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Eine Menschenseele war vor einer schweren Sünde gerettet, aber nicht befreit von dem nagenden Wurm, der da drinnen bohrte und wühlte. –
Bei den Webersleuten war noch Licht. Neben der Tür war's hell, und oben, wo die roten Pfannen über ein windschiefes Dachfenster liefen, war auch Licht. Unten aber lagen die rohgezimmerten Blenden vor, und der matte Schein vermochte nur durch herzförmige Ausschnitte, die sich in den Brettern befanden, auf die Straße zu schlüpfen, während das Licht im Dachzimmer frei in den Nebel hinausirren konnte.
Und Johannes van Melle stand da und stierte klopfenden Herzens nach dem Giebelfenster, aus dem der breite Lichtbalken hervortrat. Er achtete nicht auf das geheimnisvolle Rauschen, welches aus dem kleinen Garten tönte, nicht auf die warnende Stimme, die ängstlich und immer dringender aus seinem Innern hervorzitterte. Ein lindes Säuseln war um ihn, ähnlich dem kaum wahrnehmbaren Geräusch von mächtigen Schwingen, die sich nur leise bewegten. Sollte wieder der Todesengel den Weg zu ihm gefunden haben?
»Gehe von hinnen,« sagte zum andern die Stimme, und dennoch blieb er und stand auf der Stelle wie angenagelt, denn er sah sie dort oben auf- und niedergehen – die Wachsmarie – und das Oberkleid hatte sie abgelegt . . .
Auch die Alte war noch nicht schlafen gegangen. Trotz der vorgerückten Stunde arbeitete sie noch. Deutlich hörte er das dumpfe Gewuchte der Lade, den scharfen Gang des Kontermarsches und das rhythmische Schlurren des hin- und hergeworfenen Schiffchens, dessen ausgeprägtes Klappern von einem dumpfen Gehummel begleitet war. Und da drinnen: ein gehäkeltes Wolltuch um die Schultern, mit geröteten Augenlidern, von dem unruhigen Schein einer Küchenlampe beleuchtet, saß Hille Verwahnen im Webstuhl und ließ unermüdlich das Schiffchen hin und her tanzen. Die Abendandacht hatte sie nicht besucht. Sie machte sich kein Gewissen daraus, denn trotz ihres gläubigen Gemütes schien ihr die Arbeit, die sie unter den Händen hatte, ebenso gottwohlgefällig und heilig zu sein wie die Karfreitagpredigt des Herrn Paters Bonaventura. – Mit dem heutigen Tage jährte sich der dritte Karfreitag, an welchem sie ein und dasselbe Leinenstück eingespannt hatte, um es bis kurz vor Mitternacht fertig zu weben. Und sie mußte es fertig machen; konnte bis dahin die Arbeit nicht bewerkstelligt werden, ihre Mühe und ihr emsiges Schaffen wäre umsonst gewesen. Sie hätte von neuem beginnen müssen, und das hätte ein gottseliges Sterben doch sehr in Frage gestellt; denn was da aus dem Rahmenwerk heraussah, war nichts geringeres als ihr Totenhemd, das ein leichtes Einschlafen und die ewige Seligkeit so gut wie verbürgte, wenn es vor Schluß des dritten Karfreitags tadellos, ohne gefallene Maschen und ungeknotet aus dem Webstuhl hervorging. Diese christliche Überzeugung wurzelte in ihr, und keine drei Pferde hätten dieses Glaubensaxiom ihrem Herzen entreißen können. Darum ihr emsiges Schaffen in später Nacht, ihre fröhliche und zuversichtliche Stimmung, weil sie annehmen konnte, daß mit dem elften Glockenschlage die Arbeit getan sei. Aber sie mußte sich sputen; der Tod liebt Überraschungen, und jeden Tag konnte er die Fiedel spielen und sagen: »Mutter Verwahnen, nun kommt die letzte Mazurka!« – Wenn aber alles bereit lag, gut, dann mochte er kommen, dann konnte er zum letzten Hopser aufspielen; das Karfreitagshemd hatte ja seine geweihte Kraft, und die Geige spielte infolgedessen die arme Seele direkt in den Himmel hinein – und das war denn doch eine andere Sache!
Mutter Verwahnen unterbrach auf kurze Zeit ihre Arbeit. Mit einer Haarnadel, die sie unter der weißen Haube hervorzog, längte sie den niedergebrannten Docht und fachte das kurzatmig gewordene Flämmchen zu neuem Leben an. Und wieder stampfte die Lade, und wieder exerzierte der Kontermarsch, und Mutter Verwahnen saß zwischen Lade und Stuhlsäulen, zwischen Spulrädern und Garnsträhnen und ließ alte Bilder und alte Zeiten vorübergleiten. Am liebsten wallfahrtete sie beim Weben. Es war ihr dieses die schönste Jugenderinnerung. In Gedanken zog sie mit wehenden Kirchenfahnen über die Landstraßen nach Marienbaum und Kevelaer, berühmte Gnadenorte, die sie schon von frühester Jugend an kannte. Vor allen Dingen lag ihr Kevelaer am Herzen: kein Wunder, denn sie war dort geboren, hatte dort ihre Mädchenjahre verlebt, hatte von dort aus geheiratet – und schließlich war sie eine geborene Buschmann.
Heute hatte sie ihren Kevelaerer Tag, aber sie befand sich nicht unter den frommen Pilgern, sondern sie saß als kleines Mädchen mit ihrem Großvater an der staubigen Chaussee, auf der eine unabsehbare Prozession der begnadeten Stadt entgegenzog. – Ein stahlblauer Himmel liegt über der Landschaft. Die Sonne brütet und kocht, und ihre spitzen Strahlen stechen wie Bremsfliegen. Die weißen Häuschen von Kevelaer stehen im flimmrigen Licht, die schlanken Pappeln rühren auch nicht das kleinste Blättchen; kein Hälmchen am Straßenraine zeigt eine Bewegung. Die kobaltblauen Sterne der Zichorienstauden vergessen das Atmen, denn weißlicher Mulm hat sich auf ihre Staubfäden und in ihre Kelche gesetzt, und kein Lüftchen regt die Schwingen, ihn hinwegzufegen. – Und jenseits der strohgelben Roggenfelder breitet sich die Kevelaerer Heide im Sonnenlicht; die Luft zittert darüber, als hätte sie das Nervenzucken bekommen. Mitten im Roggen stehen einige Scheumänner, um die körnerlustigen Spatzen zu vertreiben. Blaue und rote Kirchenfahnen ragen aus dem Korn hervor, getragen von barhäuptigen Männern in weißen Chorhemden, über deren Gesichter der Schweiß in großen Perlen niederträufelt. Weiber und Männer aus allen Berufsschichten, viele lahmend und mit sonstigen Gebresten behaftet, aber alle mit gedunsenen Köpfen, die Schuhe bestaubt, schweißtriefend und sich nur noch mit Aufbietung aller Kräfte fortbewegend, ziehen in zwei endlosen Reihen, die Mitte der Straße freilassend, vorüber und senden heiße Bittgesänge zu der Alleserbarmerin, deren schlichtes Bildnis in der Kirche zu Kevelaer hängt und durch deren Fürbitte so manches Leid gehoben wird, das schwer und traurig auf dem irdischen Dasein lastet. Gläubigen Herzens, funkelnden Auges und sich sehnend, die trockenen Lippen auf das Gnadenbild pressen zu dürfen, schlurfen und beten sie weiter. So sind sie schon seit vielen Stunden gezogen. Endlos dehnt sich die Straße. Roggenfelder und Heide, Buchweizenäcker und ausgetrocknete Wiesen, Birn- und Apfelbäume, hier und da ein Steinhaufen, ein Schlagbaum, den die Kommunalverwaltung zur Mehrung des knappen Seckels aufgerichtet hat, das ist alles, was rechts und links von der gepuderten Chaussee liegt – eintönig, langweilig . . . Aber jetzt atmen die durstigen Seelen auf; die Tritte werden fester, die Gebete nehmen an Inbrunst zu, die Stimme strafft sich wieder, die Köpfe werden freier von den müden Schultern getragen, denn dort zwischen den hochaufgeschossenen Kiefern, zwischen Hecken und Gärten taucht das ersehnte Heil mit seinen Kirchen und kleinen Häusern auf: Kevelaer. Von Zeit zu Zeit kommt die Gestalt eines Heerohmes gewandelt. Die Schnallen blitzen auf den grauen Schuhen. Neben ihm, die Bruderschaftsstange mit der Silbermedaille in der Rechten tragend, in der Linken Taschentuch und Rosenkranz, mit verquollenem und blaurotem Gesicht schreitet der Vorbeter in aufgekrempelten Hosen und schwarzem Gehrock. Ab und zu fährt er sich mit dem baumwollenen Taschentuch über Kopf und Stirne und wischt sich den hellen Schweiß aus dem Nacken. Die Füße wollen kaum noch weiter, aber die Stimme hält aus; unermüdlich hallt sie über die glutatmende Landstraße:
»Du unbefleckte Mutter!«
»Bitte für uns!«
»Du elfenbeinerner Turm!«
»Bitte für uns!«
»Du Königin der Patriarchen!«
»Bitte für uns!«
Weit voraus sind die ersten, und noch ist das Ende des Zuges nicht abzusehen.
»Bimmel, bimmel, bimmel . . .!«
Die hektischen Glocken von Kevelaer begrüßen den Vortrab, und wieder ertönt die Stimme des Vorbeters und die einförmige Antwort der Menge über Roggenfelder und Buchweizenäcker:
»O, Du Lamm Gottes, welches Du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«
»Herr, erbarme Dich unser!«
»Christe, erbarme Dich unser!«
»Bimmel, bimmel, bimmel . . .!«
Großvater deutet auf die gläubigen Menschen. Seine verstümmelte Hand zittert wie die Heide dort hinten.
»Sieh mal, Hilleke,« sagt er, »wenn mein Ururgroßvater Heinrich Buschmann nicht das Marienbildchen gestiftet hätte, wenn ihm nicht die heilige Stimme gekommen wäre: Hier sollst Du mir ein Heiligenhaus bauen! – dann wäre auch Kevelaer nicht, dann wären auch die Prozessionen nicht und die Kirchenfahnen nicht und die Wachsbeine und Wachsarme und Wachsherzen nicht – aber daß es so ist, das haben wir alle dem Heinrich Buschmann zu danken, und – Gottdomie noch mal! – darauf können wir Buschmanns stolz sein, und auch Du, Hilleke, denn Du bist auch eine Buschmann.«
»Oh!« sagt Hilleke und betet weiter.
»Christe, höre uns!«
»Christe, erhöre uns!«
»Bimmel, bimmel, bimmel . . .!«
Die Sonne sticht immer heftiger, der Weihrauch steigt, die letzten Wallfahrer humpeln vorüber, Wagen und Karren mit weißen Spriegeltüchern folgen, von den Karrenplanken baumeln die Beine der Marodegewordenen, Spitze bellen gegen die mahlenden Räder, die Kevelaerer Heide schimmert jetzt in violetten Tönen herüber, Großvater hat sich gegen einen Pappelbaum gelehnt und ist eingeschlafen, und munter schrillert die Goldammer über den Roggen: »Wie, wie hab' ich Dich lieb . . .!« –
Und Hille, jetzt wieder zu Mutter Verwahnen, geborene Buschmann, geworden, träumt sich noch einmal in die alte Zeit zurück; sie sitzt im Webstuhl und betet mit lauter Stimme: »Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir, heilige Gottesgebärerin! – O, Du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau, unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns mit Deinem Sohne, empfiehl uns Deinem Sohne, stelle uns vor Deinem Sohne!« – Ja – Mutter Verwahnen hatte heute ihren Kevelaerer Tag – und da merkte sie doch, daß sie eine geborene Buschmann, eine Nachfahre des berühmten Heinrich Buschmann war, daß sie eine Tochter besaß, ebenso gottbegnadet wie jener, die überirdische Kräfte verspürte, heilige Gesichte hatte und mit der allerseligsten Jungfrau Maria in offenbarer Wechselbeziehung stand, eine Erkenntnis, die ihr Herz höher schlagen ließ, und vornehmlich heute, wo sie sich anschickte, die letzten Schluß- und Kettenfäden für ihr Sterbehemd ineinanderzuweben.
Noch einige Male stampfte die Lade, flog das Schiffchen hin und wieder, als Mutter Verwahnen mit einem tiefen Seufzer innehielt, liebevoll mit der runzeligen Hand über das weiße Linnen fuhr und sich im Webstuhl zurücklehnte. – Sie hatte ihre Arbeit getan; das Sterbelaken war fertig, und somit konnte sie getrosten Mutes den schrillen Klängen der letzten Mazurka entgegenharren. Sie war heute in einer besonders feierlichen und gehobenen Stimmung. Unwillkürlich lauschte sie nach oben, ob sich nicht wieder die unerklärbaren Klopflaute und die leichten Walzerschritte erhöben, die jedesmal den Erscheinungen ihrer Tochter als bedeutsame Vorboten vorangingen. Die ungewöhnliche Abwechslung dieser Laute, die sich bald in scharfer und trommelnder Weise, bald in dumpfen und sich langsam folgenden Tönen vernehmen ließen, die zierlichen und gleichsam schwebenden Pas der Walzerschritte, begleitet von einer Musik, die Ähnlichkeit mit Harmonikaklängen hatte, übten einen eigenen Reiz auf die Alte aus. Mutter Verwahnen hörte es gern, und mit gespannter Aufmerksamkeit harrte sie auf den Moment, wo es wieder losginge im Hause.
Der Webstuhl pausierte, die schwere Lade rückte und regte sich nicht; kein Laut ließ sich im ganzen Hause vernehmen, und nur die Lampe knisterte ab und zu durch das qualvolle Schweigen. Groß, wie aus einem schwarzgetönten Papierbogen geschnitten, lag das Schattenbild der Alten auf der gegenüberliegenden Kalkwand. – Die Gedanken auf ein und denselben Punkt gerichtet, saß Mutter Verwahnen mit gefalteten Händen, und es kam ihr vor, als wenn jemand auf lautlosen Socken zu ihr käme, den Mund an ihr Ohr legte und ihr zuflüsterte: »Jetzt kommt was.«
Aber es kam nichts.
Keine Walzerschritte und keine Klopflaute ließen sich hören; dafür aber pflügten sich ihre Gedanken immer mehr in das dumpfige Erdreich des Phantastischen und Spukhaften hinein.
»Jetzt kommt es,« flüsterte zum anderen die Stimme.
Und wieder nichts.
»Aber jetzt . . .!«
Sie hatte es deutlich gehört.
»Jesus, Maria . . .!«
Da waren sie wirklich – die ersehnten Klopflaute. Sie kamen von draußen – jetzt von oben – jetzt aus der Nebenkammer . . . und jetzt, wie sie es bei dieser Gelegenheit gewöhnlich tat, mußte die Tür lautlos und ohne fremde Hilfe aufspringen. Sie tat es nicht; ruhig verharrte sie in ihrem bisherigen Zustand – aber die Pochlaute dauerten fort. Ja – es wurde draußen geklopft. Dazu eine Stimme: »Mutter Verwahnen! – Mutter Verwahnen . . .!«
Sie stand auf, trat aus dem Webstuhl, ergriff die Küchenlampe und schritt der Haustür zu. Spukhaft glitt ihr gigantischer Schatten über die Kalkwände.
»Wer ist da draußen?«
»Ich!«
Jetzt wußte sie, wer angeklopft hatte.
Sie öffnete die Tür – und Johannes van Melle stand vor ihr. Gleichzeitig ließ sich ein inbrünstiges Beten von obenher vernehmen.
»Ah, Du . . .!« sagte Mutter Verwahnen mit erstauntem Gesicht. Die verstörten Züge des vor ihr Stehenden fielen ihr auf.
»Wo ist Marie?«
»So spät noch?«
»Ich muß zu ihr.«
»Du . . .?«
»Ja – wo ist sie?«
»Auf ihrer Kammer – sie betet. – Hörst Du? – Sie ist heilig – sagen die Leute.«
Ein bitteres Zucken drängte sich auf seine Lippen. Er schob die Alte zurück.
»Wohin?«
»Dort hinauf!«
Er hatte den Fuß auf die ersten Treppenstufen gestellt, aber Mutter Verwahnen wollte ihm den Weg vertreten. Da ging ihm das Blut zu Kopf, und er ballte die Faust: »Ich habe allein mit ihr zu sprechen – verstehst Du.«
Mutter Verwahnen schreckte zurück. So hatte sie den jungen Mann noch nie gesehen.
In wenigen Sätzen war er oben. Er tastete sich durch die Dunkelheit und folgte dem schwachen Lichtschein, der durch eine feine Türspalte fiel. Jetzt fand er die Klinke; er drückte darauf und trat ins Zimmer.
Da war nicht viel zu sehen. – Zwei Wachskerzen erleuchteten die kahlen Wände. Ein Muttergottesbild hing am Kopfende über der schlichten Bettstelle, darunter befand sich ein zinnernes Weihwasserkesselchen, aus dem die frischen Blätter eines Buchsbaumzweiges hervorsahen – aber neben einem Betpult stand Marie Verwahnen, halbentkleidet und genau so, wie er kurz vorher ihren Schattenriß von der Straße aus bemerkt hatte. Das Schnürwerk eines Rosenkranzes war um die Finger der linken Hand geschlungen.
Bei seinem Eintritt hatte er die Tür zugeschlagen und den Riegel vorgelegt.
Sie waren allein . . .
Ruhig sah die Wachsmarie den Eintretenden an. Ihre Mienen bekundeten keinerlei Erregung, ihr Atem ging nicht stärker als sonst, leise hob und senkte sich ihre Brust unter dem leichten Webwerk, das die sanftgewölbten Schultern, die gerundeten Arme und den schlanken Hals mit dem feinen Geäder freigab – aber tief innen, in dem verführerischen Farbenspiel ihrer verzückten Augen stieg ein gefährliches Feuer auf, eine Willenskraft, die sich nicht beugen ließ. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als müßte sie einen Schleier entfernen, als verstände sie nicht, was eigentlich um sie vorginge, und gerade diese erkünstelte Ruhe, diese Beherrschung ihres inneren Menschen wehte ihn an wie ein Wunder berückender Schönheit, umgab ihn mit einer Atmosphäre, die den feinen Wildgeruch des Sinnlichen streifte. Ein dürstendes Verlangen kam über ihn. Daß er sie mit verzehrender Glut liebte, daß sie ihn bis zum Wahnsinn getrieben hatte, das wußte er, aber daß sie so schön, so berauschend schön war, nein – das wußte er nicht, das sah er erst heute. Der ganze Blütenregen ihres jungfräulichen Zaubers triefte um ihn, und in schneller Folge zogen ihm die Bilder längst vergangener Tage vorüber, alles Bilder, die ihn an die Stunden des höchsten Glückes erinnerten. Seine düsteren Blicke richteten sich voll leidenschaftlicher Gier auf die berückende Mädchengestalt. Er fühlte sich von Schauern durchrüttelt wie der Baum in der Frühlingsnacht.
Die Kerzen wurden zu heiligen Flammen, die den Marmor ihres herrlichen Leibes umspielten.
Er sah die zierlichen Konturen ihres geschmeidigen Körpers, die bläulichen Flugschatten der Schultergelenke, die fast durchsichtige Wachsfarbe der Stirne, des ganzen Gesichtes . . . und das sollte er alles verlieren?! – Verlieren für immer . . .?!
Das leichte Gewand, die weiche Beleuchtung des Zimmers wirkten erregend auf ihn.
Bevor sie es zu hindern vermochte, riß er sie an sich: »Du . . .!«
Mit einem leichten Schrei bog sie sich rücklings.
»Du!« hauchte er wieder, »und weißt Du, warum ich gekommen bin?«
Sie schüttelte den Kopf. Die fast durchsichtigen Nasenflügel öffneten sich über dem halbgeöffneten Munde. Die Starrheit ihres ganzen Wesens hatte etwas Krampfartiges an sich. Sie schloß die Augen . . .
Um ihre Mundwinkel legte sich wieder jenes herzzerreißende Mienenspiel, das er schon einmal bei ihr bemerkt hatte. Sie hob die Arme, legte die Hände zusammen und preßte sie auf die untere Rundung des blendenden Halses. Die tiefblauen Perlen des Rosenkranzes bargen sich scheu in den Zwischenraum der nur wenig verhüllten Brüste. Eine herbe, unbezwingliche Jungfräulichkeit ging von ihr aus, gepaart mit einer magnetischen Kraft und einer dürstenden Sehnsucht, die ihn in einen Dunstkreis von Betäubung versetzten. Er sah nur sie, er fühlte nur sie, er wußte, daß er nur leben konnte für sie . . . Um ihretwillen wollte er ja alles entäußern, aufopfern, was ihm sonst teuer, heilig und unveräußerlich war auf dieser Erde und im Jenseits. Mit lechzenden Blicken versenkte er sich in die wundersamen Geheimnisse des vor ihm stehenden Weibes. Willenlos glitt er zu ihren Füßen nieder und umspannte sie mit sehnenden Armen: »Erlöserin!«
Er hatte seine Selbstbeherrschung verloren.
»Johannes,« sagte sie mit weicher Stimme.
»Erbarme Dich meiner, erlöse mich, schenke mir den Frieden für immer!«
Sie schüttelte leise das Haupt; aber sie beugte sich nieder, und ihre weißen Hände fuhren leicht durch die Haare des vor ihr Knienden.
»Es kommen noch glückliche Stunden für Dich,« flüsterte sie, »wenn Du vergessen gelernt hast.«
War das die Antwort?
»Lerne vergessen,« sagte sie noch einmal, aber kaum zu verstehen, wie hingehaucht. Und sie beugte sich tiefer und senkte die Lippen auf seine Stirn. Da schlang er die Arme fester um sie, und alles versank vor ihm: Vater, Mutter, Kirche und Glaube – als er mit heißen Worten ihr entgegenstammelte: »Marie, ich will ja alles, ich tu' ja alles, was Du willst! – Ich lasse meinen Glauben um Deinetwillen – nur liebe mich! – Ich sterbe, ich vergehe unter den lechzenden Gluten! – Fühlst Du nicht, wie es hämmert und pocht?! – Das ist das rasende Fieber, das mich verzehrt. – Nur unter Deinen Händen, nur durch Deine Liebe kann ich genesen – will ich gesunden! – Sei mein fürs Leben, und leben will ich in Deinem Glauben. Deine Kirche sei meine Kirche, Dein Gebet sei mein Gebet – nur Liebe, Liebe . . .!«
Sie stand regungslos – aber plötzlich umfing sie sein Haupt, küßte seine Augen und küßte den armen Mund und ließ die Lippen darauf rasten – lange, lange.
»Mit diesem Kusse kaufe ich mich los von Dir,« sagte sie leise und mit bewegter Stimme. »Lebe wohl, lieber Johannes.«
»Was . . .?!«
Mit einem dumpf abgebrochenen Laut fuhr er vom Boden: »Auch jetzt nicht, wo ich Dir alles gebe, wo ich um Deinetwillen alles abstreifen will, was mir heilig gewesen ist im Leben? Auch da nicht?!«
Wieder machte sich das herzzerreißende Lächeln um ihre Mundwinkel bemerkbar.
»Es ist zu spät,« sagte sie ruhig.
Nicht die geringste Erregung zeigte, was in ihrem Inneren vorging. »Nie mehr, nie mehr!« fuhr sie mit demselben Tonfall fort. »Ich gehöre nicht mir – ich gehöre nicht Dir mehr – ich gehöre dem Himmel.«
»Marie . . .!«
Seine Stimme klang gellend.
»Du mußt gehn. Lebe wohl, lieber Johannes.«
Aber das ging nicht so leicht.
Er tat einen Schritt vor. Seine Brust keuchte. Er hatte die Arme um ihren Leib geschlungen und seine heißen Schläfen an ihre nackten Schultern gepreßt: »Du willst nicht?!«
Geschmeidig bog sie sich im Kreuz. Ihr Atem berührte ihn, ihre weichen Formen machten ihm die Sinne trunken. Beide Hände stemmte sie gegen seine Stirn und stieß ihn zurück: »Heilig, heilig, heilig . . .!«
»Um Gottes willen – Marie . . .!«
»Es ist zu spät,« keuchte sie mit offenem Munde. »Sieh her...!«
Sie hielt ihm die Handflächen entgegen. Ihre Augen weiteten sich wie unter dem Einfluß eines himmlischen Gesichtes. Sie waren hyazinthblau, dunkel und glänzend zugleich und schillernd wie Mondsteine.
»Siehe die Wundmale des Herrn!«
Johannes van Melle prallte zurück. War das fanatische Wut oder Wahnsinn?! – Tiefes Mitleid, grenzenloses Erbarmen flog ihn an.
Sie aber streifte das dünne Gewebe von den Schultern – und als sie die Arme breitete, entwickelte sich die ganze schöne Linie ihres Körpers und die keusche Nacktheit ihrer jungfräulichen Büste. Ihre Taille bog und reckte sich, durch ihre Wangen rieselte warmes, dunkles Blut, das den überirdischen Glanz ihrer offenen Augen noch erhöhte. Ein angstvolles Atmen erschütterte ihren Leib. Mit beiden Händen deutete sie auf die linke Brust, die, mit zartbläulichem Ton überhaucht, aus der Marmorfläche herauswuchs: »Sieh her – Du! – Das Zeichen von Golgatha! – Siehe das Stigma! – Hier fuhr die Lanze des römischen Knechtes hinein. Sieh, wie es blutet und rinnt . . .! – und mit ihm, dem Abgesandten des Herrn, kehre ich ein zu den ewigen Freuden des Paradieses!«
»Mit wem?!« schrie Johannes van Melle.
»Mit Bonaventura.«
»Bonaventura . . .?!«
Eine furchtbare Ahnung blitzte in seinem Hirn auf.
»Der . . .?!« schrie Johannes van Melle. Er stierte vor sich hin, als suche er etwas, als müsse er eine verlorene Spur wieder finden. Aber wie er auch suchte, Gras war darüber gewachsen, sie lag verwischt, und wenn sie auch unter der Grasnarbe fortlief und weiterkroch, für ihn in seiner jetzigen Verfassung war sie unauffindbar geworden. Warum auch hatte Moses Herzlieb den Todesengel von seiner Seite gescheucht? Wäre es nicht geschehen, vielleicht wäre es besser gewesen. Aber jetzt lebte er, und sie lebte, und so weiter leben müssen mit dieser Qual, mit dieser verzehrenden Sehnsucht zwischen den Rippen – da gehörten denn doch andere Kräfte dazu wie diejenigen, über welche er verfügte. Und hatte er denn solche überhaupt noch? – Nein! – Seine Kraft war so gut wie verzehrt, und der spärliche, ihm noch verbleibende Rest war brüchig geworden. Das wußte er, das erkannte er . . .
Und da kam die Wut über ihn. Es war dieselbe Wut, die ihn damals auf der Weidenkoppel bei dem geretteten Deich übermannte. Aber dieses Mal war sie tiefer, nachhaltiger, grimmiger.
Sein heiliger Tempel war eingestürzt, die Bausteine lagen verstreut, die Werkmeister waren verjagt . . . Schutt überall, mit Giftpflanzen dazwischen, und darüber stand ein versengender Himmel. – Staub, Einöde und Wüste! – und sein eigenes Leid saß auf den Trümmern des eingefallenen Tempels und weinte. Und er sah dieses Leid auf dem morschen, verwitterten Schutt seines Glückes sitzen – und die Tränen wollten ihm kommen.
Aber sie kamen nicht; die Wut unterdrückte sie.
»Bonaventura . . .?!«
Sie fühlte sich mit eisernen Klammern umstrickt. Ein leidenschaftlich verzerrtes Antlitz stand ihr gegenüber. Seine Brust arbeitete, seine Augen waren mit Blut unterlaufen.
»Also das ist das Ende!« knirschte er zwischen den Zähnen und schleuderte ihre Hände zurück.
Sie stand so ruhig wie vorhin. Die Worte verfingen bei ihr nicht mehr. Die Starrheit ihrer Glieder löste sich nicht auf. Sie stand, als hätte sie ein Gesicht, und dieses Gesicht . . .
Kaum wahrnehmbar hob sie den Kopf.
»Was soll ich denn?« fragte sie.
»Vermaledeite!«
Ein seliges Lächeln dehnte ihre Lider weit in die Länge.
Er trat näher.
»Ehe der Hahn zweimal gekräht, hast Du mich dreimal verleugnet.«
Diese Worte des Herrn traten ihm in den Sinn.
In abgerissenen Lauten gab er sie von sich. Dann stöhnte er auf: »Du hast mehr getan,« keuchte er aus verzweifelter Brust. Er rüttelte ihre Schultern. Seine Blicke senkten sich kalt in die ihren. »Du hast mein ganzes Leben vergiftet. – Du hast mich betrogen um meine Jugend, um mein Glück, um meine Überzeugung. – Dürr ist alles um mich. – Ich verdurste in dieser Öde, die Du um mich gespreitet. – Gib mir zu trinken . . .! – Aber so seid Ihr . . .! – Kaum, daß Eure Brüste ausgereift sind, saugt Ihr die Lebenskraft aus unserm Blut, setzt den Fuß auf den Nacken desjenigen, der liebestoll seine Würde verlor und sich dem Staube genähert. – Aber das ist alles ja Wahnsinn . . .! – Das ist ja . . .! – Ich halte Abrechnung mit Dir . . .! – Ich will . . .«
Er taumelte vorwärts.
Von Entsetzen gepackt, stieß sie einen wilden Schrei aus.
Draußen hämmerte eine Faust gegen die Haustür. Auf der Treppe ließen sich polternde Schritte vernehmen – dann wurde an der Klinke gerüttelt . . .
Johannes van Melle hörte noch das dumpfe Gepolter; es war ihm, als würde die Tür gesprengt, als sähe er das leberkranke Gesicht des unheimlichen Küsters und die weiße Haube Mutter Verwahnens . . . Dann flirrte alles durcheinander wie die Glaspartikel in einem Kaleidoskop – und diese Glasstückchen setzten sich allmählich kunstgerecht zusammen. Eine hohe Gestalt bildete sich, und diese Gestalt trug schwarzweiße Benediktinergewandung und einen Schwärmerkopf mit Tonsur.
Tanzende Nacht legte sich um ihn. Nur ab und zu ging ein Wetterleuchten in weiter Ferne. –
Als er die Augen aufschlug, wußte er nicht, wo er war. Auch kannte er nicht Tag und Stunde und nicht das Gesicht, das sich über ihn gebeugt hatte. –
Es war Karsamstag geworden, und das harte, aber verweinte Antlitz, das über ihm stand, war das seines Vaters – des Predigers Abraham van Melle.