Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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VII.
Nach Marienbaum und unterm Spriegeltuch

Während der folgenden Tage fand eine prompte Erledigung der schwebenden Verhältnisse statt. Die auf dem Hause des Puppenspielers ruhende Hypothek wurde im Grundbuch auf Pittje Pittjewitt überschrieben, alsdann die Hypothekenbank in Kleve befriedigt; sein eigenes Haus in der Kesselstraße stand dagegen mit zweitausend Talern zu gunsten Sally Süßkinds belastet. Jan Peerenboom schwor mit gestreckten Fingern der Schnapsflasche ab und versprach von nun an ein geordnetes Leben zu führen. Vergangene Tage sollten ausgetilgt sein wie Notizen, die man in den Flugsand geschrieben. Von morgens früh bis in die sinkende Nacht hinein gedachte er an der Drehbank zu sitzen, wollte sich wieder auf Stuhlbeine und Treppengeländer werfen und seine abgebröckelte Kundschaft aufs neue tributpflichtig machen. Das sollte ein schaffensreiches Leben werden!

»Kehrt marsch!« sagte Jan und drehte das Futter seiner Sammetjacke nach außen. »Ein gewendeter Rock, ein gewendeter Adam!« und also gedachte er es für die Zukunft zu halten. Nur die Ausübung seiner geliebten Kunst auf Kirmessen und Jahrmärkten behielt er sich ausdrücklich vor, eine Klausel im aufgestellten Programm seiner neuen Lebensweise, die ihm schließlich nach langer Debatte und von allen Beteiligten zuerkannt und zugesagt wurde. Jan schwebte in den siebenten Himmel hinein. Geigen und Flöten spielten ihm auf. Er schrie »Holla!« und »Heda!« und wurde alsbald von dicken Posaunenengeln wieder auf die schöne Gotteserde getragen, wo er den neuen Adam zu beginnen gedachte. Noch einmal, aber nur einmal gönnte er sich ein kräftiges Schlückchen aus seiner Bouteille, dann tat er einen fürchterlichen Fluch und schleuderte die leere Flasche in das Wasser hinein, das hinter seinem Hause vorbeifloß. Mit dem Verschwinden glaubte er den Schnapsteufel für immer begraben zu haben.

» Apage satanas

Und er stand dabei in seinem gewendeten Rock und kam sich vor wie ein glücklicher Büßer auf dem Karmelgebirge.

Über die näheren Verhältnisse und die erfolgte Brautschaft sollte vorderhand aus verschiedenen Gründen noch Stillschweigen beobachtet werden. Selbst Nikodem wurde zur zeit nicht ins Vertrauen gezogen. Sie wußten: er hatte doch nur wenig Herz für die Sache, und dann: hatte er sich sonst um ihre Familienangelegenheiten auch nur in etwas gekümmert?! Genörgelt – ja, und salbungsvolle Reden gehalten – auch das, und stundenlange Gebete für die Unsterblichkeit der Seele gen Himmel gerichtet, auch darin hatte er nicht gegeizt und gespart, aber auf realem Wege helfend beizuspringen, dafür fehlten ihm die passenden Worte, das Geld und die Praxis. Und selbst wenn er unter anderen Umständen gewollt hätte, für derlei irdische Dinge war Nikodem zu weltfern veranlagt. Sein Geist war ausschließlich auf überirdisches Denken gerichtet. Diesem zuliebe wurde alles andere beiseite geschoben, selbst auf die Gefahr hin, seinen Mitmenschen gegenüber mit unerhörter Strenge hierdurch verfahren und begegnen zu müssen. Nein – der Herr Kaplan wäre nicht der richtige Freudenbringer gewesen, und somit blieb das Geheimnis der jungeingefädelten Brautschaft nur auf wenige, zu denen außer Sally Süßkind nur noch Wilm Henseler gehörte, beschränkt – aber in diesem Kreise wurde das zarte Geheimnis treulich bewahrt und sinnig gefeiert. Pittje war glücklich, und sein Inneres strahlte wie die niederrheinische Landschaft da draußen.

Die Heuernte war beendet, und die Wiesen prangten wiederum in ihrem frischesten Grün, durchsetzt von den langen Reihen der Kappweiden, die, dem schnurgeraden Lauf der unzähligen Wassergräben folgend, ihre silberlichten Ruten kopfüber in den blanken Spiegel versenkten. Der Sommerflor hatte sich an den Gräbern aufgetan, die Grillen zirpten, die Heupferdchen geigten, und aus den nah- und ferngelegenen Wasserkolken, die sich im Verlauf der warmen Junitage mit den Kelchen der Seerosen geschmückt und lange Schilfschwerter emporgestreckt hatten, tönte bis weit in die lauen Nächte hinein der Ruf der Rohrdrossel. Von der Ley durchschlängelt, schied sich die oberhalb der kleinen Stadt gelegene Landschaft in zwei charakteristische Hälften. Das rechte Ufer bedeckten unabsehbare Weidenkomplexe, während sich auf dem linken endlose Getreidefelder dehnten, an deren Ranft vorbei die mit Obstbäumen eingefaßte Landstraße nach dem Gnadenort Marienbaum führte. Jenseits derselben wiegte und wogte es von nickenden Halmen, die durch ihr verschiedenes Farbenspiel die einzelnen Getreideschläge hinsichtlich ihrer Art deutlich erkennen ließen. Blaugrüne Tinten wechselten mit grauen und gelblich getönten, aus denen das Zartviolett der Kornraden hervorsah, gemischt mit dem flammenden Rot der prächtigen Mohnköpfe. Ab und zu drängte sich ein Rapsschlag oder ein Kleefeld ein, aber sie wurden verschlungen von den sanften Wogen der zahllos dahinrollenden Halme. Eine stete, wechselreiche Melodie lief über die Roggen- und Weizenfelder dahin. Es war ein träumerisches Lullen und Tönen, und doch so gewaltig in seiner Eigenart und seinem geheimnisvollen Verklingen! – Tausend und abertausend Ähren, Spelze und Grannen bewegten sich dicht nebeneinander, verstrickten sich, harften und rieben ihre zarten Spindeln zusammen; tausend und abertausend Wisperstimmchen im Kornfeld, die aber, in gemeinsamer Arbeit und Harmonie vereint und verbunden, das große Lied von Gottes Liebe und Güte in die Landschaft hinausrauschen konnten. Unaufhörlich von Morgen zu Morgen, von Abend zu Abend sang und säuselte, tönte und klang es, eine Melodie, die ihre Begleitung fand, wenn die Lerche emporstieg, und ein Gewirr von näselnden Immen über die Kleefelder dahin strich. Und Morgen- und Abendnebel dunsteten und krausten über das Halmenmeer, häkelten blitzende Perlen an Ähren und Rispen und brachten sie der Milchreife entgegen. Ein verworrenes Rascheln und Raunen, ein Nicken und Neigen – Wellen bei Wellen, Wogen bei Wogen, unabsehbar und grenzenlos! – Und klare Glocken läuteten und bimmelten darüber hin und begrüßten den sonnigen Sommermorgen, an dem die Prozession nach Marienbaum wallfahren sollte.

Es war am Tage Maria Heimsuchung. In der kleinen Stadt war rege Bewegung. Fahnen und Wimpel wehten von allen Dächern und Giebeln. Blumige Laubgewinde umspannten die Türpfosten oder schaukelten in sanften Bogen von Zeile zu Zeile. Muttergottesbilder von Gips, mit grellen Papierrosen besteckt, standen vor den Fenstern, rechts und links von brennenden Kerzen flankiert, und alle Straßen, durch welche der Auszug erfolgen sollte, waren mit Kalmuspartikeln und zerschnittenem Buchsbaum bestreut. Aber die jungen Birken, die sonst in der Stadt und am Straßenrain der Marienbaumer Chaussee zu paradieren pflegten, waren ungeschlagen geblieben. Die Pracht der weißen Stämmchen, der eigentümliche Duft und das sanfte Getuschel der herzförmigen, halbeingetrockneten Birkenblättchen fehlte dieses Mal der kirchlichen Feier, ein Umstand, der bei den fanatisch Gesinnten unliebsam bemerkt wurde und manchen veranlaßte, die Faust ingrimmig in der Tasche zu ballen. Aber dafür war die Inbrunst tiefer, gründiger, nachhaltiger, und heißere Wünsche, innigere Bittgebete stiegen an diesem Marientage in den tiefblauen Himmel hinein.

Schon in aller Herrgottsfrühe sprach Pittje Pittjewitt in seinem Sonntagsstaat mit Zylinder und Handschuhen bei seinem Freunde Wilm Henseler vor, um diesen zu bitten, gemeinsame Sache mit den Wallfahrern zu machen.

»Wilm, schon der Repräsentation und der Schanierlichkeit wegen müssen wir mittun; wir sind doch christkatholische Menschen.«

»Sind wir, Pittje,« bestätigte Wilm mit verbissenem Ingrimm.

»Und darum,« ergänzte sein Freund, »und im weiteren Hinblick, den Leuten klipp und klar zu beweisen, daß wir bei der Stadtratssitzung nur im Interesse der Gemeindeverwaltung und vom fachmännischen Standpunkte aus gehandelt und die Birken verweigert und nicht willens gewesen, aus reiner Bockbeinigkeit dem kirchlichen Fest einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen – schon aus diesen Gründen und um unseren Standpunkt moralistisch hinzustellen, ist unsere Beteiligung dringend erwünscht und geboten.«

»So?« fragte Wilm und praktizierte sein abgekautes Priemchen in die Westentasche hinein. »Gehst Du mit?«

»Ja.«

»Und Kathje?«

»Kathje geht auch mit. Sie tut es mir und ihrem Bruder, dem geistlichen Herrn, zuliebe.«

»So?« knurrte Wilm noch einmal, wobei er die Mundwinkel bis an seine Hasenpfötchen verzog und das ›So‹ in die Länge dehnte, als sei er gewillt, aus demselben einen zähen und dickflüssigen Leim für seine Fourniere zu kochen.

Wilm Henseler sprang auf.

»Der Düwel hole die ganze Package!«

Das sonst so ruhige und seelengute Gesicht des Schreinermeisters bekam einen wütigen Ausdruck. Pittje wußte in diesem Augenblick nicht, wo er einen stichhaltigen Grund für die fatale Stimmung seines Freundes hernehmen sollte.

Wilm legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn mit seinen blauen Augen treuherzig an.

»Pittje,« sagte er mit tiefer Bewegung, »Du weißt doch, daß bei mir un in meinem Hause allens nach der richtigen Uhr geht, daß ich als Schreinermeister mein Reputierliches leiste, daß ich ein gutmütiger Kerl bin un niemals kollerig werde.«

»Na, Wilm!« lächelte Pittje.

»Niemals im Leben! – denn keiner hat meine Person noch für bullenartig verschlissen. Aber Pittje,« und Wilm schlug sich erregt und mit geballter Hand auf die Weste, »gestern Abend bin ich ein Bulle, ein Maxusbulle geworden – un bin es auch jetzt noch; denn ich muß Dir, leider Gottes, 'ne Geschichte erzählen, die Dir musmaßlich in die Beine schlägt un Dir somit untauglich macht, mit nach Marienbaum zu spazieren.«

Pittje wurde ungeduldig.

»Gottdomie noch mal! Komm doch richtig zu Wort! – Was ist denn passiert? – Was ist denn in Dich gefahren?«

»Allens – das is eben die Sache. – Komm' ich da gestern abend, musmaßlich so gegen acht, von der Heyersschen Kat her, wo ich noch einige kranke Schränke verdiebelt, un denke so in meinen dummen Gedanken: willst doch mal bei die Birken im jungen Schlag vorsprechen, denn sie interessieren mir sehr vom fachmännischen Standpunkt aus, wenn sie so rank un schnurgrade dastehn un den sanften Abend mit's seine Rot so über sich fortlaufen lassen. Gut, ich kam denn auch hin – un was denkst Du wohl, Pittje?!«

»Na, was denn?«

»Allens rungeniert un zertöppert.«

»Wilm!«

»Allens rungeniert un zertöppert. Der Maxusstandpunkt is ein wahrer Waisenknabe dagegen. Die Kronen ausgebrochen, die Stämmchen zerknickt, Pittje, die prächtigen Stämmchen mit's Beil in die Borke gehauen ...! – Zweige, Äste, Späne un Borken – allens am Boden! – Eine Rungenierung von oben bis unten. Wohl an hundert, musmaßlich an hundert un fünfzig Stämmchen verdorben! – Den Düwel noch mal! – un da sollte ich mitgehn? – Pittje, ich melle gehorsamst, das geht nich.«

Pittje taumelte einige Schritte rücklings und schlug die Hände zusammen. Zuerst hielt er seinen Freund und Bundesgenossen für nicht recht mehr im Häuschen, als er diesen aber mit so klaren Blicken und in einer so bestimmten Verfassung vor sich sah, schien weiteres Denken und Deuteln ausgeschlossen, und er rief ein- über das andere Mal: »Wilm, das geht ja über die Hutschnur, – Nicht möglich! – Wilm, nicht möglich die Sache!«

»Ich sage Dir, Pittje – die properste Wahrheit. – Ich hab's noch gestern am späten Abend gehorsamst gemolden, un so müssen sie gehn, wenn wir sie kriegen« – und Wilm Henseler hielt die Hände übereinander, als seien ihm Handschellen angelegt worden – »denn meine Musmaßungen liegen fest und sind mit fünfzölligen Drahtstiften vernagelt.«

»Um so besser,« fiel Pittje dazwischen und schüttelte betrübt mit dem Kopf. »Nicht möglich, nicht möglich!«

»Un denn noch mitgehn mit diesen Verdachtsmomenten im Herzen?! – Nich rühr' an die Sache.«

»Jetzt gerade,« sagte Pittje Pittjewitt mit aller Bestimmtheit. »Mach' Dich parat, wir müssen beobachten und die Unbefangenen spielen; möglich, daß bei der Prozession schon etwas herauskommt.«

»Meinst Du?«

»Ich glaube.«

»Es soll denn ein Wort sein.«

»Also Du kommst?«

»Ja, obschon's mir unkommod is. Aber um die Hunde zu fassen ... Pittje, ich komme.«

Draußen zogen bereits festlich geputzte Menschen vorüber, die dem Versammlungsort zuströmten. Die Glocken auf Sankt Nikolai begannen zu läuten.

Hinter der Kirche war Aloys Pierentrecker, kraft seiner Vollmacht als stimmberechtigtes Mitglied des Kirchenvorstandes und als beglaubigter Vorbeter während der Wallfahrt, bereits damit beschäftigt, dem Junggesellen- und Jungfrauenverein, sowie den verschiedenen Bruderschaften die Plätze, die sie während der Prozession zu behaupten hatten, pflichtgemäß anzuweisen und sie in die Reihe zu bringen.

Um auch die Würde seines äußeren Menschen gehörig in die Erscheinung treten zu lassen, hatte er eine mächtige Zylindertüte über die Kopfhaut gestülpt, sich von oben bis unten in Schwarz geworfen und dabei ein Gesicht aufgesetzt, dessen Ausdruck zwischen dem einer bissigen Ratte und dem eines giftigen Kaninchens hin und her balancierte. Nur das Schlampige in seinem ganzen Wesen, das Schwammige des Gesichtes und der trübe Perlmutterglanz der bleiernen Augen verwischte in etwas das Sarkastische des emsigen Mannes. Den Rosenkranz mit seinen tiefblauen Glasperlen um die Linke gewickelt, in der rechten Hand den schwarzangestrichenen Vorbeterstab mit der silbernen Muttergottesmedaille selbstbewußt führend, Transtiefel an den Füßen und mit einem rotbaumwollenen Taschentuch, das aus dem hinteren Rockschoß hervorsah, bewaffnet, schritt er, seine Verhaltungsmaßregeln gebend, durch die Schar der gläubigen Menschen. Er hatte vieles zu tadeln. Alles sah ihm zu weltlich aus – weniger die in Anbetracht der heißen Julisonne nur mit einem dünnen Stoff bekleideten Busen der Frauen und Mädchen, über die er mit halbem Auge vorbeistrich, als vielmehr die mit allerlei künstlichen Blumen austapezierten Hüte und die stolzen Fladusen und Knippmützen, aus welchen nach seiner Ansicht der Hoffartsteufel hervorsah. Das gab doch ernstlich zu denken, und er scheute sich nicht, diese seine Ansicht unverhohlen unter die Menge zu streuen.

»Demut, Entsagung!« rief er dem säbelbeinigen Bäckermeister Henne Terlinden zu, der sich damit beschäftigte, Gebet- und Liederzettel unter die Leute zu bringen. »Aber das zieht hinaus, als ging es zur Kirmes. Lieber splinterfasernackt und zur Ehre Gottes, als mit so 'nem hoffärtigen Getu und Geknickse.«

Der Säbelbeinige kniff ihm ein Auge und stieß ihn in die unteren Rippen: »Aloys, stimmt – besonders die Weiber.«

»Beispielsweise auch die. Aber da sind die Echternacher doch andere Leute!«

»Kenn' das,« lächelte das fettige Männchen.

»Adam hatte sieben Söhne,
Sieben Söhn' hatt' Adam ...«

Worte, die er mit quäkender Stimme und dem bekannten Schottisch-Motiv dem Herrn Kirchenvorstand und Vorbeter leise ins Ohr sang.

»Pst!« sagte Aloys, »aber es stimmt schon. Fünf Schritte vor und viere zurück – und dann die jüngeren Weiber, wie sie springen und beten, ungeschnürt und – huida! – mit fliegenden Röcken! Ja, so 'ne Waden, Terlinden! – Da ist alle Hoffart beiseite gesetzt, das gefällt dem Himmel da oben – und steht so 'ne ungläubige Kreatur, beispielsweise ein so recht in der Wolle Gefärbter dabei und will expreß seinen liberalen Hut nicht vom Kopf ziehn, wenn die Springprozession sich vorbeiquält, dann langt ihm so 'n braver Luxemburger eine 'runter, daß sein Schappo mitten in die kräftigen Weiber 'rein fällt. Aber hier in Preußen – ach, Du Herr Jeses! – da ist beispielsweise gleich der Schandarm hinter dem Drescher. Die Luxemburger überhaupt und speziell die Echternacher – das sind noch Kerle und haben Kurasch in den Knochen ...«

»Und singen,« lachte Henne Terlinden.

        »Wir welle jo king Preiße sinn;
      Wir welle bliewe wat mir sinn!«

»Haben schon recht,« warf Aloys Pierentrecker dazwischen, »denn hier in Preußen ist 'ne luderige Wirtschaft.«

»Mjinheer, ich bitte darum, hier auf vaterländischer Erde keine Redensarten gegen Preußen zu halten, sonst wird die Sache gemolden.«

Wilm Henseler im Sonntagsstaat, das mit schwarzem Leder eingebundene Gebetbuch unterm Arm, war zwischen die beiden getreten.

»Mjinheer,« rief er weiter, »gehn Sie meinetwegen nach Luxemburg hin; da können sie solche Leute gebrauchen.«

Er wurde unterbrochen.

Aus dem Kirchenportal von Sankt Nikolai trat die Geistlichkeit, der Pastor im Kreise seiner Kapläne, umgeben von Ministranten und Meßjungen, von denen die einen kirchliche Banner und Fahnen trugen, die anderen die Rauchfässer handhabten, daß der Weihrauch aus allen Messingporen herausfuhr. Mächtiger, tönender setzten die Glocken ein, die Reihen ordneten sich, die Vorbeter hoben ihre Medaillenstäbe empor, die Jungfrauen von der Bruderschaft des heiligen Herzens Jesu, unter denen sich auch Kathje befand, bildeten den Vortrott und setzten sich, unter Führung des jüngsten Kaplans, an die Spitze des Zuges, und unter Absingung des Liedes:

             » O sanctissima,
           O piissima,
           Dulcis virgo Maria
...«

zog die Prozession durch die Straßen der kleinen Stadt dem Gnadenort Marienbaum entgegen.

Blendend, ein schnurgerader, endloser Streifen, mit weißem Mulm bestäubt, der bei jedem Schritt aufwirbeln mußte, lag die Chaussee im strahlenden Sonnenbrand, unter dessen Einfluß ein eigentümliches Zittern und Flimmern ob der weiten Niederung schwebte. Nur die Kronen der kleinen Obstbäumchen legten abgezirkelte Schatten quer über die Straße, ohne auch nur im geringsten vor dem Sonnenfeuer zu schützen. Eine bleischwere Hitze keuchte von Meilenstein zu Meilenstein, wischte sich den rinnenden Schweiß von der Stirne, setzte sich ab und zu auf einen Steinhaufen und sah durstig nach dem klaren Wasser des Leybachs, der sich kühl und in sanften Windungen durch die saftigen Grasflächen plätschernd den Weg suchte. Müde schleppte sie sich von Bäumchen zu Bäumchen. Die kobaltblauen, sternförmigen Blüten der Zichorienstauden, die bei Wegerich und Hartheu in den Chausseegräben wucherten, sahen ihr nach und ließen sich von dem mehligen Puder, der hinter ihren trägen Schritten aufwirbelte, geduldig bestäuben. Die Hitze wirkte lähmend auf alles, was lebte und Atem hatte. Die Blätter hingen still von den Zweigen, regten und rührten sich nicht; nur in den rispenförmigen Ähren des Hafers und ob den Roggen- und Weizenfeldern war noch leise Bewegung. – Kaum hörbar, und nur von einem geheimnisvollen Rascheln und Raunen begleitet, schoben sich ihre graugrünen, flimmernden und sanften Wellen über die unabsehbare Fläche.

Schon lange bevor sich die gläubigen Seelen bei der Pfarrkirche versammelt, um gemeinsam die heilige Fahrt und den Bittgang anzutreten, hatte sich Sally Süßkind in die Getreidefelder begeben.

Prüfend bewegte er sich durch die schmalen Gassen der einzelnen Roggen- und Weizenschläge, maß die Höhe der Halme und befühlte die Ähren, die ihm durchgängig schwer und gesund entgegennickten. Trotz der großen Hitze lächelte Sally. Mit glänzenden Augen sah er über das sanftbewegte Meer, über den immensen Ozean der sich neigenden Halme. Ha, wie das säuselnd dahinzog, sich wellte und wiegte! Und dann das gewaltige, graugrüne Einerlei mit dem gelblichen Schimmer darüber – dieses auf und niederwogende Kapital, diese Friederichsdors und preußischen Kassenscheine in Gestalt von Millionen und aber Millionen Ähren und Halmen! Sally trocknete sich sichtlich erregt den Schweiß ab, und im Hinblick auf die mit fast allen Wind- und Wassermüllern der ganzen Umgegend vollzogenen Lieferungskontrakte, ferner mit Rücksicht darauf, daß die voraussichtlichen Ernteverhältnisse gute und infolgedessen die Kornpreise jedenfalls geringe sein würden, ließ er seine Hände liebevoll über die saftigen Kornwellen gleiten. Ha, wie das kitzelte und die Nerven der Fingerspitzen wohlig berührte! Ein angenehmes Rieseln ging von diesen Grannen des Roggens und den Haaren des Bartweizens aus, und dieses Rieseln durchfuhr seinen Körper und weckte unbewußt die Begierde in ihm.

»Billig einkaufen und teuer verkaufen,« lispelte Sally, und wiederum glitten seine Fingerspitzen über das schwere Getreide dahin. Ein Heißhunger nach Verdienen ergriff ihn. Er rechnete aus. Er hatte so und so viele Malter an Roggen, Weizen und Gerste zu liefern. Die ausgemachte Summe hierfür war nicht übermäßig, aber immerhin reichlich bemessen. Bei diesem Stand des Getreides, also meditierte er weiter, mußten die Chancen des billigen Einkaufs unbedingt steigen, mithin Profit: rund eintausend zweihundert Reichstaler Banko, wobei das Risiko kaum in Betracht kam. Und warum auch? – Bis jetzt waren keine verdächtigen Momente in die Erscheinung getreten. Hessenfliege und Schnellkäfer hatten sich nicht bemerkbar gemacht, kein Rost und Mutterkornbrand war bis dato sichtbar geworden – und Hagel und Schloßen ...?! – Dafür waren die Versicherungen die rentabelste Abwehr. – Und Mäusefraß ...?! – Ja, die verteufelten Mäuse ...! – aber wie sich Sally auch bücken mochte, wie er auch seine Augen schärfte und nachsah – Mauselöcher! – ja, aber nicht in ungewöhnlicher Anzahl und nicht mehr als in anderen Jahren.

»Aber bin ich meschugge! – Was hat Pittje gesagt?«

Sally hatte schon längst die Blicke nach oben gerichtet. Er folgte dort den Flugkünsten eines großen Vogels, der majestätisch unter dem Himmel schwamm, sich höher und höher schraubte, bis er als kreisender Punkt seinem Blick entschwebte.

»Pittje sagt: kommen die Mäusebussards ins niederrheinische Land, gibt's Mäusefraß un armselige Zeiten. – Gott, der Gerechte! – ob's ein Bussard gewesen? – Bin ich meschugge?! – 's war aber nur einer. Nu – un warum kann's nich gewesen sein ein gewöhnlicher Fall? – Der prophezeit keine Mäuse. In Emmes, lassen wir's gewesen sein 'nen gewöhnlichen Falken.«

Also tröstete sich der Nelken-Sally und begann wieder in zärtlicher Weise durch die Rispen und Ähren der Getreidefelder zu streicheln. Der Anblick der reifenden Frucht und merkantile Erwägungen heiterten sein Gemüt, ließen alle Bedenken schwinden und stellten das ins Schwanken gekommene Gleichgewicht seiner Seele wieder her.

Aber da ging's plötzlich hoch in den stahlblauen Lüften: »Hiäh! Hiäh!« – dann ein Schweben und Gleiten, dann ein Rütteln über einer Stelle, nochmals das scharfe »Hiäh! Hiäh!« – und mit hartangezogenen Schwingen stürzte sich der majestätische Vogel ins wogende Korn.

Sally schreckte zusammen und lallte: »Wenn's nu doch ein Mäusebussard gewesen?«

Er wurde abgelenkt; er achtete nicht mehr auf den stattlichen Vogel, der sich inzwischen wieder aus dem Korn erhoben hatte und einen kleinen, quiekenden Gegenstand in seinen gelben Fängen davontrug.

Singen und Psalmodieren klang ihm zu Ohren. Wurmartig kam es von der Stadt her über die staubige Straße gekrochen. Aus der sich voran wälzenden Masse ragten bunte Fahnen empor, ein weithin sichtbares Kruzifix schwebte über dem ziehenden Heerwurm, und hundertstimmig klang es gen Himmel und über die glühende Landschaft:

» Mater amata,
Intemerata –
ora, ora, pro nobis

Die ganze Natur erschauerte unter dem Banne der heiligen Weise.

»Die Proßession!« sagte Sally, und so schnell ihn seine Füße tragen mochten, durchlief er die schmalen Feldgassen, sprang der Chaussee zu und postierte sich in unmittelbarer Nähe derselben; dann zog er den Hut ab.

Langsam kam sie heran: zuerst der junge Kaplan mit den Frauen und Jungfrauen aus der Bruderschaft vom heiligen Herzen Jesu, überragt von himmelblauen Fahnen, die zwei halbwüchsige Jungen im Schweiße ihres Angesichtes über die weißmulmige Landstraße schleppten. Das Lied war verklungen, aber dafür setzte der halbgesungene Text der Lauretanischen Litanei ein. Eine sonore Stimme betete vor:

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

»Du elfenbeinerner Turm!«

»Bitte für uns!«

»Du Königin der Patriarchen!«

»Bitte für uns!«

Immer näher kamen Stimmen und Menschen.

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

Sally kannte die meisten. Um besser beobachten zu können, schob er die Hand vor die Augen und drückte sich in den spärlichen Schatten eines Apfelbäumchens, aus dessen besonnten Zweigen die harten, giftgrünen Früchtchen hervorsahen. Die ersten Wallfahrer, der Herr Kaplan, der Küster, Frauen und Mädchen mit geschürzten Röcken und bestaubten Schuhen zogen vorüber.

»Wo rührend, wo rührend!« lispelte Sally, als er Kathje gewahrte.

Das schöne Mädchen, im Schmuck der kranzartig um den Kopf gewundenen Flechten, bemerkte ihn und nickte ihm zu.

»Tag, Kathje.«

Lähmend wirkte die Monotonie der gedehnten Worte des Vorbeters auf die ganze Umgebung. Sie war nur mit halbem Ohre dabei. Das alte, verschrumpfelte Weib, die Hitze, humpelte und hinkte neben den Reihen und verstärkte durch ihren bleischweren Gang das Einförmige des steten Gemurmels.

»O Du Lamm Gottes, welches Du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«

»Verschone uns, o Herr!«

»O Du Lamm Gottes, welches Du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«

»Erhöre uns, o Herr!«

»O Du Lamm Gottes, welches Du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«

»Erbarme Dich unser, o Herr!«

Kräftiger traten die nunmehr folgenden Männer auf.

»Christe, höre uns!«

»Christe, erhöre uns!«

Barhaupt, mit klobigen Schuhen, bunte Regenschirme mit Hornkrücken und altmodischen Messinggriffen unterm Arm, abgeraufte Blumen und Kornähren zwischen den Lippen haltend, schritten sie vorwärts. Mit ihren groben Sacktüchern wischten sie sich den Schweiß ab, der von Stirn und Nacken herabrann.

Immer drückender und schwüler brütete die Sonne vom Himmel. Kaum ausgezogen, machten sich bei den Wallfahrern schon jetzt die sengenden Strahlen bemerkbar.

Wilm Henseler und Pittje Pittjewitt gingen zusammen.

»Habe die Ehre,« lächelte Sally.

»Ah! – guten Morgen, Herr Süßkind.«

»Danke – un die Herrens proßessionieren auch ßu die allerseligste Jungfrau?« bemerkte dieser und schloß sich ihnen an.

»Wir sind doch christkatholische Menschen, Herr Sally.«

»Weuß ich, Herr Wilm – aber bei die Hitze, bei die entsetzliche Hitze! – Die brät einen ja bei lebendigem Leibe; man geht ja kapores unter die schwitzenden Leute.«

»Muß ertragen werden,« entgegnete Pittje, »denn wir wollen auch unseren Glauben öffentlich bekennen.«

»Das is schön von Sie un edel von Ihnen.«

»Und denn, Sally – von wegen der Rede ...«

»Ach, die!« fiel Sally verständnisinnig dazwischen. »Herr Pittje, Sie sind doch ein Mann, der ßu bilanzieren versteht mit die schönen Gefühle.«

»Allens wie's recht is,« bestätigte Wilm; mit einem fixen Zungenschlag schob er das Priemchen auf die andere Seite. Aber hinter ihnen schlurfte und schnaufte das plötzlich. Eilige Schritte ließen sich hören ...

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

Sally wandte sich um.

»Wahrhaftigen Gott! – der Herr Pierentrecker mit 's Medaillenzepter un die seine Montierung. Wo nobel, Wo nobel!«

Aber da kam er schlecht an. Das aufgedunsene Gesicht des Schellfischs schien ihm in den Farben eines gesottenen Krebses entgegen.

»Herr Süßkind, als Vorbeter und Festordner muß ich mir energisch verbitten, daß Sie als Mann von jüdischer Konfektion ...«

»Is es nur deshalb?« lächelte Sally, »denn adjes, meine Herrens. Heut mittag fahr' ich mit 's Schimmelpferdchen nach Appeldorn, um ßu machen Geschäften. Vielleicht treff' ich Sie wieder, wenn Sie kommen zurück von die liebreiche Wallfahrt. Herr Stadtrat ... Herr Wilhelm ...«

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

Und da stand nun Herr Sally Süßkind am Straßenrain, hielt noch immer den Hut in der Hand, nickte seinen Bekannten zu und ließ die Prozession aufs neu vorbeidefilieren. Staub und keuchende Menschen! – In schweren, trangetränkten Schuhen ging es langsam voran; wiederum hallte das Marienlied über die Landschaft und einte sich dem Rauschen des sanft dahinwellenden Kornes.

»In solatium
Et refugium
Dulcis virgo Maria!
Quidquid optamus,
Per te speramus,
Ora, ora pro nobis!«

Vorüber!

»Un er is doch ein gewalttätiger Mann, der Herr Aloys,« lispelte der Vereinsamte, »nu, un will er doch sein 'ne Stütze for die katholische Kirche. Ich danke dafor. So 'n Kilaf! – Man soll ihn schmeißen hinein in den Abtritt.«

Die letzten Worte gingen unter in dem Gepolter der zweirädrigen Spriegelkarren, die mit weißen Plantüchern überspannt, mit grellfarbigen Papierfähnchen besteckt und mit schon halbvertrockneten Kränzen umwunden, dem Zuge folgten, um Wegemüde und Marode unter ihr schirmendes Zeltdach zu nehmen. Vom Dachsfellkummet der Pferde schwermütigen Schlages klingelten durchbrochene Messingscheiben und heisere Schellen. Engmaschige Netze, gegen Fliegenstich und den empfindlichen Saugapparat der vagabundierenden Bremsen, überdeckten die Gäule. Lindenzweige waren seitlich der Deichselarme gebunden. Durch ihr stetes Auf- und Niederwippen hatten sie gleichfalls die lästigen Insekten von den Bäuchen und den Flanken der Pferde zu scheuchen. »Haar-üh!« – Heiseres Schellengeklingel und Rädergeknarre! – Weißhaarige Spitze, die unter den Karren oder seitwärts derselben mit hängender Zunge hin- und hertrotteten, bellten dazu, wenn ihnen das Geräusch zu toll wurde, so daß die schläfrigen Fuhrknechte, die in blauen Kitteln, Nagelschuhen und bammelbeinig auf dem vorderen Teil der Plankarren hockten, sich genötigt sahen, nach der Peitsche zu greifen, um den Bellern eins über zu reichen. »Himmel, Kreuz noch einmal!«

Sally sah dem schwarzen Streifen und den weißen Spriegeltüchern nach, dann verlor er sich in das leisbewegte Meer der flüsternden Halme.

Und dann immer dasselbe: echauffierte Menschen, Meilenzeiger um Meilenzeiger, Bäumchen um Bäumchen, eine endlose Straße, durch die Nase gedrehte Gebete und Bittgesänge und schlurfende Schuhe, bis schließlich zur Rechten eine sanfte Berglehne aufging, von deren Hang eine dunkelgrüne Belaubung saftig herabwinkte. Eine erquickende Kühle, ein Hauch nach frischem Grün und kräftigem Waldboden wehte über die ziehenden Menschen hernieder. Die Nacken richteten sich auf, die Köpfe wurden straffer getragen, und die Lungen weiteten sich. Ah! wie das wohl tat. Aber wie seltsam! – inmitten des üppigen Holzbestandes zeigte sich ein fahlgrauer Streifen, der, mit weißen Stämmchen durchsetzt, die sanftgedachte Höhe emporkroch. Es war so, als sei ein versengender Hauch über diese Stelle des jungen Waldes gefahren. Viele Blicke richteten sich unwillkürlich darauf.

»Pittje, jetzt kommen die Birken,« sagte Wilm, wobei er mit halbem Auge Aloys Pierentrecker fixierte. »Den Düwel noch mal! – das is ja nächst dem Mordio...! – Herr Jeses, die Birken...!«

Ein Flüstern und Raunen lief die beiden Männerzeilen entlang. »Die Birken ...! Kiekt mal – die Birken ...!« kam es von allen Seiten gefahren.

»Was ist dies?«

»Was heißt das?!«

»Da is der Erzengel Gabriel zur Strafe mit seinem flammenden Schwert darüber geschritten,« meinte der säbelbeinige Bäcker, wobei er in sein Sacktuch posaunte, als müsse er wie die Kinder Israels vor Jericho trompeten und blasen.

»Meinetwegen,« hielt ihm Wilm Henseler giftig entgegen, »aber ich sage Ihnen: diesem Erzengel wird auf die Finger gekloppt. Der is über seinen Maxusstandpunkt gegangen. Das is ja...«

»Weiter, immer weiter, die Herren!« drängelte Aloys; durch heftiges Gestikulieren mit dem Medaillenstab suchte er dem erbosten Sprecher das Wort abzuschneiden.

Die Stauung löste sich auf. Die Wallfahrt ging vorwärts.

»Pittje,« flüsterte Wilm, »warum plinkte Mjinheer Pierentrecker so verbaselt un wie 'n scheeles Dobbeltje nach die armen Birken 'rüber? – Ich musmaße nie, aber – den Düwel noch mal! – im vorliegenden Falle...«

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

»Und der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft.«

»Gegrüßt seist Du, Maria, Du bist voll der Gnade; der Herr ist mit Dir; Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes.« Aloys betete mit Aufbietung all seiner ihm zur Verfügung stehenden Kräfte, als gälte es, noch heute in den Himmel zu kommen.

Bald waren die Birken und die kühlen Lüftchen vergessen, denn die Sonne stand wieder wie eine glühende Kugel am Himmel und sengte und brannte. Das Gehen war längst zu einem Kriechen geworden – und noch immer kein Endziel! Grauammern schrillerten ihre einfache Melodie von Hecken und Zaunpfählen, eine Melodie, die so eintönig und langweilig war, wie der schattenlose Weg zur begnadeten Stelle. Keuchend wurden die Füße gezogen. Die schleppenden Sohlen vermochten kaum noch die Schwere des Körpers zu tragen. Ein penetranter Geruch nach Tran und abgematteten Menschen drängte sich durch die vorankriechenden Weiber- und Männerspaliere. Stunde um Stunde verrann. Die Kirchenfahnen hingen schlaff an den Stangen; kein Windhauch fuhr mehr in die bunt bemalten und gemusterten Tücher. Die Träger im weißen Chorhemd ächzten und stöhnten. Wer endlich dahinten – wenn auch noch am tiefen Horizont und vom blauen Dämmer umhüllt: eine abgezirkelte Baumgruppe und über derselben eine nadelfeine Erhebung – das spitze Türmchen der heißersehnten Gnadenkapelle.

Wieder belebten sich die erschlafften Lebensgeister.

Aber Kathje konnte nicht mehr; sie hatte sich seitwärts des Weges auf einen Chausseestein niedergelassen. Ihr war das Herz zum Zerspringen. Eine fliegende Hitze arbeitete in ihren Pulsen, trieb ihr zu Kopf und rückte allerlei hastende Flecken, flimmernde Sternchen und dunkle Mücken in das erregte Gesichtsfeld. Ihre Kniee zitterten, die Füße schmerzten; sie hatte ihr Leibchen geöffnet, um der hämmernden Brust mehr Freiheit zu geben. Zartbeperlt schaute ihre bräunliche Haut aus den Falten des Kleides hervor. Sie stützte den müden Kopf in die Hände; aber immer heftiger pochten die Schläfen; immer neue auf- und niederhastende Flecken, fliegende Punkte und Sternchen schwebten ihren Blicken vorüber. Sie konnte nicht mehr. Das flammende Firmament und die heißen Dünste des Tages wirkten lähmend auf sie. Da faltete sie die Hände und weinte. So fand sie Pittje. Nachdem sich seine erste Erregung gelegt, zog er sie sanft empor, ließ den letzten Karren halten und gab ihr Sitz und Ruhe unter Spriegelreifen und Plantuch. Sorglich hielt er ihre Hände umspannt, trocknete den Schweiß von ihrer glühenden Stirne und zog sie an sich, ihr den rechten Arm um die gerundeten Schultern legend. Unterm Spriegeltuch am Herzen des geliebten Mannes ruhend, der stechenden Sonne und dem quälenden Staub entrückt, begannen ihre erregten Pulse allmählich leiser zu pochen. Minute auf Minute verrann. Die beiden waren so ganz allein. Der Fuhrknecht auf dem vorderen Karrensitz kam überhaupt nicht in Betracht. Er duselte vor sich hin und scheuchte mechanisch die zudringlichen Bremsen, die nicht abließen, sich auf die weißbeschäumten Pferde zu setzen. Nur ein dumpfes, verlornes Gemurmel, das Rattern des Karrens und das Knistern der an den Reifen befestigten Papierfähnchen drang in diesen seligen Frieden hinein. Kathje hatte die Augen geschlossen. Ein erquickender Halbschlummer versetzte sie in einen wonnigen Taumel. Holde Träume umgaukelten ihre Sinne; es war so schön, was sie träumte, so unendlich schön! – und die Lider hoben sich erst, als die Glocken von Marienbaum schon deutlich aus der Ferne herüberbimmelten. Mit ihrer scharfen, spitzigen Stimme zerrissen sie die brütende Stille, die dumpfig und schwer auf Korn und Wiesen lastete. Immer schärfer und spitzer zogen sie über die Chaussee und die jetzt fast regungslosen Halme und Ähren.

»Die Glocken!« lächelte Kathje.

Unter dem weißen Tuch, das sie sich um Kopf und Nacken gebunden, sahen ihre verschleierten Augen merkwürdig groß und sehnend hervor. Eine seelische Spannung verlängerte das Oval ihres schönen Gesichtes. Ihr war so seltsam zu mut. Ein schon lange zurückgedämmtes Lustgefühl schien sich wieder bei ihr regen zu wollen. In holder Verwirrung streckte sie verlangend die Arme. Stammelnd und unfreiwillig kam es von ihren halbgeöffneten Lippen: »Pittje, mein Pittje!«

Pittje beugte sich vor, und, einen verzehrenden Ruf ausstoßend, umschlang sie ihn mit kräftigen Armen.

Inzwischen war die Prozession dumpf und stumpf weitergezogen. Die in der Ferne liegende Baumgruppe wurde immer größer und größer. Kugelartig strebte sie aus der grünlichen Fläche der Roggenfelder empor, überragt von der Helmspitze der Gnadenkapelle, auf deren Schieferdach das Sonnenfeuer lohte und brannte und blitzende Reflexe weithin verstreute. Die ersten buntgetünchten Häuschen von Marienbaum kamen in Sicht. Obstgarten und Kappesfelder drängten sich dazwischen. Kerzengerade stieg der Rauch aus den weißgekalkten Schornsteinen auf.

Dort wurde schon Kaffee gekocht.

Mit gierigen Blicken verfolgten die Wegemüden, die sich kaum noch fortschleppen konnten, den Aufstieg der verheißenden Wölkchen. Bis jetzt hatten sie für die Erlösung ihrer unsterblichen Seele und zur Ehre Gottes tapfer ausgehalten und schier Übermenschliches getan. Ihre Leistungsfähigkeit war ausgepreßt wie eine Zitrone. Kaum ging es noch weiter, denn die erschlaffende Hitze und die Plagen der gierigen Insekten waren unerträglich geworden.

Goldäugige Blind- und Rinderbremsen durchschwirrten in tollem Taumelfluge die Luft, schienen sekundenlang und unbeweglich in Mannshöhe zu stehn, setzten sich mit einem Ruck auf einen anderen Standpunkt, schwebten wieder surrend auf der nämlichen Stelle, um sich dann lautlos auf die armen Opfer zu stürzen. In Nacken und Arme, in die Kattunkleider hinein, selbst durch die verschweißten Röcke der Männer hindurch schlugen sie die scharfen Klingen ihrer saugenden Rüssel – ein Spiel, das in seiner infamen Zudringlichkeit auch die Frömmsten zur Verzweiflung brachte.

Jedoch die christliche Langmut währt ewig!

Schon werden die ersten Häuser passiert, allein es ist noch immer eine geraume Strecke Weges bis zur Muttergotteskapelle. Wenigstens ist jetzt Schatten vorhanden. Breitgewipfelte Linden schlagen ihre Kronen zusammen. Neugierige Menschen mit stereotyp-geistlosem Gesichtsausdruck drängen sich zwischen Türen und Fenster und stieren dummdreist auf die sich vorwärtsschiebenden Beter. Vereinzelte Grüße werden unter Bekannten getauscht.

»Tag, Kornelis.«

»Wie geht's?«

»Tag, Hendrik.«

»Auch mal gekommen?«

»Tag, Grades.«

»Wau, wau, wau!«

Ein bissiger Dorfköter, ein Mittelding zwischen Teckel, Spitz und Affenpintscher, der alle schlechten Eigenschaften seiner Stammväter in sich vereint, die guten aber beiseite gelassen hatte, drängt sich keifend und mit gefletschten Zähnen unter die murmelnden Reihen.

Horch, wie das bimmelt und beiert! – Die Gnadenkapelle ladet zur Einkehr.

Aloys Pierentrecker reckt den Hals aus den Schultern und versucht einen festeren Schritt in die Wege zu leiten. Laut und mit ungeschwächter Stimme betet er vor, wobei er mit dem schwarzlackierten Medaillenstab taktmäßig aufstößt.

»Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!« respondieren die Männer mit trockenen Lippen und hängenden Zungen.

»Du unbefleckte Mutter!«

»Bitte für uns!«

»Wau, wau, wau!«

»Kusch Dich!« »Du vortreffliches Gefäß der Andacht!«

»Wau, wau ...!«

»Himmelsackermentsches Vieh, willst Du wohl still sein!«

Immer näher rückte der Köter und versuchte Aloys in die schwarzen Hosen zu fassen.

»Du geistliche Rose!«

Aloys holte wütend zum Stoß aus.

»Du Spiegel der Weisheit!«

»Bitte für uns!«

»Du elfenbeinerner Turm!«

Wieder ein Fußtritt.

»Wau, wau, wau!«

»Du Ursache unserer Fröhlichkeit!«

»Wau, wau ...!«

»Ah! – Himmel Sackerment noch einmal! – Du beispielsmäßiger Ochse ...!«

»Wau, wau ...!«

Der Dorffix mit den verschiedenen Ahnen hatte zugebissen und war dann spurlos in der nächsten Gasse verschwunden.

Aloys griff nach der Ferse und humpelte seitwärts.

Einige bedauerten ihn, andere lachten oder grinsten in die Gebetbuchblätter hinein; nur der säbelbeinige Bäcker zeigte aufrichtiges Mitleid. Hilfreich suchte er ihm beizustehn und trat aus der Reihe.

Aber von den Schadenfrohen hatte doch keiner ein so schadenfrohes Gesicht gemacht wie der ehrliche Wilm.

Als wäre das große Dombaulos auf seine Nummer gefallen, so grielachte der Kerl. »Das is von wegen die rungenierten Birken, über welche der Erzengel Gabriel mit seinem flammenden Schwerte gegangen,« murmelte er zwischen den Zähnen. Lächelnd kaute er weiter an seinem saftigen Priemchen.

Gebimmel, Gebimmel ...!

Der letzte Spriegelkarren holperte mit seinem Schwermüter knarrend vorüber. Vom Dachsfellkummet klingelten Messingscheiben und Schellen.

»Haar-üh!«

Gebimmel, Gebimmel... l

Aloys Pierentrecker sah unter das Plantuch. Wie bei dem Stich einer dickleibigen Rindsbremse fuhr er zusammen.

»Terlinden ...!«

»Hm?«

»Da drin ...«

Er sprach mit flüsternder Stimme.

»Na, wer denn?«

»Kathie und Pittje ...!«

»Wa...!«

»Du bist mein Zeuge, Terlinden – und kannst das beschwören. Das muß vor die hohe Behörde. – Sakrileg! – Poussieren da auf der heiligen Wallfahrt...! – Das ist ja ...! – Beispielsweise...! – Das verfluchte Rindvieh von Köter...!«

Das heitere Gesicht Pittje Pittjewitts zeigte sich in einem Ausschnitt des Plantuchs.

»Wohlbekommen die Wallfahrt...?«

»Na, so was...!« »Herr, erbarme Dich unser!«

»Christe, erbarme Dich unser!«

Von weither klang es herüber, gemischt mit Orgelton, der feierlich aus der Muttergotteskapelle den frommen Pilgern entgegenwehte. Glocken, Weihrauch und Orgel – und betende Menschen. Marienbaum stand unter dem Banne der allerseligsten Jungfrau.

Ave Maria!


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