Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Zwischen Vater und Sohn

Ungefähr eine Stunde vor dem Begebnis auf dem Rheindamm schritt ein großer, hagerer Mann mit zugeknöpftem Ueberrock und weißer Halsbinde in seinem kahlen, bläulich getünchten Studierzimmer hastig und in nervöser Unruhe auf und nieder. Das Gesicht war wie aus Holz geschnitten – unbeweglich, starr und gefühllos. Der kurzgeschorene, graumelierte Bart zog sich schmal über die Backen hin, lief die Kinnladen entlang und vereinigte sich oberhalb der Halsbinde, so daß das harte Gesicht in seiner unteren Hälfte wie mit einem eisgrauen Rahmen umzirkt schien. Straff gescheiteltes Haar bedeckte den Kopf; nur die hohen Schläfen sprangen zurück. Unterhalb des zusammengekniffenen Mundes hatte ihm die Natur das Kinn stumpf und energisch nach vorwärts geschoben. Tiefeingerissene Falten, die sich von den Nasenflügeln nach den Mundwinkeln verliefen, vermehrten das Hölzerne, Grobzügige und Energische im Gesicht des ruhlos auf und nieder schreitenden Mannes. Die Hände waren auf dem Rücken zusammengelegt, die Augen mit den mächtigen Brauen zu Boden gerichtet.

Kalt, frostig und unbehaglich wie die äußere Erscheinung des Insichgekehrten war auch die Ausstattung der geräumigen Stube. Weiße Mullgardinen hingen vor den Fenstern, schwarzgestrichene Bücherregale bedeckten die Wände: Tisch, Sofa und Stühle wiesen die nüchternste Form auf, und das Kruzifix mit dem Heiland aus Porzellanmasse verstärkte noch das Fröstelnde, Trostlose und Unwirtliche, das schwer und drückend auf dem Ganzen lastete. Ein Holzschnitt des großen Reformators nach Lukas Cranach hing über dem Sofa.

Tiefe Stille herrschte im Zimmer – nur die Schritte des knochigen Mannes gingen dumpf und taktmäßig auf dem groben Binsenteppich, der die sauber gescheuerten Dielen fast in ihrer ganzen Länge und Breite bedeckte.

»Domine . . .

Pastor Abraham van Melle hielt den Fuß an, schnipste mit Daumen und Mittelfinger und wendete die stahlgrauen Augen auf den Kanonenofen, bei dem ein kleiner, possierlicher Mann Platz genommen hatte. Ein altmodischer grauer Rock, ebensolche Weste und Beinkleider ließen den Träger noch älter und verwelkter erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Die Beine gespreizt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, ließ er ein spanisches Rohr mit Elfenbeinknopf durch eine geschickte Manipulation in ganz bestimmten Intervallen auf und nieder hüpfen. Dabei haschte er mit der Unterlippe nach einem verschnittenen Stutzbärtchen, das kaum in Größe einer spanischen Fliege unter der Habichtsnase hervorsah. Festangelegte Sardellensträhnen bedeckten den Hinterkopf, dem ein intensiver Duft nach Melissengeist entströmte.

»Domine . . .

Gleichzeitig stieß das hechtgraue Männchen mit seinem Rohrstock auf: »Alles hat seine Zeit, Domine – Steine sammeln und Steine zerstreuen.«

»Schon gut, Doktor,« fiel Abraham van Melle unwirsch ein, »Du in Deiner jovialen Weise bemäntelst Dinge und Begebenheiten, die meinen Anschauungen, sowohl als Mensch wie als Seelsorger, schnurstracks entgegenlaufen. Gewiß – alles hat seine Zeit: Steine sammeln und Steine zerstreuen – aber die Universitätsferien bei einer hysterischen Schürze zu verträumen, vornehmlich jetzt, wo für ihn das Staatsexamen vor der Tür steht, Phantomen nachzujagen, seine gute Zeit zu verplempern und hierbei noch des naiven Glaubens zu sein, diese widersinnige Neigung könnte sich eines Tages realisieren, könnte meine althergebrachten Grundsätze erschüttern – das, mein lieber Doktor, hat nicht seine Zeit, das untergräbt die Beziehungen zwischen Vater und Sohn und muß schließlich zum unvermeidlichen Bruch führen.«

Doktor Barthes Terwelp sah den Sprecher groß an, dann zog ein feines ironisches Lächeln um seine blutleeren Lippen. »Sachte, Domine,« meinte er mit erhobener Stimme, »mit Deiner wenig zutreffenden und noch weniger feinfühligen Bemerkung ›hysterische Schürze‹ ist das sonderbare Wesen und der eigentümliche Zustand dieses Mädchens nicht so ohne weiteres abgetan. Ich gebe zu, daß weniger Eingeweihte dem Sensitiven der ganzen Erscheinung skeptisch gegenüberstehen müssen und sich infolgedessen veranlaßt sehen, ins Blaue hinein zu tappen: aber so viel steht fest: für uns bedeutet dieses Seelenleben eine Fundgrube interessanter Kombinationen und Schlüsse.«

Wieder ließ der kleine Doktor das spanische Rohr auf und nieder tanzen.

Der Pastor schlug ein verächtliches Lachen an: »Mir scheint, Du bist auch von diesem Wahne befangen.«

»Nenne Du meine Darlegung, die Tatsachen emsiger Forschung, wie Dir es beliebt,« fuhr der Doktor in ruhigerem Tone fort. »Ich habe mir eine Anschauung gebildet, die ich auch willens bin, mit meiner ärztlichen Kunst und Überzeugung völlig zu decken. Selbstverständlich bin ich weit davon entfernt, das Vorhandensein des geheimnisvollen Ods zu verfechten, jener angeblich entdeckten Kraft, die aus den Fingerspitzen besonders reizbarer Menschen ein schwach taghelles Leuchten und Büscheln hervorbringt und die Eigenschaft besitzen soll, dieses Phänomen auch auf andere Körper zu übertragen, aber keineswegs ist in Abrede zu stellen, daß ein gewisses Fluidum, oder wie man es sonst nennen mag, auf höchst mysteriöse Weise von einer feinnervigen auf eine andere besonders hierzu prädestinierte Person ausströmen kann und imstande ist, einen Zustand hervorzurufen, der von den vulgären Regeln und Normen des menschlichen Denkens und Fühlens in wesentlichen Punkten abweicht. Ein derart magnetischer Rapport ist keineswegs fortzudisputieren. Ja, ich gehe noch weiter und behaupte, daß ein geeignetes Wesen in den mysteriösen Zustand der von der äußeren Sinnenwelt völlig unabhängigen Selbstanschauung überzugehen vermag und, bei äußerlich verschlossenen und toten Sinnen, die Fähigkeit besitzt, infolge eines rätselhaften intuitiven Vermögens, Vorgänge zu sehen und vorherzusagen, die mit gewöhnlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden können. Mit diesem Intellekt des Schlafwachens und Hellsehens geht zeitweilig auch eine himmlische Verzückung Hand in Hand, die alles abstreifen läßt, was an das irdische Leben mahnt und erinnert.«

»Nun, und was beweisen Deine Expektorationen im vorliegenden Falle?« fragte Abraham van Melle.

»Was sie beweisen?« lächelte das hechtgraue Männchen. »Alles! – und bei ruhiger und sachlicher Prüfung der obwaltenden Umstände würdest auch Du Dich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß wir in Marie Verwahnen ein Wesen vor uns haben, das, in Kraft seines potenzierten Seelenlebens, mit jenen Menschen in verwandtschaftlichen Beziehungen steht, die ich Dir vorhin geschildert habe.«

»So!« meinte der Pastor, und seine Blicke huschten spöttisch über das ruhige Antlitz des Doktors. »Deine Maximen scheinen mir denn doch äußerst utopischer Natur zu sein, und ich bin fast des Glaubens, daß Du eine derartige Konzentration der Seele für befähigt hältst, alle Beschaffenheiten des überirdischen Daseins zu durchdringen, ja selbst zu Gott zu gelangen, um mit ihm in direkter Wechselbeziehung zu stehen.«

»Ähnlich drückt sich Baptist van Helmont aus,« entgegnete Terwelp mit seinem Mienenspiel, »Du scheinst ihn studiert zu haben; aber Ihr beide, Du in ironischer, er in überzeugter Weise, schießt weit über das gesteckte Ziel hinaus. Ahnungen, dunkle Vorgefühle, zwingenden Einfluß auf das Verhalten einer zweiten Person gebe ich unbedingt zu, aber ich verneine entschieden Deine aufgestellte, wenn auch ironisch gemeinte Hypothese, die Du mir unterzuschieben gedachtest.«

»Hm!« versetzte Abraham van Melle und stellte sich dicht vor den Doktor, der den fixierenden Blicken seines Freundes ruhig begegnete. »Ich will mich kürzer, prägnanter und einschränkender fassen,« fuhr der Pastor nach einigem Schweigen fort, »und erwarte von Dir, daß Du mir auch ohne Umschweife kurz und bestimmt meine Frage beantwortest. Ich greife nur eine Deiner Behauptungen heraus. Also! – Ist das Geheimnis der Willensprojektion verfechtbar, kann es vor der wissenschaftlichen Lupe und Sonde bestehen, oder ist es in das vage Gebiet des Phantastischen zu verweisen?«

»Es besteht,« sagte der Doktor und ließ dabei die rechte Hand über das angeklebte Sardellenhaar gleiten.

»Selbstverständlich,« ergänzte der Pastor, »will ich bei meiner obigen Fragestellung die eigentümlichen Zustände nicht gemeint haben, die etwa durch wechselseitige Liebe gezeitigt werden.«

»Ich verstehe vollkommen,« versetzte Doktor Terwelp, »und trenne beides in allerschärfster Weise. Die Willensprojektion ist eine besondere Art der Beeinflussung eines Individuums durch ein anderes, welche von letzterem mit oder ohne Absicht, ohne Vorwissen oder auch in bestimmtem Einverständnisse mit ersterem ausgeübt wird. Daß hierbei eine innige Neigung, nennen wir es ›Liebe‹, Hand in Hand gehen kann, ist so natürlich wie die Vorkommnisse alltäglicher Dinge, die uns stündlich begegnen.«

»Du glaubst also . . .«

»Ja. – Ich bin der Ansicht,« entgegnete Terwelp, »daß Marie Verwahnen infolge ihrer sonderlichen Veranlagung, ihres Nervengeistes, sei es nun bewußt oder unbewußt, eine gewisse magnetische Kraft auf Deinen Sohn ausübt.«

»So wäre also dieses Mädchen . . .,« fuhr Abraham van Melle auf.

»Ich muß mich genauer fassen,« bemerkte der Doktor. »Ich sagte vorhin: ›bewußt oder unbewußt‹, möchte aber nicht auf das Bewußte in dieser Willensprojektion einen besonderen Nachdruck legen, glaube vielmehr, daß diese magnetische Kraft, die dem ebenso eigenartigen wie schönen Mädchen innewohnt, als eine willenlose Suggestion anzusprechen ist.«

»Das ändert nichts an der Sache,« trumpfte Abraham van Melle mit scharfer Betonung auf. »Das Fatale in der ganzen Angelegenheit bleibt bestehen und ist geeignet, unter meinem Sohn und mir den Boden wankend zu machen.«

»Domine,« meinte der Hechtgraue, »es liegt mir fern, mich in Deine Familienangelegenheiten zu mischen. Ich fühlte nur die Verpflichtung in mir, dem Mädchen, und zwar Dir gegenüber, eine Ehrenerklärung zu geben. Ich habe es getan, wie ich es vor meinem Gewissen verantworten kann, vor allen Dingen, wo ich, nebenbei gesagt, der festen Ueberzeugung bin, daß hier eine große, wahre und heilige Liebe unzerreißbare Fäden gewirkt hat.«

Das Gesicht des Pastors nahm eine aschgraue Färbung an. Ein dumpfes Stöhnen rang sich aus seiner Brust: nervös knöchelten die Finger seiner rechten Hand auf der Tischplatte.

Doktor Barthes Terwelp stand auf.

»Aber, carissime,« meinte er lächelnd, »nun sei auch mir eine Frage verstattet.«

Abraham van Melle trommelte weiter.

»Lassen wir alle potenzierten Seelenzustände, Suggestionen, Hypnosen, telepathischen Erscheinungen und Willensprojektionen beiseite, bleiben wir auf realem, auf nüchternem Boden, nehmen wir die Dinge, wie sie sind, und beantworte mir die Frage: Was bringt Dich also in Harnisch, was denn – um tausend Gottes willen! – hast Du eigentlich gegen Marie Verwahnen?«

Abraham van Melle ergriff ein Stück Papier, das in Reichweite lag, zerknitterte es und warf es mit einem unterdrückten Fluch in eine Ecke des Zimmers.

»Ruhe, Ruhe, mein Bester!« begütigte der Kleine. »Du magst Gründe haben, schwerwiegende Gründe, die bei Dir eine gewisse Skepsis erzeugen und erzeugen müssen, aber betrachtest Du die Sachlage mit nüchternen, objektiven Augen, so wirst Du selber einsehen, daß selbst die schwerwiegendsten Bedenken nicht ausreichend sind, hemmend und zerstörend in diese Herzensneigung und Liebesaffäre mit brutaler Gewalt einzugreifen. Das Mädchen hat einen tadellosen Ruf, wird von der ganzen Gemeinde auf Händen getragen, hat sich eine soziale Stellung durch eigene Kraft geschaffen, um die sie, selbst von unseren sogenannten Honoratiorentöchtern, nur zu beneiden ist, und dann – ebenfalls nicht zu gering zu bewerten – ihre äußeren Vorzüge . . .«

»Ein Leporellozettel, angefüllt mit hyperbolischen Begriffen und Anpreisungen!« wehrte Abraham van Melle mit schroffer Handbewegung ab. »Du beliebst noch in Deinen alten Tagen zu schwärmen.«

»Warum nicht,« bemerkte der Doktor, »wenn es seine Berechtigung hat und Dein Epitheton ornans, ›hyperbolisch‹ als deplaciert zu bezeichnen ist?!«

Ein schnurrendes Rad, das er mit dem spanischen Rohr bewerkstelligte, verlieh seinen Worten den gehörigen Nachdruck.

»Ich betone nochmals die äußeren Vorzüge,« ergänzte er hierauf, schnalzte mit der Zunge und versuchte durch eine geschickte Bewegung der Unterlippe das pflastergroße Stutzbärtchen zu fassen: »Eine sublime Erscheinung, angeborene Grazie, ein Madonnengesicht . . .,« hob sich auf den Zehen, spitzte den Mund und ließ an der erhobenen rechten Hand Mittelfinger und Daumen in graziöser und selbstgefälliger Weise sich nähern: »Na, Domine, wenn ich das alles bedenke – trotz des eigentümlichen Seelenzustandes des Mädchens, trotz Suggestionen, überfein besaiteter Psyche, spiritistischer Anwandlungen, ja, trotz ihres katholischen Glaubensbekenntnisses, das nicht das meine ist – ich wäre imstande . . .«

»Nun?« fragte Abraham van Melle.

»Carissime, ich wäre imstande . . . hm!«

Mit einer schnellen Handbewegung steckte er sich eine Virginia in den Mund, entzündete sie ebenso schnell, warf sich seinen Don Diego um die Schultern, stülpte ein winziges Hütchen mit schmalem Filzrand auf die linke Seite des Kopfes und zog ein zwiebelgroßes Uhrgehäuse aus der Westentasche.

»Tink, tink, tink, tink, tink!«

»Fünf Uhr – meine Patienten, Gestrenger!«

Er paffte eine stattliche Wolke zur Decke und schwenkte den Filzhut.

»Doktor, Du wärest imstande . . .

»Ach, so . . . na, ja . . .!« schmunzelte der Kleine, »ich wäre . . . sagen wir: ich wäre nicht abgeneigt, Domine, und zwar hinsichtlich der inneren und äußeren Vorzüge des allgemein gefeierten, aber von Dir angefeindeten Mädchens . . .«

»Na – und?«

»In der Haut Deines Herrn Sohnes zu stecken.«

Der Pastor prallte zurück.

»Mensch, Doktor – bist Du von Sinnen?!«

Barthes Terwelp zuckte die Schultern.

»Dixi et salvavi animam meam,« sagte er ruhig, drehte sich gleichzeitig um und wendete sich an einen jungen Mann, der eben ins Zimmer trat: »Servus, studiose!«

In diesem Augenblick erschütterte ein heftiger Sturmstoß die Grundfesten des Hauses, und ein scharfer Regen, mit dicken Graupen durchsetzt, klatschte an die beschlagenen Fenster. Stumpf, grau und verschlafen kroch die Abendstimmung ins Zimmer.

»Schlecht Wetter, studiose!« meinte Terwelp und schloß seinen Don Diego bis zum obersten Knopfloch.

»Der Wind treibt das Stauwasser zurück,« erwiderte der Neuangekommene. »Die Menschen laufen zusammen – der Deich soll gefährdet sein – die Leute sagen . . .«

»Nicht möglich!« versetzte der Doktor und lüftete seinen Filzhut. »A rivederci! – Domine, ich habe die Ehre! – Herr Studiosus . . .«

Noch ein kurzes Schwenken des Hutes, ein schnurrendes Rad mit dem spanischen Rohr – und Doktor Barthes Terwelp legte die Tür zwischen sich und die beiden van Melles. Draußen verhallten die Schritte des possierlichen und hechtgrauen Männleins. –

Unter dem Dache Abraham van Melles fühlte sich das Behagliche nicht heimisch: mit dem Fortgang des Doktors war aber auch der letzte Hauch des Anheimelnden und Jovialen spurlos gewichen. Eine fröstelnde, rauhe und unwirtlich puritanische Stimmung lastete auf Vater und Sohn, die sich schweigend gegenüberstanden. Im Innern des Pastors lebte ein unbeugsames Etwas, eine kalte Resignation und ein unerschütterlicher Glaube, der Berge versetzen konnte. Sein Wort hatte nichts von der Farbenpracht, der glühenden Rhetorik und der träumerischen, sinnverwirrenden Symbolik katholischer Kanzelredner; es war rücksichtslos und ohne Erbarmen, selbstquälerisch, kritisch und kalt wie ein Eisstern. Selbstische Interessen lagen ihm fern. Alles, was er sprach, was er aus seiner tiefsten Seele hervorholte, entbehrte jedes erwärmenden Sonnenstrahls, vermied ängstlich heitere Lichtblicke und Hinweise auf die erlösende Zukunft. Abraham van Melle malte grau in grau. Seine Predigten muteten an wie vergilbte Blätter in derber Holzschnittmanier. Sie erwärmten nicht, sie läuterten nicht, sie erquickten nicht Herz und Gemüt und waren kein Balsam für solche verwundeten Seelen, die des Balsams bedurften – aber sie hatten doch eine andere Kraft: sie erschütterten bis ins Knochenmark und schlugen rücksichtslos alles zu Boden. Das war Abraham van Melle als Kanzelredner und Mensch. – Die Wupper hatte ihn als Knaben gesehen. Dort, wo die ungefugten Arbeiterhäuser blauschwarze Ziegelpfannen tragen, wo die Eisenhämmer stampfen und die Schlote ihre schmutzigen Rauchpartikel auf Menschen und Vieh legen, dort, zwischen Arbeiterkitteln, berußten Kappesgärten, armseligen Weibern, Feilenhauern, dem kreischenden Geräusch von Rädern und Spulen und dem brenzlichen Geruch der Fabriken, hatte Abraham seine ersten Leidensjahre durchlebt. Von hier aus bezog er die Universität, hier wirkte er später als Hilfsprediger und lernte das Elend, die darbende Entsagung, aber auch die Verrohung der Massen kennen; hier wurde er das Geschrei nicht los: »Helfen Sie mir! – Helfen Sie mir!« – Dazu die greifbare Not – und dann wieder die kreisende Schnapsflasche. Hier hatte er gesehen, was aus der Ehe eines evangelischen Weibes und eines katholischen Mannes herauskommt, wenn auf beiden Seiten die Hetzer, die fanatischen Ohrflüsterer und Liebhaber, die die Situation ausnutzen, im Rücken sitzen. Die Ehe seiner Eltern ging aus dem Leim wie ein altes Stück Möbel, dem die Axt in die Holzfaser fährt. Bruder und Schwester kamen unter die Räder, verdarben moralisch – nur er blieb gerecht, gefestet und glaubensstark, aber auch stumpf gegen irdische Freuden und Genüsse und hart wie ein Kieselstein. Das Konsistorium erkannte seine eminenten Vorzüge und schickte ihn als Pionier in die kleine Enklave am Niederrhein, um dortselbst das evangelische Banner hochzuhalten gegen den katholischen Ansturm. Und Abraham van Melle tat es mit der ganzen Hingebung und Entsagung eines berechnenden Mannes. Die schöne Tochter seines Amtsvorgängers wurde sein Weib. Leib und Seele waren eins – ob aber die Ehe glücklich wurde, das bleibt eine andere Frage. Nach dem frühen Tode der Frau gestaltete sich das Leben des Predigers noch insichgekehrter und abweisender als zuvor. Verächtlich sah er auf die niederen Leidenschaften, den Tand und den Krimskrams der Welt; er war gerecht wie ein Gerechter des Herrn, aber eigentliche Liebe genoß der starre Mann nicht in seiner Gemeinde. – Abraham van Melle stand einsam, eisig, geehrt und geachtet zwischen Protestanten, Katholiken und Juden. – Er wurde gefürchtet. – – –

Vater und Sohn!

»Du hast mir etwas zu sagen, Johannes.«

»Was sollte ich Dir zu sagen haben, Vater? – Und wenn ich es hätte. Du würdest mich doch nicht verstehen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich weiß, daß sich unsere Anschauungen diametral gegenüberstehen, weil ich weiß, daß dasjenige, was mein Inneres beseelt, absterben würde vor Deinem Hauch, wenn ich es Dir offenbarte.«

»Ich bin Dein Vater und war Dein Seelsorger von Kind an. Du brauchst den Frieden, Johannes.«

»Du könntest mir diesen Frieden geben, Vater, wenn Du es wolltest.«

»Der Frieden wurzelt in den Glaubenswahrheiten des Evangeliums und im Gehorsam, in der aufopferungsfähigen Liebe der Kinder zu ihren Eltern.«

»Das weiß ich.«

»Gut, daß Du dieses erkennest – aber hast Du nicht die Axt gelegt an die Wurzeln dieser Erkenntnis? Werden die Bäume des Glaubens, des Gehorsams und der kindlichen Liebe imstande sein, lange Deinem unheimlichen Treiben Widerstand zu leisten?«

»Vater . . .

»Schweige. – Ich habe lange im stillen Dein Tun und Lassen beobachtet – und schwieg, da ich Deinerseits an eine Erkenntnis glaubte. Ich täuschte mich. Jetzt sind wieder die Ferien gekommen – dasselbe Verhalten. Deine Vorsätze zerfließen Dir wie Schnee unter den Händen. Statt Deine Studien zum Abschluß zu bringen, jagst Du einer Neigung nach, die unter den obwaltenden Umständen an Wahnsinn grenzt und uns der Lächerlichkeit preisgibt. Ich sehe das Ende vor mir. Gelähmt, mit gebrochenen Flügeln wirst Du in meine Arme zurückkehren wollen, wenn es zu spät ist.«

Der Prediger deutete über die Schulter: »Du warst bei der da?«

»Ja.«

»Bei Marie Verwahnen?«

»Ja.«

»Und Du weißt doch, Du mußt es gefühlt haben . . . Ach, was! – mit Vorbedacht schlägst Du mir die Klauen in die gequälte Seele; hüte Dich, daß ich mich nicht genötigt sehe, ein gleiches zu tun.«

Die Stimme des Predigers zitterte, als er mit gerunzelten Brauen fortfuhr: »Weißt Du was?! – Gehe hinaus, dort hinaus, wo die Eisblockade im Rhein steht. Greife hinein mit dem Arm und lange Dir ein Eisstück aus dem starren Wasser. Leg's auf die Herzgrube – auf die Herzgrube, Johannes! – damit Du von Deinem sündigen Feuer genesest, denn ein sündiges Feuer ist in Dir. All Dein Wissen, alle Deine Studien, denen Du obliegen solltest, sind für nichts, wenn Du Schaden leidest an Deiner Seele.«

»Ich fühle keinen Schaden in mir.«

»Aber er kommt.«

»Nein,« sagte Johannes van Melle, »er kommt nicht. Seitdem ich das Mädchen kenne, seitdem ich es liebe und es mich liebt, ist Ruhe über mich gekommen.«

»Das ist die Ruhe vor dem Sturm,« versetzte der Prediger.

»Der Sturm kommt nicht.«

»Aber Du zwingst mich, daß ich ihn heraufbeschwöre. Der Sturm wird kommen, und was dann geschieht . . . Eine starre Hand wird sich zwischen uns strecken – und diese Hand ist erbarmungslos und ohne Gefühl. Sie zerreißt die Bande, die uns verknüpfen: sie reißt Vater und Sohn auseinander.«

In den grauen Augen des Predigers flammte ein heißes Leuchten auf, dann sprach er weiter:

»Man sollte Dich und Deine Leidenschaften knebeln wie ein wildes Tier, da Du ein drohendes Unglück mit Dir und mir zu verketten gedenkst. Ich bin hier als Tempelwächter des wahren Evangeliums an gefährdeter Stätte aufgestellt – und so wahr ich lebe, so wahr ich das Wort Gottes verkünde, ich bin der mir auferlegten Mission bewußt bis in die innersten Nieren. Unentwegt, fest im Glauben habe ich des mir gewordenen Amtes gewaltet – und nun will einer den Kampf mit mir aufnehmen, nun kommt einer daher, und dazu noch mein eignes Fleisch und Blut, und will mir die Achillesferse durchschneiden? – Lachhaft . . .! – Entweder – oder, mein Junge! – Ich stehe, und wenn einer strauchelt, so bist Du es, Johannes. Her zu mir – sieh mir ins Auge, Johannes! – Willst Du ablassen von diesem hysterischen Wesen, das Deiner unebenbürtig ist und zudem noch dem mystischen Kult huldigt, der sich der katholische nennt? – Erkenne Dich selbst.«

»Ich erkannte mich längst,« erwiderte der junge van Melle mit einer Stimme, die dasjenige, was in seinem Innern vorging, mehr als deutlich zur Anschauung brachte. »Jahrelang habe ich diese Neigung mit mir herumgetragen, mir das Dornenvolle dieser Leidenschaft klar gemacht, Dir zuliebe versucht, das heilige Gefühl aus meinem Herzen zu reißen – und ich habe gefunden . . .«

»Nun?« fragte der Prediger.

»Daß mich diese Liebe nicht losläßt.«

»Was?!« schrie Abraham van Melle. »Weißt Du, Unglücklicher, wem Du verfallen?! Dieses Weib ist furchtbar. In diesem Mädchen steckt ein entsetzlicher Dämon, der Dich an sich reißt, um Dich wieder von sich zu stoßen, der Dich umarmt, um kalten Blutes Dir gleich darauf die Löwentatze in die Eingeweide zu schlagen. Höre mich, höre mich! – In diesem Weibe, in diesem Wesen mit dem Madonnengesicht schlummert die Sünde!«

»Das ist nicht wahr!«

»Die Sünde, die Sünde!« rief Abraham van Melle noch einmal. Mit eisernem Griff umspannte er das Handgelenk seines Sohnes. Mit heiserer Stimme zischelte er ihm ins Ohr: »Und wenn es nicht so wäre, wenn Du keine Rücksicht zu nehmen hättest auf meine Person, auf meine kirchliche Stellung – weißt Du die Folgen, die sich in den meisten Fällen mit einer gemischten Ehe verknüpfen?!«

»Ja.«

»Nein!« knirschte der Pastor. »Du bejammernswerter Tor, das kannst Du nicht wissen. Aber hier,« – mit einer jähen Bewegung riß er den Rock auf – »hier diese Brust hat es bitter erfahren, in diesem Herzen hat die schreckliche Erkenntnis gewühlt und mir die Jugend vergiftet und mir ein Brandzeichen in die Seele gedrückt, daran ich vergehen müßte, wenn ich nicht steinern geworden wäre vor lauter Entsetzen.«

Abraham van Melle ließ die Hand seines Sohnes fahren, aber er packte mit beiden Fäusten seine Schultern und schüttelte ihn und keuchte mit verhaltener Stimme: »Und diese Erkenntnis ist mir gekommen dort hinten unter dem Elberfelder Himmel, unter dem Gestöhn der Räder und Hämmer, beim penetranten Geruch der Schnapsflaschen, an meinem eigenen Vater, an meiner eigenen Mutter – und so was vergißt sich nie mehr im Leben. Die Mischehe zeugte den Unfried, der Unfried zeugte das Unglück, und mit ihm kam der Verführer ins Haus. Ich stand am Bett meiner sterbenden Mutter und wartete auf den Augenblick, wo ich ihr die Augen zudrücken konnte. Da, in ihrer höchsten Not, zerrte sie mich unter heftigen Krämpfen an sich und stammelte mir ein Geheimnis ins Ohr, das niemand kannte, niemand wissen durfte – nur einer. Und dieser eine war tot. Noch einmal riß sie die Augen auf, dann starb sie. Ich hatte ihr Geheimnis erfahren. – Es war furchtbar, denn als ich eines zuckenden Schmerzes halber, der die eine Gesichtshälfte zu lähmen gedachte, den Spiegel befragte, da war graue Asche auf meinen Scheitel gefallen. Was die Aermste mir gestanden, warum das Unglück über unser armseliges Haus kam, will ich nicht sagen, kann ich nicht sagen, ich müßte denn das Andenken meiner Mutter noch im Grabe beschmutzen. Aber das prophezeie ich Dir« – und der Prediger reckte sich auf, und seine Stimme rollte wie Gewittersprache durch die umdüsterte Stube – »hörst Du nicht, folgst Du nicht dem warnenden Rufe Deines Vaters, Deines Herrn und Seelsorgers, dann wirst Du dasselbe an Deinem eigenen Leibe und an Deinem Weibe erfahren. Johannes, Johannes! – Wir Menschen sind elendes Gewürm – haltlos, kraftlos, und unser Lebensschiff würde zertrümmern, muß zertrümmern, wenn wir nicht ankern auf dem Grund und Boden, den uns die Kirche gewiesen. Hier wirf den Anker aus – und beschließe Dein Leben in Christo!«

Mit dumpfem Stöhnen war Abraham van Melle in einen Sessel gefallen. Seine Augen schlossen sich, seine Hände lagen gefaltet im Schoße. Wie im Traume stand sein Sohn vor ihm. Er hatte die letzten Worte nicht mehr vernommen. Sie waren untergegangen in einem Stimmengewirr, das immer lauter und erregter von der Straße her ins Zimmer drang. Eilende Schritte, Ausrufe der Angst und Verzweiflung – und dazwischen, in kurzen Pausen, heulte die Glocke über die Stadt hin.

Taumelnd verließ Johannes die Stube.

Als der Prediger aufblickte, war er allein. Er versuchte zu lächeln – es gelang nicht. Er gedachte einen Fluch auszustoßen – der Fluch erstarrte auf seinen Lippen. Da neigte der starke, aber nunmehr völlig gebrochene Mann das Haupt und weinte wie ein Kind.

 


 << zurück weiter >>