Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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II.

Im Roten Häuschen

»Hörst Du, hörst Du . . .!« – – – – – – – –

Der Sturm setzte mit gewaltigem Stöhnen über den Rheindeich. Zerfetzte Wolken trieben vorüber; ihre Schatten gaben dem breiten Wasser eine bleigraue Färbung. Die noch kahlen Pappelkronen sausten im Wind, Mensch und Vieh duckte sich vor dem mächtigen Odem, verdächtiger Schaum spritzte über Buhnen und Dämme, und auf allen Beobachtungswarten wurden die Sturmzeichen gehißt.

Es war im März. Die Tage der Karwoche waren nicht mehr fern. Märzschauer gingen über die Erde: bald Schneegestöber, bald Regen. Die weite Niederung hatte noch ein winterliches Aussehen, nur die Ruten der Kopfweiden bräunten sich, und hin und wieder sah das safrangelbe Auge einer Sumpfdotterblume aus dem grasigen Teppich. Unter dem Himmel war Krähengeschrei. In langen Geschwadern suchten die schwarzen Vögel ihre Kolonien auf. Trüb, lehmig und mit tückischen Wellen besetzt, rollte das angeschwollene Wasser vorüber. Bis in den März hinein hatte der Rhein gestanden. Dann war der Südwind gekommen. Die Fläche barst, und unter Poltern und Krachen, unter Stöhnen und Mahlen setzte sich das Eis in Bewegung. Stadt und Land atmeten auf. Die Gefahr schien vorüber zu sein, als sich die schwimmenden Massen unterhalb der kleinen Stadt abermals stauten und das Flußbett verrammten. Eine mächtige Eiswehr türmte sich auf, die das nachdrängende Wasser nur langsam fließen ließ. Alle Sprengversuche waren bis jetzt resultatlos verlaufen. Die Barriere regte und rührte sich nicht. Die Hochflut wuchs und bedrohte Dämme und Deiche und das gefährdete Binnenland. Die Stromwachen wurden verdoppelt. Bei Nacht brannten Feuersignale, Meldereiter waren an den wichtigsten Stellen postiert, und die Pulsanten standen in Bereitschaft, auf ein gegebenes Zeichen in die Kirche zu stürmen, die Glockentaue herunterzulangen und die ›Nothilfe‹ auszuläuten. –

Stromaufwärts, in Rufweite von den letzten Häusern des Städtchens, lag ein kleiner Ziegelbau. Er war unmittelbar an die Binnenseite des Paternosterdeiches gedrückt. Obgleich engbrüstig und langaufgeschossen, schaute er doch nur mit der äußersten Spitze der Giebelfront über den mächtigen Damm fort. Oberhalb der niedrigen Tür streckte sich ein breites, hellblau angestrichenes Schild, auf dem in stümperhaften Buchstaben geschrieben stand: ›Zum Roten Hüsken‹, mit der Unterbezeichnung: ›In Sinte Joris Estaminet‹. Hinter den viereckigen Scheiben des rechts von der Tür gelegenen Fensters standen allerlei Waren in weitbauchigen Glasgefäßen zum Kauf ausgeboten. Kandiszucker, Kaffeebohnen, Johannisbrotschoten, Süßholzstangen, Varinaskanaster mit dem obligaten Reiter in derber Holzschnittmanier auf der groben Papierdüte, Tonpfeifen und sonstige Nutz- und Gebrauchswaren wechselten in bunter Reihenfolge ab und führten ein beschauliches Dasein zwischen kleinen und großen Flaschen, aus denen gebrannte Flüssigkeiten in verschiedenen Farben und Schattierungen hervorblitzten. In ›Sinte Joris Estaminet‹ verkehrten schlichte und geringere Leute. Schiffer, die in der kleinen Stadt ausfrachteten, Handwerker und Handelsleute, die mit Band und sonstigen Kurzwaren über Land gingen, Fuhrleute, deren schwermütige Pferde mit klingendem Dachsfellkummet vor der Wirtschaft Halt machten, gossen hier gern den hellen Genever hinter den Kittel oder ließen sich das dünne Weißbier schmecken, das in der Nachbarschaft gebraut wurde. Links von der Eingangstür lag die mit weißem Rheinsand bestreute Wirtsstube, wo Herr Cornelis Janßen das Szepter führte, während im Laden zur Rechten seine Frau unumschränkte Gewalt hatte. Wirtschaft und Laden erfreuten sich eines leidlichen Zuspruchs. –

»Pröstchen . . .

Hemdärmelig, in Velvethose und Weste, die Hände in den weiten Taschen vergraben, die Beine gespreizt und die kurzstielige Tonpfeife in den linken Mundwinkel geschoben, saß Herr Cornelis Janßen hinter dem blankgescheuerten Wirtstisch und sah ins Wetter hinaus. Er war ein kleiner, untersetzter Mann in den vierziger Jahren. Fett und glatt, wie die pralle Haut einer gemästeten Gartenschnecke, frisch vom Rasiermesser gekommen und mit kurzgeschorenem Haarwuchs ruhte der breite Kopf auf dem putzigen Untergestell, das mit Holzschuhen und Lammwollsocken seinen Beschluß fand. Blank und vergißmeinnichtblau leuchteten die etwas schnapsseligen und fidelen Aeugelchen aus den verschwollenen Backen hervor, die ihrerseits wieder an das Knallrot der Pfingstrose erinnerten. Der ganze Kerl offenbarte eine brutale Gesundheit.

»Öh . . .

Er gähnte, streckte die Beine, daß der Binsenstuhl in all seinen Fugen ächzte und stöhnte, nahm mit der Linken den Pfeifenstummel, mit der Rechten das Schnapsglas und meinte, zu seinem Gegenüber gewendet: »Na, Pröstchen, Herr Perdje!«

Er wartete vergebens auf Bescheid.

»Denn nich,« sagte Cornelis Janßen und brachte die wässerige Flüssigkeit an die feuchten Lippen.

Die Beine unter den Stuhl gezogen, die Ellenbogen auf die Tischplatte und den zwerghaften Kopf in die Hände gestützt, saß ihm ein hagerer, ausgemergelter Mann gegenüber. Ein zwiebelgroßes Gewächs zierte den bereits völlig gelichteten Schädel. Nur eine Art von Haaroase, in Gestalt eines altmodisch gekräuselten Toupets, hatte auf der blanken Stirnfläche Wurzel geschlagen, während eine stark nach links verschobene Nase entenschnabelförmig über die zusammengekniffenen und schmalen Lippen hinwegsah. Auch nicht die geringste Andeutung eines Bartwuchses war auf dem lederfarbigen Gesicht bemerkbar. Stumpf und stier bohrten sich die verschleierten Blicke in ein klerikales Käseblättchen hinein, auf dem sich die Abdrücke einiger Geneverkringel befanden. Perdje Puhl hörte und sah nicht. Er war seines Zeichens Küster in der kleinen Gemeinde. Außerdem wirkte er als aktives Mitglied der Sankt Sebastiansbruderschaft, einer Schützengilde, die neben dem kirchlichen Banner auch bei Kirmessen und sonstigen weltlichen Lustbarkeiten die Fahne niederrheinischer Freude und Ausgelassenheiten emporhielt. In diesem Verein amtierte er als Kassenwart und hatte bei vorkommenden Anlässen, wie Vogelschießen, Begräbnis und Taufschmaus, die antiquierte Wirbeltrommel zu schlagen. Allmittags genehmigte er sich ein Schnäpschen in der Destille von Cornelis Janßen, eine Gepflogenheit, die er sich schon seit Jahren zur Lebensgewohnheit gemacht hatte.

Jetzt war Perdje Puhl bei der Lektüre an eine besonders interessante Stelle gekommen. Seine Lippen bewegten sich krampfhaft. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf die Zeitung, daß das geleerte Glas emporsprang: »Donnerkiel . . .

»Na. Perdje . . .

»Na, Perdje – was, Perdje?! – Er kommt – der heilige Mann kommt, der Glaubensapostel, der in Engelszungen redet und predigt!«

Er sprach nicht weiter. Ein kleines Männchen im blauen Kittel, mit seidener Schirmmütze und rötlichen Haaren, dem man auf den ersten Blick die jüdische Abstammung ansah, drehte sich ins Gastzimmer: »Guten Tag – die Herrens!«

Lächelnd legte er ein Leinwandpäckchen beiseite und stellte seinen geschälten Hagedornstock, an dessen Griff sich ein Lederriemen befand, in die Ecke. Fröstelnd rieb er die Hände zusammen: »Püh! – was soll ich sagen, die Herrens?! – Draußen zieht's einem Rock un Stiefel vom Leibe. Dürfte ich bitten um ein gefälliges Schnäpschen, Herr Janßen? – aber ein süßes.«

Verschämt, nur die Kante des Stuhles benutzend, ließ er sich am Wirtstisch nieder.

»As't üh belieft,« sagte Cornelis Janßen und schenkte die kristallklare Flüssigkeit ein.

»Ein artiges Pröstchen, die Herrens!« lispelte Moses Herzlieb und prüfte von der belebenden Feuchte. »Aber was ich sagen wollte, die Herrens,« fuhr er fort, »räumen Sie bald hier die ganze Mischpoke, sonst kommt Ihnen der Rhein mit's große Wasser über dem Halse, 'ne ganze Rebellionierung is hinter dem Deiche. Die Ratten wittern Unrat un wandern aus. Nü, un wenn die Ratten . . .«

Er blinzelte pfiffig mit den kleinen Augen und wippte das Gläschen hinter das knallrote Halstuch.

»Ich bitte noch um ein gefälliges Schnäpschen, Herr Janßen; aber was gesagt is, is gesagt: das große Wasser kommt uns über dem Halse. Bringen Sie Ihre Perdukte un Ihre liebwerte Frau Gemahlin auf 'ne andere Stelle. Besser is besser! Das Hochwasser steht über Pari, Herr Janßen.«

»Drecksprophet!« murrte der Küster.

»Mit Ihrer günstigen Erlaubnis,« erwiderte Herzlieb, »Sie sind ein gelernter Studierter, Herr Perdje . . .«

»Bin ich,« sagte der Küster.

»Gut,« bestätigte Moses, »aber die Gelernten machen öfters Pleite mit ihrem Studiertsein. Ich habe meine Meinung, Sie haben die Ihre. Dabei bleib' ich.«

»Aber, Moses, die Wachen stehn doch,« warf Cornelis Janßen dazwischen.

»Weuß ich.«

»Und der Deich hat seine reputierliche Stärke.«

»Weuß ich auch.«

»Na, und dann ist noch die Nothilfe da.«

»Weuß ich,« versetzte Moses Herzlieb mit unerschütterlichem Phlegma. »Aber besser is besser! Denken Sie an Ihre Frau Gemahlin, Herr Janßen. – Aus christlicher Barmherzigkeit, denken Sie an Ihre Frau Gemahlin un die feinen Ladenperdukte!«

»Donnerkiel noch mal!« fuhr Perdje Puhl auf, »bleiben Sie uns mit Ihren Prophezeiungen vom Leibe. Ein Jud und ein altes Weib prophezeien immer daneben.«

»Herr Perdje Puhl,« rief Moses, »ich bitte Ihnen um 'ne gewisse Mäßigung! Ein gelernter Studierter soll Mäßigung haben, Herr Perdje.«

»Ach, was!« suchte der Küster einzulenken, »Sie mit Ihren dämlichen Redensarten, Herzlieb! – Der Himmel sorgt schon dafür, daß Gottes Wasser nicht über Gottes Acker dahinläuft. Hier stehen wichtigere Dinge auf der Tagesordnung, wie unser Herr Abgeordneter zu sagen pflegt: große Dinge, übernatürliche Dinge, Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben, Herr Herzlieb!«

Dabei sprang er auf, knallte mit der flachen Hand auf das Zeitungsblatt und hielt es dem verschüchterten Moses unter die Nase. Das Toupet sträubte sich, und die entenschnabelförmige Nase rückte in bedenklicher Weise näher und näher.

Moses Herzlieb wich einige Schritte zurück: »Bin ich meschugge?! – Was soll's denn, Herr Perdje?«

»Können Sie lesen, Moses?«

»Nü, ob!«

»Kennen Sie Bonaventura, den großen Pater Bonaventura?«

Moses setzte sich wieder.

»Gott, ob ich ihn kenne, den Herrn Pater Bonaventura! Is er doch ein frommer Herr, ein liberalisierter Herr un ein Herr, der's ehrlich meint mit Christenmenschen un Judenmenschen. Hab' ich ihn doch selber gehört in die Kirche von Calcar. Wahrhaftigen Gott, ßweimal hab' ich ihn gehört, un wie ließ er sich hören, der Pater Bonaventura! Er is ein ehrlicher Mann, ein wundertätiger Mann un ein beredter Mann; sprach er doch von die Nächstenliebe un die patriotische Gesinnung, daß man hätte bekommen können ßuviel von die schönen Gefühle, sprach er doch von David un die Propheten, un lamentierte er doch so ergreifend wie Jeremias mit die Gitarre zu Jeruschalaim. – Nü, was soll's mit dem Herrn Bonaventura?«

»Was soll's denn?« fragte nun Perdje seinerseits in höchster Erregung, wobei er abermals mit den Knöcheln der gewendeten Hand auf die Zeitung klatschte. »Schwarz auf Weiß steht's hier deutlich geschrieben. Freut Euch und jubilieret und singt ein Hosianna! – Der große Bonaventura kommt und hält Mission in hiesiger Kirchengemeinde.«

»Schön,« sagte Moses Herzlieb, »es soll mich freuen, ihn näher kennen ßu lernen – den Herrn Bonaventura. – Ich bitte noch um ein gefälliges Schnäpschen, Herr Janßen. – Er is ein bedeutender Mann, der Herr Bonaventura.«

»Was, nur bedeutend?« fuhr Perdje Puhl dazwischen. »Er ist mehr – der Mann ist heilig!«

Perdje Puhl reckte sich bei diesen Worten derart auf, daß sein Toupet fast die niedrige Balkendecke berührte.

»Bleiben Sie bei 'ner Mäßigung,« erwiderte Herzlieb. »Aber meinetwegen kann er sein auch heilig – der Herr Bonaventura.«

»Und wenn er dann so in die Stadt hineintriumphiert,« fuhr der Küster fort, »dann müssen wir alle dabei sein, auch Sie, Herzlieb, und unschuldsvolle Kinder müssen Kalmus streuen und Palm, und Marie Verwahnen muß ihr Bestes anziehen und den Herrn Bonaventura mit den Worten begrüßen: Öffnet euch, ihr Tore Sions . . .! – denn auch die Marie Verwahnen ist heilig.«

»Bleiben Sie auch hier bei 'ner Besinnung,« lächelte Moses. »Aber meinetwegen kann sie sein auch heilig – das Freilein Maria Verwahnen.«

»Ist sie, ist sie, ist sie!« schrie Perdje Puhl in Ekstase. »Aber das können Sie gar nicht begreifen, Herzlieb, gar nicht begreifen und fassen! Sie kennen ja kaum die Marie Verwahnen.«

»Kriegst du den Dalles, Herr Perdje!« trumpfte Herzlieb auf. »Gott, ob ich sie kenne – das Freilein! – Maimemmelochem! – wenn ich auch bin älter acht oder ßehn Jahre, sind wir doch Nachbarskinder gewesen – ich un die Maria Verwahnen un der Herr Studiosus van Melle! – Un denn die Maria nich kennen?! – Steh' ich doch mit ihrer Mutter in doppelte Buchführung: David und Kredo, Herr Perdje. Beßieh ich doch von Hille Verwahnen 's Leinenzeug, was sie macht selber ums tägliche Brot auf 'm Webstuhl – un denn die Tochter nich kennen?! – Belernt sie doch die kleinen Kinder mits Rechnen, mit Lesen un Schreiben – un lächelt sie doch immer so liebreich, wenn ich komm, ßu beßahlen auf 'n rechten Termin. Kann doch ihre Mutter, Frau Hille, nich rechnen – aber sie kann's, un denn machen wir's Fazit von David und Kredo un ßiehn 'nen Strich unters Konto. Un denn gibt sie mir ihre liebliche Hand, macht's Buch ßu un sagt denn: Es stimmt. – Ich danke Ihnen, Herr Herzlieb.«

Zur Bekräftigung dessen rückte Moses die Seidenmütze zurück, befeuchtete die Finger der rechten Hand und strich die leichtgekräuselten Schläfenhaare nach vorne. Moses Herzlieb hielt auf eine tadellose Spuck-Coiffüre.

»Lieber Freund,« bemerkte der Küster und legte ihm dabei salbungsvoll die Hand auf die Schulter, »und dennoch kennen Sie das innere Leben dieses Mädchens nicht, ich meine ihre Seele – die Physische, wie es die Lateiner benennen, Herr Herzlieb.«

»Wieso nich?« fragte Moses. »Aber was ich sagen wollte, Herr Perdje: wie benennt sich doch wieder die Seele der Maria Verwahnen?«

»Physische, wie die Lateiner sagen.«

»'ne komische Seele vons Mädchen,« lächelte Herzlieb, »aber man weiter – ich höre.«

»Sehen Sie,« fuhr der Küster mit unheimlicher Stimme fort, »das mögen nun an die drei Jahre gewesen sein, da brannte eines Tages den Webersleuten der Dachstuhl über dem Kopfe zusammen.«

»Weuß ich.«

»Aus christlicher Nächstenliebe, weil meine Stellung als Küster das so mit sich bringt, verstattete ich Mutter und Tochter Verwahnen einen eigenen Raum in meinem Hause, bis von seiten der Brandkasse ein neuer Dachstuhl hergerichtet war.«

»Weuß ich,« bemerkte Moses Herzlieb und machte sich wieder an seiner Spucklocke zu schaffen.

»Aber eins wissen Sie nicht!« zeterte der Küster und reckte sich dabei in seiner ganzen Länge auf.

»Gott der Gerechte, was soll's denn?« schreckte Herzlieb zusammen. »Was schreien Sie so?!«

Perdje Puhl schraubte seine Stimme um eine ganze Oktave tiefer: »Sie wissen nicht, was dabei unter meinem Dache passiert ist.«

»Nü, was soll denn unter dem Dache passiert sein?«

In nervöser Hast griff der Küster in die hintere Rocktasche, holte eine zinnerne Schnupftabaksdose hervor, schlug den Deckel auf und warf sich eine Prise in die Nase, dann schrie er los: »Was unter dem Dache passiert ist?! – Sonderbare Dinge, rätselhafte Dinge, heilige Dinge . . .

Bei dem Worte heilig klappte er mit tollem Lachen die Dose zu und streckte beide Arme zur Decke, daß sich die Aermel bis zu den Ellenbogen zurückschoben.

»Bleiben Sie bei 'ner Besinnung, Herr Perdje!« stotterte Herzlieb, »man kriegt sonst ßu viel bei die Gewalttätigkeit.«

Ängstlich sah er sich nach seinem Stock um.

»Oh!« stöhnte der Küster und knickte wie ein Taschenmesser zusammen. »Wissen Sie, Herzlieb, da sitzen wir eines Abends beim Tischgebet, meine Frau und ich, als die Zimmertür leise aufging und dann wieder geräuschlos ins Schloß fiel. Gleichzeitig sprang meine Frau ans Fenster, das nach dem Kirchhof hinausgeht, weil es ihr deuchte, als ob jemand dort vorbeigekommen sei und durch die Scheibe geblickt habe. – Wer war es denn? fragte ich hastig. – Ich glaube, Marie Verwahnen, meinte meine verstörte Frau in großer Aufregung. – Jesus Christus! schrie ich auf und schlug die Hände zusammen – denn Sie müssen wissen, Herzlieb, daß unser Zimmer in der zweiten Etage liegt – und mit etlichen großen Sätzen war ich drunten und im inneren Hofraum. Draußen lag frischgefallener Schnee; eine bläuliche Mondhelle flirrte auf der zarten Decke und hatte fast Tagesbeleuchtung geschaffen. Keine Fußspuren waren zu sehen, nichts war bemerkbar, das auch nur im entferntesten den Schluß zuließ, als habe sich jemand vermittelst einer Leiter bis an das in der zweiten Etage gelegene Fenster begeben.«

»Donnerkiel!« brummte Cornelis Janßen.

»'s wird 'ne phantasmagoranische Erscheinung von Sie gewesen sein, Herr Perdje,« erwiderte Herzlieb und versuchte ein möglichst couragiertes Gesicht aufzusetzen. Aber es gelang ihm nur schlecht. Der Schrecken saß ihm in den Gliedern, zumal der Küster jetzt in gespensterhafter Weise die Augen aufriß und in einem mysteriösen Tone weiter erzählte: »Also ich wieder die Treppe hinauf – und wissen Sie, wer auf der Türschwelle stand, mit gefalteten Händen, fromm, wachsbleich wie eine Kirchenkerze, wobei die gelösten, braungoldigen Haare ihr über die Schultern fielen?«

Klatschend schlug Perdje Puhl auf den Tisch und sah fragend die beiden Zuhörer an. In seinen Blicken zuckte ein eigentümliches Feuer.

»Gott der Gerechte! – Perdje, wer war's denn?«

»Marie Verwahnen,« sagte der Küster mit entsetzlicher Ruhe. »Aber wie komisch! – über uns ließ sich ein sonderbares Geräusch vernehmen, das mit einem langsam getanzten Schleifer Ähnlichkeit hatte. Der Tanz zeichnete sich durch ein eigenartiges Tempo aus, war mit so sonderlichen Klangfiguren verknüpft, wie ich sie vorher nie im Leben gehört hatte. Das Tanzen, das rhythmische Treten und Schleifen fuhr unbehindert fort und wurde jetzt so deutlich, daß wir imstande waren, auch die feinsten und subtilsten Pas genau zu unterscheiden. Ein kaltes Gefühl rieselte uns über den Rücken. Dann wurde von draußen an die Scheiben geklopft.«

»Perdje, schweigen Sie still,« rief Moses Herzlieb, »man geht ja kapores bei die Gespenstergefühle!«

»Und Marie stand vor uns,« erzählte der Küster ruhig und unbeirrt weiter, »sie stand vor uns, als schliefe sie mit offenen Augen. Mechanisch zeigte sie mit der linken Hand auf das Fenster, wo es soeben geklopft hatte; dann trat sie vollends ins Zimmer. Langsam ließ sie ihre wachsbleichen Hände über das Magdalenenhaar gleiten, dann sah sie uns mit kalten, toten Blicken an. – Haben Sie gehört? fragte sie mit verschleierter Stimme. – Ja, ja, ja! rief ich ihr zu, aber Sie haben soeben hier oben durchs Fenster gesehen. – Sie schüttelte leise den Kopf. – Nein, sagte sie. Unten, bei uns in der vorderen Stube, ist sie vorher gewesen – und das geheimnisvolle Wesen, das ins Zimmer sah, war die allerseligste Jungfrau Maria. – Mir standen die Haare zu Berge. – Nicht möglich! – Meine Frau jedoch lächelte mit unsagbarer Wehmut und sagte: »Ja, es war die Gottesmutter. Dieses Haus ist gesegnet. Betet, betet, betet! – Und dann diese Augen, diese Augen der Marie Verwahnen! – Ich konnte sie nicht ertragen. Alles um mich her war mir Traum und Ahnung geworden. – Als ich wieder aufblickte, war das Mädchen verschwunden – und dann, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, schloß sich die Tür und fiel ins Schloß ein. Dagegen wurde ruhig weiter an die Fensterscheiben geklopft, und das Tanzen über uns wollte kein Ende nehmen. – Wir schliefen die ganze Nacht nicht. Erst gegen Morgen verstummte das sonderbare Geräusch und das deutliche Tanzen im Hause. Ich teilte unsere Erlebnisse dem Herrn Pastor mit. Der aber schwieg lange Zeit und ging unruhig in seinem Zimmer auf und nieder. Plötzlich hielt er den Fuß an. »Perdje,« sagte er in seiner feierlichen Weise, »denken Sie an Luise Lateau, an Katharina Emmerich – denken Sie an die wunderbaren Dinge, die sich im Leben der Heiligen abspielten, und Sie können als studierter und einsichtsvoller Mann, als studierter und einsichtsvoller Mann, meine Herren – die Spreu von dem Weizen sondern und das Für und Wider des nächtlichen Begebnisses in Erwägung ziehen. Beten Sie, beten Sie! – Mir scheint es, als sei Ihrem Hause Heil widerfahren.«

Der Küster schwieg.

»Klapps!«

Mit erstaunlicher Fingerfertigkeit hatte er wieder die Dose geöffnet und sich eine zweite Prise in die Nase geworfen.

»Nü,« fragte Herzlieb, der bislang sprachlos zugehört hatte, mit einem tiefen Seufzer, »nü, un wie ging's nu weiter mits Freilein?«

»Wie's weiter ging. Herzlieb?! – Himmlisch, himmlisch . . .! – Hören Sie. – In der darauffolgenden Nacht . . .«

Der Küster verstummte. Ein grimmiger, fauchender und entsetzlicher Sturmstoß ging über das Haus hin. Deutlich hörte man das Wasser des Rheines und das Stöhnen der Bäume herübertönen. Fast gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen . . .

»Gottdomie noch mal!« meinte Cornelis Janßen, »da soll doch . . .«

»Kriegst du den Dalles!«

Mit einer Geschwindigkeit, die an die eines behenden Frettchens erinnerte, war Moses Herzlieb verschwunden. Er saß unter dem Wirtstisch.

Nur der Küster behielt seine Fassung. Stocksteif, die Schnupftabaksdose in der Linken haltend, die rechte Hand zwischen Rock und Weste geschoben, sah er auf die aufgeflogene Tür.

Ein Mann mit verwittertem Antlitz, den Südwester tief in den Nacken gedrückt, stürzte ins Zimmer. Mit dem massigen Daumen der linken Hand zeigte er erregt über die Schulter: »Dat Water, dat groote Water, Mynheers!«

»Grades, was gibt's denn?« fragte der Küster.

»De Diek . . . dat groote Water  . . .!« stammelte der Deichaufseher. »Mynheer, de Schlötel, de Kerkenschlötel, Mynheer!«

»Hier, hier, hier . . .

»We mötte de Nothelp beiern. – De Klocken . . . de Klocken . . . dat groote Water . . . de Klocken . . . adjüskes . . .

Der Deichaufseher stürmte mit dem Kirchenschlüssel hinaus.

»Donnerkiel noch mal!« rief Cornelis Janßen. »Das gibt ein Unglück, ein entsetzliches Unglück!«

»Denn 'raus!« wimmerte Herzlieb, ergriff Stock und Leinwandpäckchen und stürzte ins Freie. Die anderen folgten in großer Hast, erklommen den Deich und sahen ins Wetter hinaus.

Die ganze Natur war in Aufregung. Gellende Töne pfiffen über den Damm hin. Immer heftiger, trüber, schlammiger staute das Wasser zurück. Schwere Regentropfen klatschten auf die widerspenstige Flut. Ab und zu setzte eine Schneebö ein, die alles mit wirbelndem Gestiebe auflöste. Erdfahle, schwerfällige Wolkenklumpen krochen über die Landschaft, unterflogen von schieferblauen Fetzen, die im Sturm einhergaloppierten. Wenn die sich unterhalb der kleinen Stadt anstauenden mulmigen Eismassen nicht bald ins Treiben gerieten, schien eine Katastrophe unvermeidlich. Der Deich mußte brechen, und das hinter ihm liegende Binnenland war infolgedessen dem verheerenden Element überliefert. Immer drohender, unheimlicher setzte der Sturm ein. Grausige Töne keuchten und orgelten über Wiesen und Wasser.

»Zu Hilfe! – Zu Hil – fe . . .

Von der Stadtseite her drängten entsetzte Weiber und Männer der gefährdeten Stelle des Deiches zu. Cornelis Janßen raste ins Haus zurück, um Weib und Kind von der drohenden Gefahr in Kenntnis zu setzen, aber der Küster hielt in Wetter und Wind aus und ließ sich den Sturm um die Nase fegen. Den abgenützten, sich nach oben verjüngenden Zylinder hatte er bis über die Ohren gezogen. Umflattert von den langen Schößen des schwarzen Düffelrockes, die wie junge Ziegenböcke um seinen eingezogenen Leib kapriolten, schrie er den vordringenden Leuten entgegen: »Jesus, Maria und Joseph! – nur eine kann helfen – nur eine kann helfen!«

»Zu Hilfe! – Zu Hil – fe . . .

»De Klocken . . .! – De Nothelp . . .

»Unsinn!« schrie Perdje Puhl in die verstörte Menge. »Nicht Klocken und Nothelp! – Der Herr Zebaoth will uns schlagen in seinem Zorn. Mögen die freisinnigen Köpfe auf irdische Dinge und Mittel vertrauen – hier hilft nur Beten – Beten – Beten!«

»De Klocken . . .! – De Nothelp . . .! – Herr, erbarme Dich unser!«

»Betet – betet – betet!« kreischte Perdje Puhl dazwischen. »Alle irdische Hilfe ist vom Übel.«

Der Mann kannte sich nicht mehr. Das lederfarbige Antlitz war käsig geworden. Der Sturm benahm sich wie ein besoffener Fuhrknecht. Er legte die breiten Finger ins Maul und stieß scheußliche Pfiffe ins Wetter hinein. Kreuzweise schlug er mit der knallenden Fuhrmannspeitsche durch die ziehenden Wolken, daß sie kläfften und bellten.

Hochaufgerichtet stand Perdje. Immer wilder tollten und tanzten die schwarzen Rockschöße; der dämonische Küster schien in den Himmel zu wachsen, die knochigen Finger reckten sich aus, um sich gleich darauf wieder zu ballen, als müßten sie die drohenden Wolken herunterfetzen – und dazwischen immer das wilde Geschrei: »Betet, betet, betet! – Nur eine kann helfen – nur eine kann helfen!«

Vor dem Ausbruch dieses verworrenen Geistes verstummten alle Gegenvorstellungen. Nur noch vereinzelt erklangen die Rufe nach Klocken und Nothelp. Die Menge drängte sich um den rasenden Küster, gleichsam, als müßte sie ihm die heilverkündenden Worte vom Munde lesen.

»Perdje Puhl, Perdje Puhl . . .

»Dat Water – dat Water . . .

»Beten – beten – beten!« schrie der exaltierte Küster dazwischen. »Nur eine kann helfen – nur Marie Verwahnen kann helfen!«

»Wachsmarie, Wachsmarie . . .!« klang es ihm von allen Seiten entgegen.

Einige Weiber waren auf die Knie gefallen: »Moder Goddes, bett för ons!«

»Betet, betet!« schrie der wahnsinnige Küster immer wilder und geller. »Marie Verwahnen soll das Wasser besprechen! – Folgt mir, folgt Eurem Hirten!«

»Nü – wir können's ja mits Freilein versuchen. Hilft's nich, dann schadet's auch nich.«

Moses Herzlieb hatte gesprochen.

»Wachsmarie . . .! – Wachsmarie . . .

Perdje Puhl stellte sich an die Spitze der verzweifelten Leute. Unter Heulen und Beten, in Hoffnung und Zerknirschung, aber alle gläubigen Herzens, wälzten sich die geängsteten Menschen dem Eingang der Stadt zu. –


»Hörst Du das? – Hörst Du, wie der Sturm über den Deich setzt?!«

Johannes van Melle war aufgestanden. Wieder klopfte er mit dem Bogen auf den Resonanzboden der Geige und lächelte dabei in eigentümlicher Weise. Hierauf trat er in die Mitte des Zimmers. Er stand im Bannkreis des Mondes. In seinem kreidigen Licht war jede Muskel des erregten Gesichtes deutlich erkennbar. Mit einer unbeschreiblichen Grazie holte der Fiedelbogen zum Strich aus. Die weiße Hand des Spielers leuchtete auf, dann zog ein klagender, wimmernder Ton bis in die entlegensten Ecken des Zimmers. Das schwermütige Tongefüge bohrte sich durch alle Nerven und Fasern und quälte die Seele. Und immer die leuchtende Hand – die gespenstische Hand! –

Wilde Schreie, häßliche Dissonanzen wurden plötzlich gestrichen. Es pfiff und sauste um mich.

»Hörst Du das, hörst Du das?!«

»Ich höre, Johannes, ich höre, Johannes!«

Ich sah den lehmigen Deich und den Rhein und die bleigrauen Wolken, die schweren Fußes über ihn fortschritten. Ich hörte das Gurgeln und Nagen des Wassers, das Gekreisch der Weiber und Kinder. In kurzen Sätzen sprang der Wind über den Deich fort – und stöhnte und gellte.

Das Spiel brach ab.

»So,« sagte Doktor Johannes, legte Bogen und Geige beiseite und stürzte ein Glas Forster-Traminer hinunter. Dann ließ er sich wieder beim Fenster nieder. Seine Blicke waren fest auf mich gerichtet. Leise hob er die Hand, als wollte er hierdurch den Fortgang der Erzählung andeuten.

Mitdem gingen tönende Schläge durch die lichte Nacht hin.

»Elf Uhr,« sagte Doktor Johannes. – – – – –

 


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