Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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V.

Ich beschwöre Dich, Wasser!

Der Aufruhr in der Natur war genau wie zuvor, nur die Wolken hatten sich mehr zerteilt, so daß größere Strecken des Himmels sichtbar wurden. In die engen Gassen des kleinen Städtchens tastete schon die Finsternis hinein, vereinzelte Lichter wurden geschlagen; ihr Widerschein legte sich quer über die verschmutzten und schlüpferigen Pflastersteine der Straßen, welche das Geheul der vorüberziehenden Menge durchhallte. Auf den roten Ziegeldächern und den starren Pappelkronen, die wie ausgehungerte Bettler ihre kahlen Aeste und Zweige gen Himmel streckten, ruhte noch ein sonderbares und milchiges Licht, das sich aber bald wie Nebel zerteilte.

Und da draußen! – Haushoch, mit schräg abfallenden Flanken, links von den lehmigen Fluten des Rheines benagt, rechts von endlosen Wiesen begleitet, lief das unförmliche Deichungetüm das Ufer entlang, um sich in weiter Ferne zu verlieren. Dunkle Männergestalten hasteten auf der Krone des Deiches. Dumpfe Hammerschläge stöhnten weithin. Pfähle wurden eingerammt und Weidenknüppel dazwischen geflochten. Die an- und abfahrenden Karren und Wagen ächzten und knarrten im Binnenland. Es war ein Kampf, der da auf Leben und Tod gegen das Steigen und Nagen des wütenden Elementes geführt wurde, ein hoffnungsloses Ringen gegen das kochende Wasser, das zeitweilig schaumige Wellen über die wankende Krone hinwegfegte und alles zu verschlingen drohte, was sich landeinwärts erstreckte. Und dazu wälzte sich über Strom, Deich und Wiesen die wachsende Dunkelheit wie in grauen Floren – traurig und lähmend. Nur jenseits des Rheines breitete sich ein matter Schein aus, der stetig an Helligkeit zunahm. Auch am gefährdeten Deich blitzte es auf. Erst vereinzelte Funken, irre Sterne, größer werdend, weithin leuchtend, immer lichter und lichter – dann flammend, schwelend, ein sprühendes Geprassel ... Feurig lohten mächtige Pechfackeln gen Himmel und erhellten die Stätte, wo beherzte Männer ihr Leben in die Schanze schlugen gegen Sturm und Wassersgefahr. Dazwischen Klirren und dumpfes Schlagen, Gestampfe und Rufen – und das Gekreische und Beten der näherziehenden Menge, die, von Perdje Puhl geführt, auf der Krone selbst und den patschigen Wegen der Binnenseite vorrückte und alle Gefahren blindlings außer acht ließ. – Hemdärmelig, in Velvethose und Weste, purzelte Herr Cornelis Janßen durch die arbeitende Mannschaft. In der Rechten hielt er eine weitbauchige Flasche, in der Linken ein Schnapsglas und feuerte ›Jan und Allemann‹ durch herzhaften Zuspruch und Darreichung des üblichen Deputats gebrannten Wassers an, sich zu sputen und nicht in die Arbeit zu spucken.

»Hierher, Cornelis!«

»As't üh belieft, Mynheer Grades.«

»Danke!«

»Hierher, Cornelis!«

»As't üh belieft, Mynheer Kermes.«

»Danke!«

»Hierher, Cornelis!«

Immer verlangender und begehrlicher wurde nach der belebenden Feuchtigkeit gefragt, immer tiefer sank sie in der spendenden Flasche, bis sie alle war und Cornelis Janßen mit seinen viven Beinchen dem bedrohten Hause zueilte, um neuen Belebungsstoff für die Deicharbeiter zu holen. –

Das Licht jenseits des Rheines wurde größer. Der Mond war im Aufstieg begriffen. Dunkle Wolkengebilde flogen ihn an, spannten ihre Fledermausflügel und versuchten, ihn in die Tiefe zu zerren, allein der ruhige Waller verfolgte gemessenen Ganges seine Bahn und stieg höher und höher.

Die Regen- und Schneeböen hatten ihre Arbeit eingestellt, nur das Blasen und Fauchen des Sturmes dauerte in ungeschwächter Heftigkeit fort. Unermüdlich nagte und pochte das Wasser, immer mehr bröckelte es von den Deichflanken, und trotz der fieberhaften und umsichtigen Tätigkeit der Arbeiter, die wie eine wimmelnde Masse, vielfüßig, vielköpfig, den Boden warfen, Pfähle rammten und mit Aufbietung aller ihrer Kräfte sie hürdenartig verflochten – die Gefahr ließ nicht nach und wuchs von Minute zu Minute. Der Deich bauchte sich aus, Risse und Rillen bildeten sich an verschiedenen Stellen, und mit häßlichem Knirschen und Fauchen flogen die Schaumspritzer über die wankende Krone. Meldungen kamen vom Unterstrom. Noch immer stand die morsche Eissperre im Rhein und rückte und wankte nicht von der Stelle. Wenn die Barriere stromabwärts nicht bald ins Treiben geriet, war alles verloren. Am meisten war das ›Rote Hüsken‹ gefährdet. Hundert Hände mühten sich ab, zu retten, was noch zu retten war, denn jeden Augenblick stand die Katastrophe bevor, die alles mit sich fortreißen mußte, was sich dem durchbrechenden Wasser in den Weg stellte.

»Zu Hilfe . . . – Zu Hil – fe . . .

Schaurig hallten von der Stadtseite her die Schreckensrufe durch die werdende Nacht. Dort hatte sich schon längst die fanatische Menge gestaut. Die meisten Weiber waren niedergekniet und flehten die Arme gen Himmel. Greifbar nah flogen die Wolken vorüber. Der Mond schien durch die schwarzen Lappen zu jagen. Schatten liefen über die Erde, um bald wieder einer plötzlichen Helle Platz zu machen; dazwischen das Schnauben und Pfeifen, das Heulen und Beten und die Kommandostimme der Deichmeister.

Unbeweglich, ein tiefschwarzer Klumpen, hielt und kauerte die geängstigte Menge unterhalb der gefährdeten Stelle. Dumpfes Beten kam von dorther. Dann machte ein verzweifelter Aufschrei die Lüfte erzittern: »Wachsmarie . . .! – Wachsmarie . . .

In diesem Augenblick legte sich eine silberlichte Färbung über Land und Strom.

Zwei Gestalten lösten sich von der dunklen Masse, die ihrerseits wie angenagelt verharrte. Heiße Gebete folgten den beiden Menschen, die da in Ausübung ihrer heiligen Pflicht vorwärts schritten und den Kampf mit Wind und Wetter aufzunehmen gedachten. Dumpfe Glockenschläge hallten ihnen nach.

Perdje Puhl und Marie Verwahnen . . .!

Ausgemergelt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schritt er an ihrer linken Seite. Er hatte kein Gefühl für das Gekreische des Windes und das Fauchen der Spritzwellen, die seine Füße benetzten. Er achtete der Gefahr nicht. Er tat, was seines Amtes, denn der Geist Gottes war in ihm. Und sie: wie eine Nachtwandlerin, wie ein langsam sich bewegender Körper trieb sie dahin, willenlos und dennoch verzückt und geleitet von der zwingenden Macht eines göttlichen Rufes, als verstände sich das alles von selbst. Nur unbestimmte, verschwommene Begriffe stiegen vor ihrer Seele auf, um bald zu entschweben. Andere drängten sich nach. – Wandelte dort nicht die Mutter Gottes vor ihren Blicken? – Winkte sie nicht mit ihrer schneeweißen Hand, deutete sie nicht auf die große Gefahr? – Ja – sie war es, und zu ihren Häupten schwebte ein Stirnreif, fein und glitzernd und mit sieben funkelnden Sternen besetzt. Das hatte sie schon früher gesehen. – Aber nur weiter, immer nur weiter und weiter! – Sie sah die Pechfackeln loh'n, sie hörte das Einrammen der Pfähle und das Klappern und Klirren der Spaten – aber alles wie im Nebel, gedämpft, verschwommen und traumhaft.

»Herr, erbarme Dich unser!«

Zu ihren Füßen gurgelte und nagte das Wasser. Die zarten Knöchel wurden bespritzt; ein feiner Sprühregen, der von den kurzen Wellen ausging, netzte ihr leichtes Gewand. Sie hatte dessen nicht acht. Ihre Gedanken waren nicht mehr von dieser Welt, sie waren in den Himmel geflogen. Der Qualm der Pechfackeln schlug ihr entgegen. Die bleichen Züge des verzückten Gesichtes wurden strahlend umleuchtet, und glitzernde Funken wehte das Mondlicht durch ihre gelösten Haare, die flatternd im Winde wehten. Mechanisch, den Eindrücken der Außenwelt fern, ging sie vorwärts, ruhig Schritt für Schritt, und nur das Klirren der Spaten verriet ihr, daß sie auf dem richtigen Wege war. Ein wirres Knäuel von Menschen drängte sich unvermittelt in ihre Blicke hinein, aber dieses Menschenknäuel war für sie nicht da, sie bemerkte es kaum; die Leute waren ihr gleichgültig, gleichgültig wie die drohende Gefahr, die aus dem lehmigen Boden stierte, die mit warnender Stimme aus dem heulenden Sturm sprach und mit umstrickenden Armen aus den trüben Fluten des Stromes heraufstieg.

»Zurück, Marie Verwahnen!«

Sie stand plötzlich mitten zwischen den schaffenden Menschen, die, wie von einem höheren Wesen gebannt, die Arbeit einstellten und sie sprachlos anstierten.

Nur noch vereinzelte Wolken flogen am Himmel. Verzerrt und auseinandergerissen, in Bändern und Streifen fegten sie an der bleichen Fläche des Mondes vorüber, der jetzt in voller Leuchtkraft seinen magischen Zauber ausübte.

Auf einmal erhob sich ein Schrei, der aus vielen hundert Kehlen ertönte: »Wachsmarie . . .! – Wachsmarie . . .

»Jetzt ist Deine Zeit gekommen,« gebot der Küster, »jetzt mußt Du – jetzt muß das Wunder geschehen – sonst ist alles verloren!«

»Wachsmarie . . .! – Wachsmarie . . .

Ein Donner von Schreien brach los.

Die Menschen, die wie angewurzelt bislang in der Ferne geharrt hatten, setzten sich in Bewegung. Langsam strömten sie vor.

»Die sind ja wahnsinnig!« wetterten die Deichmeister.

»Nein!« schrie Perdje Puhl, »die wollen das große Wunder sehen. – Das Wunder, das Wunder . . .

»Zurück . . .! – Zurück . . .

Etliche Arbeiter eilten der Menge entgegen, um die Vorwärtsdringenden aufzuhalten. Von Augenblick zu Augenblick vergrößerte sich das dumpfe Getöse, und mitten darin, von Fackeln umstrahlt, von spritzenden Wellen umzischt und von den Dünsten der Fackeln umzogen – Marie Verwahnen. – Die Hände gefaltet, zur Bildsäule erstarrt, das Antlitz dem gurgelnden Wasser zugewendet und die Augenlider gesenkt – so stand sie auf der Krone des Deiches, in unendlichem Reiz, ein höheres Wesen im Angesicht des Todes. Ohne die Füße zu bewegen, mit geschlossenen Knien drehte sie sich auf ihren gewölbten Hüften und wendete das Antlitz stromabwärts. In langen Strähnen flogen ihre Haare den Mond an. Leise hob sie die Lider, und der Mund öffnete sich wie unter dem Einfluß einer Verzückung. Ein rosiges Feuer spielte auf ihren bleichen Wangen, und wie ein phosphoreszierendes Licht drang ein grünlicher Schein aus den weitgeöffneten Augen. Und dieses Licht strömte über die Fluten des Rheins – weithin und seltsam ...

Und wieder das Beten und Grollen der langsam vorschiebenden Menge: »Wachsmarie . . .! – Wachsmarie . . .

Der Küster sank in die Knie und riß sich den Hut vom Kopf: »Betet – betet – betet!«

Wie aus schwerer Lethargie erwachend, streckte sich Marie Verwahnen. Ein Zucken flog über das starre Gesicht; maßlos vergrößerten sich die dunklen Augäpfel in dem grünlichen Lichtschein.

Noch einmal spritzten die mächtigen Wellen über den Damm fort, noch einmal kam der Sturm in entsetzlichen Lauten gefahren – da, in der höchsten Not breitete die Verzückte die Arme, und dann: durch Wetter und Weh, durch Not und Gefahr hallte ihre tönende und glockenhelle Stimme: »Vater unser, der Du bist in den Himmeln . . .! – Ich beschwöre Dich, Wasser – ich beschwöre Dich, Sturm . . .! – Meerstern, ich Dich grüße – o, Maria, hilf . . .

Und dann in diese Worte hinein: ein unbeschreiblicher Freudentumult, ein Befreiungsruf aus hundert und aberhundert Menschenherzen; erlösend, fanatisch, brüllend, jauchzend und begeistert kam es mit brausenden Zungen: »Meerstern, ich Dich grüße – o, Maria, hilf . . .

Der Küster jubelte in den Freudentaumel hinein: »Herr, erbarme Dich unser! – Christus, erbarme Dich unser!«

Gleich fernem Gewittergrollen verhallten die Stimmen.

Hochaufgerichtet stand die Wachsmarie: keusch, lilienhaft und alle berückend . . . Aber neben ihr tauchte ein bleiches Gesicht auf. Die Haare waren vom Sturm in die Schläfen geweht, die Brust keuchte. – Es war Johannes van Melle.

Die Wachsmarie ließ die Lider fallen. Nur ein schmaler Streifen drängte sich durch die Wimpern. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, das plötzlich erlosch. Der Gedanke an das Jenseits, an die Allmacht Gottes ergriff sie.

»Ich beschwöre Dich, Wasser – ich beschwöre Dich, Sturm . . .

Noch einmal sprach sie gegen das stöhnende und keuchende Wasser. Da – von stromabwärts ein donnerndes Getöse: dumpf, fern, klagend, schiebend und knirschend – und dennoch mit elementarer Gewalt, wuchtig wie ein Naturereignis, vor dem alle menschliche Kraft sich beugt wie ein Rohr vor dem Winde.

Der Sturm hielt den Atem an.

Das donnernde, rollende Getöse aber dauerte weiter. Dem Krachen einer Batteriesalve ähnlich, klang es von weit herüber. Die Menge erstarrte, beugte sich – dann warf sie sich nieder.

»Das Eis geht!«

Ein einziger Aufschrei.

»Gerettet!«

»Meerstern, ich Dich grüße . . .

Viele schluchzten, andere beteten, viele weinten.

»Gerettet!«

Ein herzzerreißendes Lächeln spielte um die Lippen der Wachsmarie. Ihre Arme hingen schlaff herab – ihre Augen waren geschlossen.

Perdje Puhl riß sich vom Boden auf. Fiebergluten standen auf dem leberkranken Gesicht: »Wachsmarie . . .! – Du bist heilig – heilig – heilig . . .

Und: »Heilig – heilig – heilig . . .!« schreit und heult es von allen Seiten.

Langsam weicht das Wasser zurück.

Die Menge dringt vor. Das Donnern im Rhein verstummt.

»Heilig – heilig – heilig . . .

Aber Marie ist vom Deich verschwunden. Keiner hat gesehen – wohin.

Und doch – einer.

Der Studiosus van Melle.

 


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