesinnung derer zu überwachen, die ihr Briefe anvertrauten, oder der politischen Polizei zu dienen, sondern sie habe lediglich Handel und Wandel zu fördern und den Gedankenaustausch zu erleichtern. In den Kreisen der Postbeamten selber herrsche, bestätigte Herr van Overaad, Erbitterung darüber, daß das Naglersche System sie zu Demagogenriechern stemple. Ein alter Postdirektor habe ihm übrigens letzten Sommer in Karlsbad mit posttechnischen Ausdrücken den in dieser Hinsicht zwischen Preußen und Österreich bestehenden Unterschied klargemacht: In Preußen perlustriere man die Briefe bloß, das heiße, man durchmustre und prüfe sie, wahrend man sie in Österreich interzipiere, auf deutsch: unterschlage und stehle. Am weitesten sei man in Rußland: der Großfürst Konstantin habe sich Naglern gegenüber gerühmt, in dreiunddreißig Lederbänden eine erlesene Sammlung interzipierter Briefe zu besitzen, die ihm jederzeit eine ebenso interessante wie unerschöpfliche Lektüre biete. Dieser Großfürst habe auch sonst merkwürdige Passionen, so mache er sich ein besonderes Vergnügen daraus, mit lebenden Ratten geladene Kanonen abzufeuern ... Das Gespräch blieb jetzt eine Zeitlang beim Ausland, und in seinem weiteren Verlauf meinte der Kommerzienrat, es sei doch erstaunlich, wie abhängig wir überall von den Franzosen wären! Da hätte er soeben, noch auf der Straße, von weitem schon die jungen Leute nebenan das neue Rheinlied singen hören, das ja nun die deutsche Marseillaise genannt werde. So müßten wir die Franzosen kopieren, selbst wenn wir ihnen Trutz bieten wollten ...

Ja, sagte Herr Latschert, und während die Franzosen sich mit einer Marseillaise begnügten, hätten wir Deutschen sofort wieder ein halbes Dutzend. Die sogenannte Berlinoise zum Beispiel singe:

Wir wollen ihn nicht haben,
den Herrn von Haß und Fluch,
den eine Schar von Raben
ins Nest des Aaren trug ...

Aber nun hätten wir ihn doch, diesen famosen Herrn von Hassenpflug, und Obertribunalsrat werde er auch wohl nicht bleiben, sondern bald als Minister in Preußen versuchen, was er in Hessen versucht hätte: »die liberale Strömung in das alte Bett des Gehorsams zurückzudämmen.« Die Hessen könnten sich freuen, daß sie ihn los wären. Übrigens werde Hassenpflug, der fest an Hexen glaube, gewiß auch die Hexenverbrennung wieder einführen.

Ja, das Mittelalter scheine überhaupt Trumpf zu werden, warf Herr von Overaad ein. Ihm wenigstens gebe diese schauderhafte Judenverfolgung in Damaskus zu denken. Nebenbei sei es doch höchst merkwürdig: Anfang Februar verschwindet in Damaskus der alte Pater Thomas und die dortige Judenschaft wird beschuldigt, ihn ermordet zu haben, um mit seinem Blut ihre österlichen Brote zu backen. Und Anfang März behauptet am preußischen Niederrhein ein kleines Mädchen, von einem Juden angestochen worden zu sein, der außerdem auch noch einen alten Mann ermordet haben soll. Hätte man in Jülich den armen Juden so fürchterlich gefoltert wie seine Volksgenossen in Damaskus, wer könne wissen, was er alles bekannt hätte! Während doch jetzt die Untersuchung sofort ergeben habe, daß jenes Kind gänzlich unbeschädigt sei und der alte Mann sich nach wie vor unangefochten des besten Wohlseins erfreue. So würde auch in Damaskus eine vernünftige Untersuchung die Unschuld der Juden wahrscheinlich sehr rasch erwiesen haben, während die Sache sich jetzt dank der schändlichen, fanatischen Parteilichkeit des französischen Konsuls zu einem internationalen Skandal ausgewachsen und den Ruf der Franzosen als eines Kulturvolkes schwer geschädigt habe ... Zu denken gebe auch das Zusammenhalten und die Macht der reichen Judenheit in der ganzen Welt, die so einmütig und so erfolgreich für die Unglücklichen von Damaskus eingetreten sei. Dieser immer und überall wieder auftauchende abgeschmackte Wahnwitz aber: die Juden brauchten zu rituellen Zwecken Christenblut, beweise nur, daß eine Lüge nicht zur Wahrheit werde, auch wenn man sie noch so oft wiederhole. Um aber auf den freien deutschen Rhein zurückzukommen, fuhr Herr Latschert fort, so hätten die Franzosen immerhin bei Straßburg leider Gottes längst schon ein hübsches Stück davon und die Schweizer und Holländer könne man auch nicht als Deutsche ansprechen. Und frei dürfe man den Rhein erst recht nicht nennen – schon wegen der vielen Zölle. Nein, frei nicht, aber vogelfrei, meinte Herr van Overaad, wenigstens scheine der hessische Minister du Thil ihn dafür zu halten. Denn er wisse jetzt zuverlässig, daß der Herr Minister selber der Reeder der hundert großen Kähne gewesen sei, die in Mainz mit Steinen, angeblich für Köln, beladen, in dunkler Regennacht rheinabwärts treibend, vor Bieberich dicht am Ufer ihrer Fracht sich entleert hätten, um den Nassauern den geplanten Freihafen zu verleiden, der dem Mainzer eine unerwünschte Konkurrenz gemacht haben würde ...

Nun kam der Kommerzienrat auf die beiden Briefe zurück und erzählte: Der eine sei aus Paris von Fräulein Antoinette Jeanbon St. André gewesen, deren sich die Herren wohl noch erinnerten. Nebenbeibemerkt sei es doch ganz unbegreiflich, daß sich von Monsieur trotz allem Suchen der beiden Familien und der Behörden nicht die kleinste Spur gefunden habe. – Fräulein Antoinette nun habe ihm heute geschrieben, daß sie beabsichtige, nachdem Haus Duynberg durch den Tod der Frau van Bornevelde von neuem wieder verwaist sei, das Anwesen der Stadt zu schenken, vorausgesetzt, daß sie sich mit dieser über seine Verwendung einigen könne. Es solle einem gemeinnützigen Zweck dienen und zugleich die Erinnerung an ihren Vater wachhalten. Er wolle das, meinte der Kommerzienrat, in einer der nächsten Sitzungen des Gemeinderats in aller Form zur Sprache bringen, bitte aber die Herren schon heute, einiges Nachdenken an diese Frage zu wenden, damit man rasch zu einer glücklichen Lösung komme. – Sehr merkwürdig habe ihn übrigens eine Stelle in dem Briefe des Fräuleins berührt, die zeige, daß die Tochter Monsieurs Interesse für Politik geerbt habe. Antoinette habe von der Beisetzung Napoleons erzählt und hinzugefügt, sie halte dafür, daß der tote Napoleon auf St. Helena ungefährlicher gewesen wäre als im Invalidendom zu Paris, und daß in seinem Neffen mehr stecke als man denke. Dabei habe ihn das Fräulein auf ein höchst merkwürdiges Spiel des Zufalls aufmerksam gemacht: am 15. Oktober dieses Jahres sei in Paris auf Louis Philippe geschossen, in Berlin dem vierten Friedrich Wilhelm gehuldigt und auf Sankt Helena die Leiche Napoleons ausgegraben worden.

Vor allem merkwürdig aber sei ihm in dem Brief der Französin diese Betrachtung gewesen: Europa lebe gegenwärtig noch ganz im Schatten Napoleons, der ihm das Licht verdunkele, das mit der großen Revolution über den Völkern habe aufgehen wollen. Und sie halte dafür, daß in erster Linie Preußen zu einer verhängnisvollen Nachfolge Napoleons bestimmt sei. Denn ein Wesentliches an Napoleon sei doch dieses, daß er, der Sohn und Erbe der Revolution, deren berühmtes Dekret vom 22. Mai 1790, wonach Frankreich allen auf Eroberung und Vergewaltigung zielenden Kriegen entsage, schon als General und erst recht als Kaiser in den Wind geschlagen und ganz Europa bekriegt habe, anstatt es nach der Absicht Grégoires und Robespierres zu einem Völkerbund zusammenzuschließen. Damit habe er dem Jahrhundert den blutigen Weg gewiesen, den, wie ihr scheine, kein Staat so folgerichtig und energisch zu beschreiten sich anschicke wie Preußen, dieses »Volk in Waffen«. Wie ja auch auf andern Gebieten des öftern schon der französische Elan für die deutsche Gründlichkeit eine Tür aufgestoßen habe. Wohin Preußen jener Weg führen werde, sei schwer vorauszusagen, aber daß auch der Neffe des Kaisers, wenn er seine ehrgeizigen Ziele erreiche, denselben Weg des nationalen Egoismus gehen werde, sei ihr nicht zweifelhaft. – Fräulein Antoinette Jeanbon habe ihm auch ihr Bild geschickt, das auf diese neue, in Frankreich erfundene Manier lediglich mit Hilfe des Lichtes hergestellt sei, also wohl zuverlässiger der Wirklichkeit entspreche, als wenn Künstlerhand es gezeichnet hätte; zum mindesten aber scheine die Natur nicht gerade zu schmeicheln. Und er entnahm seiner Brieftasche eine kleine Glasplatte, darunter, von zierlichen Goldarabesken eingerahmt, ein dunkles Damenbildnis zu sehen war. Das seltsame Gebilde ging, geziemend angestaunt, von Hand zu Hand, und Pastor Kranevoß, der sich auf Frauen verstand, meinte, das Fräulein habe sich außerordentlich gut konserviert, auf welche Bemerkung der alte Jup Breskens sein »Jömmich ja! Dummes Zeuch!« folgen ließ.

Da tremulierte nebenan ein außerordentlich kräftiger Tenor:

»Fordre niemand mein Schicksal zu hören,
dem das Leben noch wonnevoll winkt.
Ja, wohl könnte ich Geister beschwören,
die der Acheron besser verschlingt.
Aus dem Leben, mit Schlachten verkettet,
aus dem Kampfe, mit Lorbeer umlaubt,
Hab ich nichts, hab ich gar nichts gerettet,
als die Ehr und dies alternde Haupt.«

Die Herren lauschten und lächelten. Jeder wußte, das war der Apotheker, der vor zehn Jahren in seiner großen Begeisterung für die Befreiung Polens seinen Tenor entdeckt und nach der Einnahme Warschaus durch die Russen niemand auf der Welt mehr beneidet hatte als seinen Kollegen Trapp zu Friedberg, sintemal dieser fünfzig polnische Offiziere auf ihrer Flucht hatte herbergen und mit erlesenen Krankenweinen stärken dürfen.

Die Weltgeschichte war über seine Begeisterung achtlos hinweggeschritten, aber in vorgerückter Stunde ließ er sich ganz gern nötigen, »die lieben alten Polenlieder« zum besten zugeben, die noch immer manches Herz höher schlagen machten. Übrigens wollte der Apotheker durchaus nicht Wort haben, daß er vor zehn Jahren seine Liebe auch durch sein Äußeres bekundet und selber ein wenig den edlen Polen gespielt habe. Die verschnürte Pekesche konnte er zwar nicht in Abrede stellen, aber die mit Schweineschmalz gesalbte Locke, das gebrochene Deutsch und das brechende Auge wies er in das Reich der Verleumdung.

Dann kam der Kommerzienrat auf den zweiten Brief zu sprechen. Der sei von seinem Bruder Johannes, dem Chemiker, der, wie die Herren ja wüßten, jetzt nicht mehr in Gießen, sondern in München lebe. Jetzt sollten sie sich aber auf eine große Überraschung gefaßt machen. Johannes habe geschrieben, daß er zum Frühjahr an dem Königlichen Laboratorium, darin er arbeite, fest angestellt werde und daß er sich verlobt habe. Er, der Kommerzienrat, wolle den Herren die außerordentlichen Vorzüge seiner Schwägerin, wie der Verlobte sie schildere, jetzt erlassen, denn einmal seien die meisten von ihnen ja verheiratet, so daß sie nur an ihre eigene Verliebt- und Verlobtheit zurückzudenken brauchten, sodann aber wolle das junge Paar im nächsten Sommer die Hochzeitsreise in die alte Heimat des Ehemannes unternehmen, wo man sich ja dann bald allerseits persönlich kennen lernen werde. Für seine Mutter freue ihn besonders, bemerkte er vertraulich zu dem neben ihm sitzenden Pastor, daß die junge Dame, obwohl nach Geburt und Sprechweise Münchnerin, evangelischen Glaubens sei. Das überrasche ihn aber höchlich, meinte Kranevoß, er habe immer gehört, in München gebe es keine Protestanten. Jedenfalls wisse er zuverlässig, daß vor einigen dreißig Jahren die erste Königin von Bayern, die ja evangelisch gewesen sei, ihren Hofprediger habe im Schloß unterbringen müssen, weil in der ganzen Stadt niemand dem Hofketzer habe Wohnung gewähren wollen oder dürfen.

Nun ergingen sich die Herren, nachdem sie ihre Freude und ihre Glückwünsche mit rheinischer Fröhlichkeit zum Ausdruck gebracht, auch auf das Wohl des jungen Paares angestoßen hatten, in Vermutungen, welchen Reiseweg die Neuvermählten zweckmäßig wählen und ob sie wohl schon hier und da ein Stückchen mit der Eisenbahn fahren könnten. Es ergab sich aber, daß dies nur von München bis Augsburg möglich sei, von wo jene dann mit der Post über Ulm und Stuttgart nach Mannheim fahren würden, um dort das Kölner Dampfboot zu nehmen. – Herr Paul van Overaad, der im Sommer das Karlsbad gebraucht hatte und bei dieser Gelegenheit mit der neuen, von Friedrich List angeregten Eisenbahn von Leipzig nach Dresden gefahren war, versicherte, daß die Annehmlichkeiten des Reisens auf dem Dampfschiff bei weitem größer seien als in der Eisenbahn. Freilich hätte er von Dresden bis Leipzig nur fünf und eine halbe Stunde gebraucht, da man aber den oberen Teil der Coupétüren nicht hätte zumachen können – seiner Ansicht nach gehöre ein Fensterrahmen mit kleinen Glasscheiben da hinein –, so hätte er sich einen fürchterlichen Schnupfen zugezogen. Und wenn ihm nicht auch, wie verschiedenen Mitreisenden, Ruß aus der Lokomotive ins Auge geflogen sei, so verdanke er das nur der Eisenbahn-Schutzbrille, die er auf Anraten eines erfahrenen Freundes in Leipzig sich angeschafft hätte. Als das Gespräch sich dann über die großen Entwicklungsmöglichkeiten der beiden neuen Beförderungsmittel verbreitete, erwähnte der Kommerzienrat, daß sein Hamburger Vetter, der Reeder, ihm neulich geschrieben hätte, es gäbe in der ganzen Welt jetzt schon etwas über hundert seetüchtige Dampfschiffe, und die neue regelmäßige Dampfschiffahrt zwischen England und Nordamerika verspräche eine prachtvolle Rente.

Nebenan aber sang die unermüdlich fröhliche Jugend:

Du, du liegst mir im Herzen,
du, du liegst mir im Sinn.
Du, du machst mir viel Schmerzen,
weißt nicht wie gut ich dir bin ...

wobei unter den freudeglänzenden Augen allerlei Spione, Heuchler und Verräter ihr Wesen treiben mochten.

Als das Lied verklungen war, entstand im Saal wie im Unterhaltungszimmer eine Stille, denn nun mußte es jeden Augenblick zwölf schlagen. Endlich. Und in die ersten Glockenklänge mischten sich Böllerschüsse, des strengen Verbotes spottend, das der Bürgermeister alljährlich in der letzten Nummer des Wochenblättchens gegen solchen heidnischen und gefährlichen Unfug erließ.

Die Herren schüttelten einander die Hände: »Prost Neujahr! Prost Neujahr!« Der achtundachtzigjähnge Jup Breskens erwehrte sich zwar der Gratulanten: »Jömmich ja! Dummes Zeuch!« schloß sich aber doch den andern an, die, eine Mahnung zum Aufbruch, in den von Jubel und Glückwünschen erfüllten Saal der Jugend eintraten.


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