Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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X. Karfreitag

Karwochentage!

Die Glocken hatten ihre Fahrt nach Rom angetreten. In stiller Nacht waren sie durch die Lüfte geflogen, hatten lautlos die Alpen gequert, um in der heiligen Stadt während der Leidenswoche des Herrn auszuruhen von ihrer schweren Arbeit auf Erden. Stumm, mit herausgeschälter Zunge sah der stattliche Kirchturm auf die Menschen herab, die sich zu den Fastenpredigten des Herrn Paters Bonaventura drängten. Jedes Geräusch war auf der Straße verpönt. Lautlos gingen die Leute ihrem Berufe nach. Kein dröhnendes Hämmern und Klopfen in den Werkstätten: nur mit einer gewissen Scheu setzte der Schreiner den Hobel an, um möglichst unauffällig die Späne zu lösen. Herr Perdje Puhl, dessen subtiles Empfinden hinsichtlich der Karwochenruhe allgemein bekannt war, hatte selbst die schweren Gewichte vom Gangwerk der Turmuhr gelöst, damit auch von dieser Seite jedes störende Pochen und Schlagen vermieden würde. Es geschah alles, um den Totenfrieden zu wahren. Noch gestern das jubilierende: ›Hosianna dem Sohne Davids! Hochgelobt, der da kommt im Namen des Herrn!‹ und jetzt: die Präliminarien der Großen Passion, das Vorspiel der Tragödie auf Golgatha, die da schloß mit den Worten: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! und dann: ein krampfhaftes Zucken durchflog den gemarterten Leib. Das dornengekrönte Haupt neigte sich zur Seite, ein schmerzhaftes Lächeln – und des Nazareners Erdenwallen und irdische Sendung waren zu Ende. –

In der großen Kirche, wo allabendlich die Missionspredigten stattfanden, hatte das Symbolische der Leidensgeschichte trefflichen Ausdruck gefunden. Alle freudigen Farben mußten der tiefen Trauer weichen. Nur im Hauptschiff und ungefähr dort, wo etliche Steintreppen die Verbindung mit dem Hohen Chore vermittelten, erhob sich das rohgeschnitzte Holzbildnis des gekreuzigten Heilands ohne jede Umhüllung. In grober, derbrealistischer Manier hatte der mittelalterliche Künstler dem Kruzifix Ausdruck und Fassung gegeben. Kreidig hob sich das Lendentuch von der bläulichen Leichenfarbe des Körpers. Von den heiligen Wundmalen und den tiefen Schrunden der Dornenkrone rieselten blutrünstige Streifen, dick, schwertriefend und mit sicherem Pinsel aufgetragen. Die blutigen Rinnsale sickerten über den weißen Schurz, bedeckten die übereinandergeschlagenen Beine, färbten die Fußnägel und verloren sich erst am schwarzangestrichenen Längsscheit. Die schon gebrochenen Augen des Welterlösers stierten zur Decke. Jesus Nazarenus Rex Judaeorum! – und im Anblick dieses Bildstocks, vom Geist und den Qualen des Gekreuzigten umschauert, hielt der junge Benediktiner allabendlich seine Predigt.

Stadt und Umgegend standen unter dem Bann des feurigen Kanzelredners. Von allen Seiten strömten die Hörer zu: Katholiken und Andersgläubige, Schwärmer und notorische Freidenker, lauschend, zitternd, zagend und sich beugend unter der Wucht des gesprochenen Wortes. Ein biegsames, volltönendes Organ, das auch die entlegensten Winkel des räumigen Hallenbaues beherrschte, einte sich einer äußeren Erscheinung, die in ihrer faszinierenden Eigenart hinreißen mußte. Das kurzgeschorene Haupt erhob sich frei aus der dunklen Kapuze, dazu die bleiche Stirn, das markante Gesicht mit der geschweiften Nase und den glutenden Augen, die feingebildeten Hände mit dem zartverzweigten Geäder – alles Dinge und Eigenschaften, die nie ihre Wirkung verfehlten und vornehmlich auf die sensitiven Nerven der Frauenwelt einen prickelnden Reiz ausübten, noch verstärkt und gehoben durch die mystischen Ausflüsse des Kirchenraumes, den betäubenden Duft des Weihrauchs und das einschläfernde und müde Knistern der Wachskerzen, deren matte Flämmchen wie liebestrunkene Johanniswürmchen von Empore und Lettner herüberleuchteten. Er war Mensch und Theologe in einer Person. Er griff mit den Worten eines schlichten Mannes ans Herz, so einfach, so überzeugungstreu und rein menschlich, daß kein Auge trocken blieb und verhaltenes Schluchzen die dichtgedrängten Reihen durchlief, und dann wieder schlug er mit dem wuchtigen Hammer der Dogmatik dazwischen, pochte ans Höllentor und zitierte die Schatten der Verdammten, daß die Gläubigen wähnten, ein eiserner Ring würde um ihre Herzen geschmiedet, aus dessen Gefüge kein Entrinnen mehr möglich. – Und sie schlugen die Brust in ihrer Not und Verzweiflung – und Zähneknirschen war in den hölzernen Bänken.

Ein geheimnisvoller Sagenkreis umgab die Person Bonaventuras. Man wußte, daß er ein preußischer Husarenoffizier gewesen war, ein schneidiger Reiter, ein Verehrer der Damen, dem keine Hürde zu hoch und kein Graben zu breit gewesen, und der infolge eines unliebsamen Zwischenfalls einen Aristokraten vor die Pistole gefordert und niedergeknallt hatte. Das war alles, aber um dieses wenige kristallisierte sich Mythe an Mythe. Nicht genug, daß er, der frühere Danziger Husar, die tollsten Reiterstücke vollführt, die vollsten Becher geleert und den vornehmsten pommerschen Junker auf fünfzehn Schritt Distanz und so mir nichts dir nichts über den Haufen geworfen – allerlei pikante und gepfefferte Anspielungen machten hierbei die Runde, wurden heimlich ins Ohr geflüstert, um schließlich mit epischer Breite offenkundig verhandelt zu werden. Irgendeine ostelbische Schönheit von unfaßbar vornehmer Abstammung, mit so und so viel Kronenzacken im Wappen, ein Weib mit blendender Grazie und Lebenskraft, aber ebenso vollsaftig und pferdewütig wie er, spielte selbstverständlich die Hauptrolle in dieser verfänglichen Liebes- und Leidenstragödie. Die stillen Dünen der Ostsee und die verschwiegenen Föhrenwälder bei Oliva hatten das Stammeln und Flüstern der beiden gehört; eine weise Frau tat das ihrige hinzu, bis schließlich der Bruder des verlockenden Weibes dahinter kam und der Geschichte ein Ende machte. Dreimaliger Kugelwechsel zwischen den Danziger Föhren, ein dumpfer Aufschrei – und die Affäre war so gut wie beigelegt. Der junge Offizier aber konnte den letzten, glasigen Blick des Gefallenen nicht mehr verwinden. Er vertauschte Pelzmütze und Attila mit dem Kleid der Benediktiner, und an Stelle des Chargenpferdes tummelte er von nun an das schwarze, theologische Rößlein. Natürlich war die blaublütige Schönheit an gebrochenem Herzen gestorben, und ihr Schatten spukte jetzt irgendwo auf einer Familienklitsche herum. Miserere! – Miserere! – Miserere! – aber die Engel jubilierten dem Gefeierten zu, denn er hatte der schönen Sünde den Rücken gekehrt, hatte mit eiserner Selbstzucht der Fleischeslust und der unkeuschen Begierde die Köpfe gespalten, hatte sich der alleinseligmachenden Kirche für Zeit und Ewigkeit in die Arme geworfen und durch Knechtung des eigenen Willens, durch Studium und Entsagung es schließlich zu einem Kirchenlicht gebracht, das mehr bedeutete als die übrigen Lichter allinsgesamt, das je nach Bedarf flimmern konnte wie ein bläulicher Irrwisch, wie ein sanftes Sternchen am Himmel, wie der indifferente Schein der Ewigen Lampe – und dann aufzuflammen vermochte gleich einem Kometen, düster, unheimlich, schrecklich, und dann wieder seine Lohe entfaltete wie blutiges Nordlicht. –

Unter stetig wachsendem Zudrang des Publikums hatten bisher die Bußpredigten des Paters Bonaventura stattgefunden, und so war aus den entschwundenen Tagen der Woche Karfreitagabend geworden. – Durch die engen Straßen der kleinen Stadt legten sich bereits die sinkenden Schatten. In ihrer ganzen Länge und Starrheit stiegen die matterhellten Kirchenfenster in das unbestimmte Dunkel der werdenden Nacht hinein. Ein ungewisses Schummern beherrschte den inneren Kirchenraum, in welchem Perdje Puhl mit einem, an einer langen Stange befestigten Wachsstock geschäftig umherging. Die letzten Kerzen seitwärts des Kruzifixes waren angezündet. Perdje löschte den Wachsstock und erstickte den noch glimmenden Docht mit Daumen und Zeigefinger. Hierauf griff er in die Rocktasche, langte die zinnerne Tabaksdose hervor, schlug auf den Deckel, daß es knallte und das Echo aus den entlegensten Winkeln zurückkam, und warf mit einer grandiosen Pose, nachdem er zuvor den parfümierten Tabak gehörig durchgemengt hatte, eine handliche Prise in die entenschnabelförmige Nase. Gemächlichen Schrittes begab er sich hierauf zur Sakristei.

Ungeduldige und verfrühte Kirchengänger, die den Beginn der Predigt nicht erwarten konnten, fanden sich mittlerweile ein und harrten klopfenden Herzens auf das Erscheinen des gefeierten Kanzelredners, denn man versprach sich große Dinge von seinem heutigen Auftreten, zumal es nach den in der Stadt kursierenden Gerüchten nicht ausgeschlossen erschien, daß er seiner Predigt allerlei Aufklärungen über Wundertäterei, magnetische Erscheinungen, über Hellsehen und das Wesen der Stigmatisierten verflechten werde. –

Im Schatten einer Säule, mit Schabbeshosen und Jontefrock angetan, erwartete auch Moses Herzlieb den Beginn der Trauerandacht. Nicht etwa, daß dem braven Moses auch nur der blasseste Gedanke gekommen wäre, dem Glauben seiner Väter untreu zu werden, aber der unwiderstehliche Drang, sich an den schönen Worten Bonaventuras zu berauschen, in einem Meer von schönen Gefühlen zu schwimmen und sich gleichsam wonnegrunzend darin herumzusielen, war ihm zur zweiten Natur geworden, wie dem schillernden Schmetterling das Verlangen, seinen Saugrüssel in den Kelch einer duftigen Blume zu tauchen. Und so stand er denn, hehre Gedanken und Gefühle in seinem schuldlosen Busen und unter dem schneeweißen Chemisettchen tragend, eine halbe Stunde zu früh unter dem ragenden Gewölbe des christlichen Tempels und lauerte sehnsüchtig auf das Erscheinen des Benediktiners und die heiligen Dinge, die da kommen sollten. Wie eine heiße Flamme lief es durch die Brust des jüdischen Mannes, der die festgesetzte Zeit der kirchlichen Trauerfeier nicht erwarten konnte – aber erst um acht Uhr sollte die Andacht beginnen. –

Karfreitagszauber gingen über die friedlichen Lande; die Seelen der Menschen schauerten in sich zusammen, denn es jährte sich wieder der Tag, von dem der Evangelist also verkündet: Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: ›Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist!‹ – Und als er dieses gesagt, verschied er. –

Die fieberheiße, pochende Stirn gegen die kühlen Scheiben gepreßt, ganz umstrickt von der Hülle dumpfen Verzagens, an sich und seinem klaren Verstande irre werdend, stand Johannes van Melle an diesem Abend am Fenster und sah mit blutendem Herzen auf die Menschen, die schweigend und zu dichten Scharen gedrängt dem Portale der Kirche zuströmten. Was kümmerten ihn die Leute da unten! – Unter dem Druck eines unabwendbaren Verhängnisses stehend, mit selbstquälerischer Lust ließ er die Bilder der letzten Wochen an seinem Geiste vorüberziehen. Nur mit Aufbietung seiner ganzen Willensstärke war es ihm möglich gewesen, gegen das Fieber anzukämpfen, das seit jenem traurigen Tage, seit der Katastrophe unter den Weiden sein Inneres beherrschte und sich anschickte, ihn auf das Krankenlager zu werfen. Wie Kerkerluft wehte es ihn an. Die düstere Tragik seines Geschickes und seiner verzehrenden Liebe, der Umschwung der bestehenden Verhältnisse und die geradezu ungeheuerliche Wandlung im Seelenleben des von ihm noch immer vergötterten Mädchens waren geeignet, ihn an dem Übermaße seines Schmerzes buchstäblich ersticken zu lassen. Wenn sein Vater recht behielte, wenn sich erfüllen sollte, was dieser ihm prophetischen Mundes und mit schneidender Härte entgegengehalten, als sie in herber Aussprache sich gegenüberstanden – es wäre zum Verzweifeln gewesen. Sein Inneres bäumte sich auf bei diesem Gedanken. Fast wörtlich traten die damals gesprochenen Worte vor seine bekümmerte Seele: Ich sehe schon das Ende vor mir. Gelähmt, mit gebrochenen Flügeln wirst Du in meine Arme zurückkehren wollen, wenn es zu spät ist. Ja, so hatte Abraham van Melle, sein Vater, mit dürren Worten gesprochen. Er empfand eine dumpfe Angst vor sich selber, es wurde ihm bange vor der eigenen Phantasie, die mit meisterhafter Bravour die Zukunft düster malte, die alles im Hohlspiegel auffing, verzerrt zurückwarf und bei ihm wildes Grausen erregte. Und wie das hämmerte in seinen Schläfen und pochte und glühte! – Aber war es denn wirklich zu spät für ihn? – Konnte er nicht ein neues Leben beginnen, konnte er nicht lassen von dieser qualvollen Leidenschaft, der zu frönen er sein Bestes hingeben sollte: seine Überzeugung in kirchlicher Hinsicht? – Abfall vom Glauben – und das, um die stetige Liebe eines begehrenden Weibes sein eigen zu nennen! – ein Äquivalent, bei dessen Erwägung sein Blut heftiger strömen und das eigene Schamgefühl ihm einen Schlag ins Gesicht geben mußte. Mit einem dumpfen Aufschrei fuhr er vom Fenster zurück. Der Laune, dem perversen Empfinden eines geliebten Weibes in dieser Hinsicht sich unterzuordnen, wäre schmachvoll gewesen.

»Arbeiten, arbeiten,« stöhnte Johannes van Melle, »und Vergessen trinken aus dem Brunnen der Selbstbeherrschung und der Entsagung!«

Ja – wenn er nur könnte, wenn es im Bereich des Möglichen läge! – Und wenn das Zurückdenken, das Erinnern nicht wäre! – Aber da stand sie, die Vergangenheit, und rief ihm die Stunden zurück, die er am Herzen dieses herrlichen Mädchens verträumt hatte, und bei diesem Gedanken war es ihm, als würde ihm von zauberischer Hand ein Kranz von Taumelmohn um die Schläfen geflochten. Ha! – wie das blühte und duftete, wie das berauschte und prickelnd seine Nerven umspielte! – Vergessen wollen und nicht vergessen können – entsetzlich!

Erregt warf er sich auf einen Sessel und preßte die hämmernde Stirn an die Tischkante. Das tat ihm wohl. Wie eine tiefe Lethargie kam es über seine gemarterten Sinne.

Gähnend stierte der Abend, der Karfreitagabend, in die einfache Stube. Nebenan gingen harte Schritte, gleichmäßig und von einschläfernder Monotonie. Es war der Prediger Abraham van Melle, der in seinem Arbeitszimmer auf- und niederschritt. So hatte er es schon viele Abende hindurch getrieben – ohne Ruhe, ohne Aufhören, kalt und bestimmt und mit einer erschreckenden Gleichförmigkeit. Was in der Seele dieses Mannes vorging, in der Seele dieses eisernen Mannes, dessen Kinn wie abgehackt, stumpf und energisch den unteren Teil des Gesichtes abschloß, dessen Wille so ehern fußte wie der Fels Petri, auf dem die Kirche Gottes gebaut steht, konnte nur der richtig ermessen, dem es vergönnt war, in die Nieren dieses starren, glaubensstarken und insichgekehrten Menschen zu schauen. Seit dem letzten Begegnen mit seinem Sohne war dieser gestorben für ihn.

»Beuge Dich – oder . . .«

Und der Sohn beugte sich nicht; er trotzte seinem Vater, obgleich dieser ihm von seinem Standpunkte aus die Verderbnis und Schrecken einer Mischehe mit scharfer Sophistik, unter Heranziehung eines Beispiels aus der eigenen Familie, vor Augen geführt hatte, obgleich er von Marie Verwahnen selber jene vernichtende Abweisung erfahren und aus ihrem eigenen Munde jene Bedingung auf religiösem Gebiet vernommen hatte, deren Erfüllung für ihn im Bereiche des Unmöglichen wurzelte. Nur um diesen Preis konnte und wollte sie die Seine werden und ihm angehören für immer . . . Und er? – Seit jenem Tage hatte er gegen die wilde Leidenschaft angekämpft und gerungen mit der Selbstverleugnung und dem verzweifelten Mut eines Mannes, dem die Scholle unter den Füßen wankend geworden, der sich gezwungen sieht, sein ein und alles auf die allerletzte Karte zu setzen. Ein jäher, grausiger Abgrund hatte sich vor ihm aufgetan, aber so, als hätte die Vorsehung in ihrer Allweisheit und Güte diesen gähnenden Abgrund geschaffen, der schroff schwindelnd, unüberbrückbar sich in eine unbestimmte, purpurblaue Tiefe verlor. Ein Überspringen desselben wäre der reinste Wahnsinn gewesen – und trotzdem . . .

Johannes van Melle griff sich mit einem heiseren Lachen an die pochenden Schläfen. Mit hängendem Kopf, vornübergebeugt und schleppenden Ganges begab er sich wieder ans Fenster, stierte in das wachsende Dunkel da draußen und in die matte Helle, die von der Kirche herüberflämmerte. Da lag ja der Abgrund! – von drüben lockte und wirkte eine magnetische Kraft, eine Willensprojektion, deren magischem Einflusse er sich nicht zu entziehen vermochte. Und da stand sie – das Wunderwesen, seine Heilige mit der Paradiesessehnsucht in der Brust, mit dem Madonnengesicht und trotzdem mit der ganzen Skala der irdischen Liebe im Herzen und angetan mit einem durchsichtigen Kleid, unter welchem man, wenn auch nur angedeutet, ihre seltenen Reize erblickte, gleichsam wie aus dem Spiegel eines klaren Wassers köstlich Gestein und das leuchtende Resedagrün rätselhafter Pflanzen in sanften Konturen herausschimmert. In weichen Linien drängte sich das milchweiße Licht ihrer jungfräulichen Formen aus der leichten Umhüllung, und ihre Augen schwammen in einem feuchten, spiegelnden Glanze. Ein wachsendes Feuer rötete die wachsbleichen Wangen, ihr Atem schwellte die Brust, und ihr, zu einem schmerzlichen Lächeln verzogener Mund konnte sich nicht mehr schließen. Und sie hob die nackten Arme und breitete sie ihm entgegen in heißer Verzückung. Ein fünfter, wundertätiger Windhauch strömte von jenseits des Abgrundes herüber und trug ihm das duftige Aroma zu, das von ihrem Körper ausging, belebend und seine Sinne betörend. Und sie stand inmitten eines dunkelblauen, ruhigen Wassers, abgrundtief – und Blumen stiegen aus der schimmernden Flut, Blumen so tieffarbig wie Lapis lazuli und schuldlos wie die frommen Lilien auf den galiläischen Bergen; über ihr spannte sich ein Himmel von fast flüssiger Klarheit.

Er sah nur sie. – Die Erinnerung an das, was sie ihm zugefügt hatte, drang nur undeutlich, schemenhaft in seinen Geist. »Marie, Marie . . .!« hauchte er mit fiebernden Lippen.

Und von drüben klang es mit vernehmlicher Stimme: »Vielgeliebter, Du hast nach mir verlangt; siehe, ich harre auf Dich; fasse ein Herz und überspringe den Abgrund.«

Sie beugte den Kopf zurück und griff mit beiden Händen an ihre Brust – aber eine dunkle Gestalt schwebte aufwärts in langer Gewandung und mit schwarzer Kapuze. Vor diesem Schemen verdorrten die Blumen. Und die dunkle Gestalt trug die Züge des fanatischen Küsters, und von seinem Munde klang es mit dumpfen und gespenstischen Lauten: »Du bist heilig – heilig – heilig . . .

»Ich komme, Marie!« schrie Johannes van Melle. Sehnend breitete er die Arme aus. Er gedachte, den Sprung in die purpurblaue Tiefe zu machen. Er sah noch, daß sie die schönen Augen schloß und schmerzlich lächelnd sich von ihm abwandte – dann verschwand die Geliebte. In Weihrauchwolken, die der betende Küster aus einem geschwungenen Rauchfaß emporsteigen ließ, zerfloß sie. Auch der Weihrauchspender löste sich auf; nur die unheimliche, murmelnde Stimme tönte wie vorhin: »Heilig – heilig – heilig . . .

»Wenn auch die Herzen zusammengehören – die Seelen müssen sich scheiden für immer,« sagte Johannes van Melle und sah auf die Straße. Die letzten Kirchengänger zogen vorüber. Im trüben Laternenschein bemerkte er, wie etliche von ihnen auf das evangelische Pfarrhaus deuteten. Andere blieben stehen und verhandelten leise zusammen. Er fühlte es, daß sie über ihn sprachen.

Und jetzt . . .

Zum ersten Male sah er sie wieder.

Da ging sie.

Ein jäher, körperlicher Schmerz durchzuckte ihn; in diesem Schmerz erkannte er den völligen Zusammenbruch seines inneren Menschen. Wütend preßte er die vom Fieber durchmarterte Stirn an die kühlenden Scheiben. Von Schauern durchrüttelt verfolgte er die Vorübergehende mit gierigen Blicken. Einer unbekannten Macht, einem unentrinnbaren Zwange anheimgegeben, wie unter dem Einfluß eines dunkeln Kultes stehend, war er hilflos der zwingenden Hypnose des verführerischen Weibes verfallen, das in diesem Augenblick den breiten Lichtschein der flackernden Laterne durchquerte.

Schultern und Hinterkopf in die Falten eines schwarzen Tuches gehüllt, Schläfen und Kinn mit weißem Linnen umkleidet, überirdisch und nonnenhaft schien sie vorüberzuschweben.

Sie ging zur Kirche.

Aus gepreßter Seele stöhnte er auf. Es gab keinen Rückweg mehr für ihn; sein Schicksal war mit jenem Weibe verkettet. Haltlos, in zügelloser Leidenschaft, die ihn immer gieriger umwehte, beachtete er nicht die zerfleischende Tatze, die aus jenem Rausche sich löste.

»Marie – Marie . . .

Der Schrei mußte nebenan gehört worden sein. Die Tür öffnete sich, ein heller Lichtbalken fiel in den dunkeln Raum, und mit harten Schritten trat Abraham van Melle ins Zimmer. Sein Gesicht war wie immer kalt, hölzern, gefühllos, und dennoch: lag nicht tief in den Augenhöhlen ein Etwas, das an Mitleid erinnerte – an Mitleid, seinem Sohn, seinem einzigen Kind gegenüber? War das Herz dieses Mannes überhaupt so pedantisch, so ehern und rücksichtslos, wie es den äußeren Anschein hatte? – Unter der Ichsucht eines eisernen Willens, unter der strengen Doktrin des orthodoxen Menschen und Predigers, die gleich isländischen Eis- und Felsenblöcken das Äußere des Insichgekehrten umklammerten, barg sich dennoch das Feuer aufopfernder Vaterliebe, ebenso heiß wie das Feuer auf Island; und wenn es die starre Schale durchbrach, wenn es auflodern konnte . . . Selten geschah es. Die Fels- und Eisblöcke waren wie Granit – und heute hatte die Glut nicht die Kraft, wollte sie nicht haben, siegreich an das Licht des Tages zu dringen. Nur ein mattes Flackern deutete an, was Abraham van Melle bewegte.

Schwer legte sich die Predigerhand auf die Schulter des Sohnes.

»Ich komme noch einmal wieder,« sagte er im rauhen Tone. »Willst Du dem verhängnisvollen Dämon entsagen, willst Du lassen von dieser Gauklerin, die Gott und ihrer eigenen Kirche Gewalt antut und ihre blöden Mitmenschen am Narrenseile hinter sich herschleppt – willst Du wieder Deiner Pflicht, Deinem Studium leben und Deinem Vater gehorchen und ihm zugetan sein, auf daß es Dir wohlergehe auf dieser Erde? – Noch liegt die Welt vor Dir; betätige Dich in ihr, reiße das Bild aus Deinem Herzen, das Dich irreleitet und schließlich Dein Verderben herbeiführt. – Willst Du – willst Du, mein Sohn? – Ich glaube, wir stehen heute zum letztenmal uns gegenüber, wenn Du verharren solltest in Deiner sündigen Liebe. – Johannes . . .

Mit der Rechten umklammerte er das Handgelenk des sprachlos vor ihm Stehenden: »Du hast ja dieses Weib nicht gekannt und wirst es nie kennen lernen . . .«

»Was?!«

Glasige Augen starrten ihn an.

War das sein Sohn – oder hatte das Fieber, der Irrsinn . . .?

»Johannes . . .

Milde vibrierte die Stimme des Vaters: »Du bist krank; Du hast nicht nur einen Seelsorger, sondern auch einen Arzt vonnöten.«

Kraftlos brach der Studiosus auf einem Lehnstuhl zusammen.

Abraham van Melle klingelte.

Die Haushälterin kam.

»Trage Sorge um ihn,« sagte der Prediger, »ich gehe zu Barthes Terwelp.«

Mit großen Schritten, das Gesicht äschern und die Hände in nervöser Erregung, verließ er das Zimmer.

 


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