Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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XX.
Adventabend

Als Pittje anderen Nachmittags mit Zylinder und Trauerflor vom Begräbnis zurückkehrte, als er die schwarzen Handschuhe auszog und sein baumwollenes Paraplü in eine Ecke des Hausflurs stellte, kam das Älteste seiner Schwester ängstlich aus der Tiefe geschlichen und meinte: »Ohm Pittje – Großmutter ist was Weißes auf den Kopf gefallen; nu sitzt sie da in der Stube und macht immer so mit der Hand, als wenn sie Klavier spielen täte.«

Und als er dann erschreckt ins Zimmer trat, saß seine Mutter im Lehnstuhl, und Mielke war bei ihr. An Stelle der grauen Haare waren weiße getreten, und die eine Hand zitterte ständig. Da wußte Pittje, worauf er die Krankheit seiner Mutter ansprechen konnte. Er riß sich aber zusammen und suchte möglichst unbefangen zu scheinen. Mutter Pittjewitt jedoch schüttelte kaum merklich das weiße Haupt, nahm die Hand ihres Sohnes und sagte: Nicht um meinetwillen – sondern um Deinetwillen tut es mir leid, daß auch das noch eintreten mußte, denn jetzt lastet alles auf Dir: Mielke, die Kinder, Dein eigenes Geschick – und ich mit dem Elend, das soeben noch auf Dich gefallen; aber Du hast am schwersten darunter zu leiden. Ja, ja, Pittje – es ist nicht zu mäntenieren die Sache.«

Und Pittje rückte dicht an seine Mutter heran, legte ihr den Arm um die Schultern und sprach ihr von besseren und schöneren Zeiten, denn der liebe Gott würde doch endlich ein Einsehen haben und die Verhältnisse zum Besseren wenden.

»Ja, ja, ja,« flüsterte Mutter Pittjewitt, »das kommt auch, das wird alles schöner und besser,« und dabei lächelte sie und zeigte nach oben.

Und da ging ein lieber Geist durch die Stube, wo die drei Menschen saßen in ihrer Trauer und in ihrer verzweifelten Lage. Aber draußen flutete ein fröhlicher Sonnenschein durch die vereinsamte Gasse, und Mielkes Kinder hockten auf der Hausschwelle und sahen den Schwalben nach, die mit hellem Gezwitscher die stahlblauen Lüfte durchsetzten.– – –

Etliche Wochen später saß Mutter Pittjewitt wieder am Fenster ihres Hauses in der Kesselstraße. Es war alles wie früher, wenn man ihr weißes Haar nicht achtete und das stetige Zittern ihrer linken Hand nicht bemerkte, das nicht mehr zur Ruhe kommen wollte.

Wie früher hatte sie ihre gefältete Haube und die schwingenden Ohrringe angelegt, wie früher sah sie auf die Straße hinaus, aber sie strickte nicht mehr, und an Stelle ihres sonst so heiteren Geistes war eine merkwürdige ängstigende Ergebung getreten. –

Aloys und Henne Terlinden waren inzwischen von Rechts wegen abgeurteilt worden. In einem dunkeln schmalen Gelaß hatten sie Zeit und Muße genug, sich die prompte Arbeit eines preußischen Friedensrichters durch den Kopf gehen zu lassen. Und das taten sie auch mit verbissenem Ingrimm. –

Über die Ereignisse der letzten Wochen begann sich allmählich ein zartes Vergessen zu schleiern. Die Leute fanden sich mit den gegebenen Verhältnissen ab, die erregten Szenen, die sich an das Geschehene geknüpft hatten, verblaßten, die Einzelheiten der Katastrophe verloren an Interesse, zumal die Behörde sich nicht veranlaßt sah, die Beweggründe der Tragödie unter gerichtliche Beleuchtung zu stellen und Aufhebens von einer Sache zu machen, die nichts weiter als ein Unglück bedeutete, mit dem sich lediglich die beiderseitigen, davon betroffenen Familien abzufinden hatten, so gut und so schlecht sie es eben vermochten. So kam es denn, daß sich schon bald nach der Beerdigung Jan Peerenbooms und der Überführung der sterblichen Reste Ull Koßmanns in die nicht fern gelegene Heimat die Gerüchte und Heimlichkeiten verflüchtigten und wie in einem zarten Nebel vergingen. Andere Begebnisse kamen an die Reihe, andere Dinge gehörten zur Tagesordnung; man kümmerte sich nicht weiter um die verunglückten Menschen, und nur ein schwarzangestrichenes Holzkreuz bezeichnete die Stelle, wo der Puppenspieler ausruhte von seiner Schnapsfahrt und der pompösen Komödiantenlaufbahn auf Erden. »Requiescat in pace sancta«, stand auf dem schlichten Holzkreuz zu lesen. Und der Wind spielte darüber hin, und der beginnende Herbst haspelte das Mariengarn um die niedrigen Scheite, und die kleinen Kinder kamen herbei, knieten bei dem noch frischen Grabhügel nieder und sagten: »Hier liegt Ohm Peerenboom begraben,« schauten sich an, nahmen sich sacht bei den Händen, hoben sich auf und begannen dann halb in Scherz und halb unter Tränen um die Ruhestätte des armen Puppenspielers zu tanzen, wobei sie mit zaghaften Stimmchen in die alte Weise verfielen:

»Bier en Kümmel lößt de Ohm, Kirsch en Pomeranze – Liewen Onkel Peeienboom, Laat de Pöppjes danze.

Hier 'ne Penning, dor 'ne Penning – Vöran, Baas! – Jantje Klaas – Jantje Klaas!«

Wer rief da?

War es nicht so, als kämen die Puppen geklappert?! Hatten nicht die Puppen gelacht und gerufen?! Erschrocken sahen sich die Kinder an, wischten sich an den Nasen herum, bis sie in ihrer Angst nichts Besseres zu tun wußten, als kreischend auseinander zu stieben.

»Jantje Klaas – Jantje Klaas .. ,!«

Dann ward es tot auf der vereinsamten Stätte. Nur der Wind wehte über das Grab fort und flüsterte leise: »Jantje Maas – Jantje Klans!« und das Mariengarn zog geruhsam Faden um Faden, haspelte geschäftig weiter, als wollte es das Erinnern an Jan Peerenboom ganz überspinnen. In zierlichen Strähnen flatterte es von den Scheiten über die geworfene Erde. Auch der Puppenspieler wurde mit den Tagen vergessen – vergessen wie die Verlobung zwischen Kathje und Pittje, die jetzt aufgelöst schien, und die doch seinerzeit so viel Aufsehens gemacht hatte, wenngleich sich auch einige bemüßigt fanden, Licht in dieses interessante Familienzerwürfnis zu bringen, und ein Seelenleben offenkundig zu machen, das sich ängstlich bemühte, das eigene Leid im verborgenen und stillen zu tragen. Allein es blieb, wie es war: man vermutete nur, verdrehte die Augen und hielt sich in pharisäischer Selbstüberhebung besser als die heimgesuchten und geschädigten Menschen, hatte noch wohl ein doppelzüngiges Wort in Bereitschaft, teils Mitleid, teils Schadenfreude verratend – und dann wurde auch dieses wieder vergessen, so halber vergessen wie so manche Leiden und Freuden und wie die Blätter da draußen, die sich inzwischen angeschickt hatten, krank und welk von den herbstlichen Bäumen zu taumeln. Auch Nikodems wurde nur wenig gedacht. Tränenlos hatte er seinerzeit dem Begräbnis beigewohnt, tränenlos die Lehre von der Vorherbestimmung ins Treffen geführt und tränenlos und ohne Bewegung von Kathje und dem Grabe seines Vaters Abschied genommen. Große Worte wurden ihm nachgesagt; dann war er wieder zur Gnadenkapelle gepilgert, allein, ohne Kathje, die sich geweigert hatte, mit ihm zu gehen. Aber er hatte versprochen, demnächst wieder zu kommen – und er kam wieder. –

Kleine Spinnen segelten auf ihren gedrehten Fäden durch die ruhigen Lüfte. Die Tage kürzten, müde krochen die Sonnenstrahlen über die kränkliche Erde, wie glühe Korallen hingen die Trauben der Ebereschen in den entblätterten Zweigen. Die Drossel schweifte; was an Getreide noch zu retten gewesen, war gemäht, geheimst und gedroschen worden – und dann war der Wind über die nackten Stoppelfelder gestrichen. Eines Morgens spreitete sich der erste Flatterschnee über die Landschaft, verging aber nach kurzer Zeit in Lachen und Pfützen. Grau und naßkalt zogen die Wolken darüber hin, die Ebereschen zerstreuten ihre Beeren, kompakte Nebel häkelten sich zwischen die feuchten Baumkronen oder legten sich schweren Leibes über die stillen Wasser, an deren Ranft das hohe Ried seine braunen Wedel aufgesteckt hatte. Langsamen Schrittes ging es in den Winter hinein, denn eines Tages begann es in den Gräsern zu rascheln. Die Krähen, die bislang in den Feldgehölzen ihr beschauliches Dasein gefristet, kamen unruhig herüber, um gesellig Quartier bei den Menschen zu nehmen. Frostig und mit geplustertem Wams vagabundierten sie durch die verödeten Straßen. Die Bäume streckten wie Bettler ihre Arme gen Himmel. Nur an Buchen und Eichen hafteten noch verschrumpfelte Flitter. Aber die Kälte brach auch diese mit klammen Fingern von den Ästen herunter, zerrieb sie und verstreute die morschen Partikel auf die gefrorene Erde. Memento mori! – Dann kamen helle, klingende Tage! – Sankt Nikolas war gewesen. Die Kinder hatten aus Mohrrüben Holzschuhe geschnipselt, sie mit Hafer gefüllt und gläubigen Herzens und in rührender Einfalt vor die Fenster gestellt, um auf diese Weise für den Schimmel des heiligen Mannes Sorge zu tragen. Nüsse und Printenmänner waren durch die Scheiben gehagelt. Frohe Gesichter und geöffnete Mäulchen...! – Unter Segenswünschen war der Sendling des Himmels weiter geritten mit seinem Ornat und dem Sankt Nikolaszauber. Seltsam hatten dabei die lichten Eiszapfen an seinem schneeweißen Flachsbart wie zusammengestimmte Glaskristalle geklingelt – eigentümlich und weltfremd! – Und dann: hinter dem Hause des verunglückten Puppenspielers dehnte sich eine spiegelklare Fläche; dort wurde Schlittschuh gelaufen. Adventschauer gingen über die Erde – und in stillen Nächten begann es am tiefen Horizont geheimnisvoll zu leuchten. Noch war es ein unbestimmtes Flimmern und Zucken; allein es berührte auch jetzt schon die Herzen der Menschen wie eine paradiesische Botschaft. Eine süße Vorahnung, eine liebliche Sehnsucht ging über die Lande. Der Stern von Bethlehem war im Aufstieg begriffen. Die heilige Weihnacht sollte bald kommen. – Frieden den Menschen auf Erden ...! – Ein großes und heiliges Wort, ein Wort der Hoffnung und der Tröstung – wenn es nur auf alle gepaßt hätte. Auf Sally Süßkind paßte es nicht, denn immer enger zogen sich für ihn die verhängnisvollen Garne zusammen. Notgedrungen und infolge der enormen Getreidepreise, die durch die eingetretenen Kalamitäten, durch Hagel und Mäusefraß gleich Federbällen emporgeschnellt waren, hatte er sich in all dieser Zeit energisch bemüht, die vollzogenen Kontrakte rückgängig zu machen, oder sie in günstigere und den obwaltenden Verhältnissen entsprechendere Zahlungsbedingungen überzuführen. Seine Kalkulationen brachen den Hals. Ja – hätte er anders gehandelt, hätte er das alles vorhersehen können, dann wäre manches besser gewesen – so aber bestanden die Herren Bäcker und Mühlenbesitzer auf ihren Schein, und Sally Süßkind war gezwungen zu liefern. Und er lieferte blutenden Herzens, nahm Kredit in Anspruch und sah sich genötigt, entgegen seinem sonstigen Geschäftsprinzip, verschiedene Wechsel in Umlauf zu setzen. Wechsel, Wechsel...! – Es gelang ihm auch, den Fälligkeitstermin einige Wochen über Weihnachten hinauszuschieben, allein, das war nur ein trauriger Behelf von heute auf morgen – eine klägliche Frist, die zwar die Schlinge gelockert, aber nicht von seinem Halse genommen hatte. Es war zum Verzweifeln! – Wenn Pittje ...! – Unmöglich! – zumal die an diesen behändigten zweitausend Taler erst kommenden Johanni fällig und einforderbar waren – und dann auch Pittje noch in sein eigenes Unglück verflechten ...! – Nein, für Sally Süßkind gab es keinen Frieden auf Erden. Er hielt sich für fertig, für abgewirtschaftet, und er glaubte zudem noch in den letzten Tagen die Wahrnehmung gemacht zu haben, daß der Ruf seiner Zahlungsfähigkeit hinkend und auf Krücken einherging. Er fah sich auf einem hohen Berg stehen. Vor ihm lag ein mächtiger Steinblock. Und dieser Steinblock kam plötzlich ins Rollen. Kein Halten und Hemmen! Hilflos stolperte er tiefer und tiefer; kleine Lebewesen und sonstige Existenzen mit sich reißend, machte er schließlich einen verzweifelten Sprung, um dann jählings und mit lautem Gepolter in ein breites, sumpfiges Wasser zu plumpsen.

»Waih geschrieen!« jammerte Sally, »nu is mein schöner Kredit ins Wasser gefallen.«

»So is es,« bestätigte Säkchen Reiß, »wir können's Konto beschließen.« Mit verwogenen Schnörkeln malte er dabei den Namen »Rosalie Leifmann« auf einen großen Bogen weißen Kanzleipapiers. Ja, es waren schlimme und traurige Zeiten!

Frieden den Menschen auf Erden ...! – Ein großes und heiliges Wort, eine Botschaft auf eine schöne und freudige Zukunft – aber auch auf Pittje Pittjewitt konnte dieses erhebende Wort keine Anwendung finden. –

Er hatte in den letzten Wochen und Monaten mit der Wut eines verzweifelten Mannes geschafft und gerungen. Er war sein eigener Knecht, er rackerte sich ab, um Sally zu helfen, er karrte mit seinem fahrbaren Schweinetrog über Land, in altgewohnter Weise seine Kunden zu bedienen. Vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht hinein war er tätig in seinem Ladengeschäft, barbierte und brachte die widerborstigsten Haare in Ordnung, und wenn er beim Essen saß, gingen ihm Geschäft und Verdienst durch den Kopf, und wenn er sich schlafen legte, dachte er wieder an Arbeit, und mit dem Gedanken an Arbeit schloß er die Augen, um andern Tages pflichtgemäß der Gemeinderatssitzung beizuwohnen und für seine Mutter, seine Schwester und die andern Menschen zu sorgen. Aus der Arbeit suchte er sich das Vergessen an frühere Zeiten zu holen. Aber er konnte nicht mehr, wie er wollte. Immer stand ihm Kathje vor Augen, Kathje, die, jetzt von allen bedauert und bemitleidet, ihre gewohnte Beschäftigung wieder aufgenommen hatte und im Puppenspielerhäuschen mit Bügeln und Nähen still ihre Tage verbrachte. Sie schien mit der Welt abgeschlossen zu haben. Unerklärlich wurde sie den übrigen Leuten – nur Pittje verstand sie. Und daher bemächtigte sich seiner, trotz seines ehrlichen Schweißes, trotz seines Ringens und Schaffens eine stetige Unruhe. Und diese Unruhe ließ ihn nicht los. Eine quälende Angst war sein Erbteil geworden. Er wußte genau, was seine arme Seele bewegte, aber er wagte es sich nicht einzugestehen, er schreckte davor zurück wie vor einem drohenden Unheil – und so lebte er denn in ständiger Trübnis, bekümmert um sich, in Sorgen um Mielke, um Sally und seine kränkliche Mutter, die, ohne einen Laut der Klage von sich zu geben, mit zitternder Hand und blaugeaderter Stirn umherging und mit toten Augen den gestrigen Tag suchte, den sie doch nicht mehr zu finden vermochte. Frieden den Menschen auf Erden...! – Aber Pittje konnte nicht mehr vergessen, was er doch vergessen mußte und sollte; er war zu alt darüber geworden. –

Es war an einem Abend im Advent und eine Woche vor Weihnacht. Noch war es nicht gänzlich dunkel geworden. Vom nordwestlichen Himmel hatte sich eine graue Decke über das niederrheinische Städtchen gezogen. Silberlichte Schneeflöckchen begannen aus dieser dichten Nebelhülle zu tanzen. Um die dunstigen Straßenlaternen legte sich ein straminartiges Netzwerk. Immer lustiger stiebten und wirbelten die hellen Flocken vom Himmel.

Nach des Tages Mühen und Lasten saß Pittje Pittjewitt an diesem Abend in einer traulichen Nische am Fenster. Er sah auf die Straße hinaus, in welcher die Menschen wie auf Daunen und Filzsocken gingen. Seine Mutter war im Nebenzimmer beschäftigt; sie sorgte für den heiligen Abend.

Um Giebel und Häuserfronten wirbelte es von flimmernden Sternchen. Safrangelbe Lichtbalken, die aus den erleuchteten Fenstern fielen, legten sich quer über die Straße. Ein warmer Glanz einte sich so der bläulichen Schneedecke, die alles vermummte und die frierende Erde wie mit liebevollen und warmen Tüchern umhüllte. Am gegenüberliegenden Hause wurde die Tür geöffnet. Der Seilermeister Janssen sah auf die Straße hinaus. Gleich darauf kamen zwei Männer vom Markt her, die ein beschneites Fichtenbäumchen ins Haus trugen.

»Für die Kinder,« flüsterte Pittje. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. Er erinnerte sich seiner eigenen Jugend und seiner Gefährten, mit welchen er Freud und Leid geteilt, und von denen schon so mancher gestorben – verschollen ...

»Ein Menschenleben ...!« meinte Pittje in trauriger Stimmung. »Zur Erde gekommen, im kurzen Dasein herumgewirbelt vom Wind und dann: kaum zur Ruhe gebracht und ein Plätzchen gewonnen – verderben und sterben müssen. Und niemand achtet darauf, und niemand trauert ihm nach – das Vergessen geht darüber hin, als wäre alles selbstverständlich gewesen.«

Keine tröstende Schau tat sich auf.

»Niemand, niemand ...!« lächelte der einsame Mann. Er mußte an sein eigenes Ich denken und legte in stiller Betrachtung die Hände zusammen.

Vom nahegelegenen Rathaus brummte die Turmuhr.

Erst fünf – und schon hatte sich rings ein nächtiges Dunkel gebreitet. Traumhaft und wie zierliche Schemen schwebten die flaumigen Schneekristalle an den Fensterscheiben vorüber, um sich auf die gespreiteten Daunen lautlos zu betten. In der kleinen Stube war nichts mehr zu unterscheiden. Alle Ecken und Winkel lagen umdüstert. Nur der große Kanonenofen gähnte mit seinem feurigen Rachen in die Stube hinein und zeichnete eine scharfumrissene Stelle auf die gescheuerten Dielen. Blinke Aschenpartikel irrten in wechselnder Folge durch die glühende Fläche. Mit seinem Knistern verloschen die Fünkchen.

Pittje erhob sich, legte die Laden vor und zündete ein Licht an; dann setzte er sich in die Nähe des behaglichen Ofens, mit dem Rücken der Tür zu. Ringsum einlullendes Schweigen! Nur von der Küche her begann ein Heimchen zu geigen. Gleich darauf ließ sich auch der Ofen in ein mattes Gespräch ein. Er plauderte mit den Stimmen, die sich im Rauchfang erhoben und immer deutlicher wurden.

Pittje hatte die Augen geschlossen. Ruhig und friedlich saß er im Lchnstuhl. Ein Zustand augenscheinlicher Lethargie hatte sich seiner bemächtigt. Dämmernd ging es über seine ermatteten Sinne. Scheinbar hörte er auf die wechselnden Laute, die in seiner Nähe Zwiesprache hielten. Er glaubte die eine Stimme zu kennen.

»Wer ruft da?«

Keine Antwort erfolgte.

»Kathje, bist Du es?«

»Ich bin es.«

»Du?«

»Ja, Pittje, ich bin es.«

»Woher kommst Du?« »Wo die Not ist.«

»Und jetzt?«

»Ich will zu Dir aus meinem namenlosen Unglück und Elend.«

»Kathje...!«

»Du willst nicht?«

»Nein.«

Pittje entsetzte sich. Er reckte sich auf und merkte, daß alles Täuschung gewesen. Mit einem tiefen Seufzer fiel er in sein Brüten zurück.

Wiederum begann es im Rauchfang zu plaudern und leis zu erzählen – der Wind orgelte im Kamin. Geheimnisvolle Laute wurden lebendig. Es war so, als käme es wie auf Eulenflügeln gezogen.

Ohne jedes Geräusch ging die Tür auf. Auf kaum hörbaren Schritten, zögernd, ängstlich und mit verhaltenem Wesen kam es gegangen – und wie auf ein zwingendes Gebot schloß sich wiederum lautlos die Tür.

Mit einem kurzen Schrei riß Pittje die Augen auf.

»Kathje...!«

Er glaubte noch immer zu träumen.

Aber es war kein Traum mehr – Kathje stand vor ihm.

»Woher kommst Du?«

»Aus dem Unglück.«

Es waren dieselben Worte von eben.

Unbeweglich, die Blicke starr auf ihn gerichtet, als ob kein Leben mehr in ihr wäre, sah er sie vor sich. Ein Tuch, das sie um Kopf und Nacken geschlungen und an dem noch die Schneeflocken hafteten, war ihr von den Schultern gefallen. Langsam glitt es zu Boden.

Kathje Peerenboom glich einer Verstorbenen. Ein schmerzlicher Zug hatte ihre Augenlider in die Länge gezogen, die Arme hingen lässig am Körper, Ohren und Nase erschienen von einer fast durchsichtigen Farbe, die Schultern waren schmaler geworden, und um ihr stilles Gesicht, dessen Tönung an gebleichtes Wachs erinnerte, legte sich das kastanienbraune Haar in schwellenden Massen. Ihr Körper war etwas nach vorn geneigt, als wären ihre jungfräulichen Formen zu schwer für ihre zarte und geschmeidige Taille geworden. Kathje Peerenboom schien unter dem Bann des Todes zu stehen, und nur das dunkle Veilchenblau ihrer Augen, das leuchtend aus den Wimpern hervorsah, gemahnte daran, daß sie noch immer lebte und liebte – liebte mit der ganzen Hingebung und Inbrunst ihrer gepeinigten Seele, und daß sie gekommen, um Liebe zu geben, um Liebe zu haben, ohne die es besser wäre, den Kopf hinzulegen, einzuschlafen, die Welt zu vergessen und nicht mehr aufzuwachen für das irdische Dasein.

Pittje glaubte eine Erscheinung zu sehen. Schüttelfrost rüttelte ihn. Er stand wie ein Mann, der bei klarem Bewußtsein, aber zu dem Männer mit dem geheimnisvollen Bedeuten gekommen, ihn überzuführen in das stille, graue Haus für geistig umnachtete Menschen.

Kathje rührte sich nicht.

»Pittje,« sagte sie schmerzlich.

»Du?« »Ja. – Heilig Abend steht vor der Tür, und ich bin gekommen, um mir Verzeihung zu holen.«

In monotoner, fast singender Weise hatte Kathje gesprochen.

Da kam die Wut über ihn. Er packte sie bei den Schultern und rüttelte sie.

»Und da kommst Du – wo Du mein ganzes Leben vergiftet...?!«

Willenlos ließ sie alles geschehen, nur ein herzzerreißendes Lächeln ging über ihr Antlitz. Und er sah dieses Lächeln und erkannte in ihm sein zertrümmertes Glück und sein verlorenes Leben. Und er sah in diesem Lächeln die Gnadenkapelle von Marienbaum und fliegende Kirchenfahnen und ziehende Menschen, und er sah die endlosen Wiesen, wo er still und zufrieden gewesen, und den geheimnisvollen Vogel, der auf weichen Flügeln darüber schwebte und schwankte, und Kathje und sich – und große Blumen standen umher, und der Mond tauchte mit seinem Licht hinein und küßte die Blumen. Doch wie er genauer zusah, da waren Tropfen schwarzen Blutes darüber gefallen.

Dies Lächeln, dieses entsetzliche Lächeln...!

Bei Kathje war die Starre gewichen. Zögernd begann sie: »Es ist besser so, daß ich noch einmal gekommen. Jetzt weiß ich, was ich verloren. Früher ist das anders gewesen, da wußte ich nicht, was ich sollte und durfte. Warum mußte ich diesem Menschen begegnen? Warum mußte ich tun, was er sagte und wollte? Woher kommt es, daß ich das auch jetzt nicht verstehe?« »Warum?« stammelte Pittje. Er hatte ihre Rechte ergriffen und sie mit kalten Fingern geknebelt. »Das will ich Dir sagen. Weil Du...«

Er schluckte die häßlichen Worte herunter.

»Nein,« sagte Kathje, »das stimmt nicht, das stimmt nicht ...«

Sie hatte die Augen geschlossen.

Mit einem dumpfen Laut warf Pittje ihre Hand aus der seinen.

Sie rührte sich kaum.

»Pittje, das stimmt nicht,« fagte sie mit derfelben Klangfärbung und der nämlichen Ruhe. »Mein Herz ist nicht rein geblieben, das weiß ich, und mein Empfinden hatte den richtigen Faden verloren. Aber – so wahr mir Gott helfe zum ewigen Leben! – hier dieser Leib ... Und jetzt ist auch meine arme Seele erlöst von den Übeln.«

Sie wankte zurück und griff mit beiden Händen ins Leere. Sie wäre getaumelt – aber Pittje war bei ihr.

Große Tränen drangen durch die geschlossenen Lider.

»Aber Du antwortest mir nicht – Du antwortest mir nicht...«

Ihr Sprechen war kaum verständlich gewesen.

Pittje wandte sich ab.

»Der Schein ist wider mich,« bekannte sie. »Ich habe gesündigt, gesündigt an Dir und mir und den anderen Menschen, aber meine Schuld ist nicht so ganz erbärmlich gewesen, wie es wohl aussieht. Ich hätte glücklich sein können – und nun mußte da so ein Mensch kommen, der das alles zerstörte.« Sie wimmerte leise.

»Ich murre nicht gegen das, wie es gekommen, denn ich habe es selber verschuldet, und tragen will ich, was ich reichlich verdiente. Was folgen wird, kann ich nicht sagen, aber das weiß ich: Du wirst meiner gedenken im Leben.«

Sie umschlang ihn so plötzlich und innig, daß er sich ihrer nicht mehr zu erwehren vermochte. Der berauschende Duft des Weibes war bei ihm.

»Kathje, um Gottes willen, was ist das?!«

»Du wirst meiner gedenken im Leben,« sagte sie mit gehobener Stimme, »und das ist Dein Vermächtnis – das nehme ich mit mir. Wenn auch scheinbar getrennt und auseinandergerissen, wir beide sind doch verbunden für immer. Ich existiere nicht mehr für Dich, ich bin ausgelöscht in Deinem Gedächtnis – das glaubst Du, aber ich sage Dir, Pittje, Du irrst Dich, Du irrst Dich. Wir gehören zusammen – wir gehören zusammen ...!«

Mit einem lauten Schrei, der bis auf die stille Straße hinausdrang und dort gehört werden mußte, war sie ihm zu Füßen gefallen. Sie hielt seine Kniee umklammert und schluchzte wie jemand, dem sein Bestes genommen.

»Laß mich nicht gehn – nicht so allein gehn. Erbarme Dich meiner!«

Pittje war weich wider Willen geworden. Er beugte sich nieder und näherte sich mit seinem Munde dem Scheitel des verlorenen Mädchens.

Es war unendlich still in der Stube, wo die beiden unglücklichen Menschen sich noch einmal gefunden hatten. Nur das Heimchen geigte, und knisternd stiebten die feinen Schneesternchen gegen die Scheiben. Auch im Rauchfang begann es wieder verstohlen zu raunen. Horch, wie es tönte!

»Wer ruft da?«

»Kathje bist Du es?«

»Ich bin es.«

»Woher kommst Du?«

»Aus dem Unglück.«

»Wohin willst Du?«

»Ins Elend – aber erbarme Dich meiner!«

Ein Windstoß kam und verwirrte die verschiedenen Stimmen; dann verstummten sie gänzlich. Nur die Schneekristalle trieben ihr knisterndes Spiel fort.

Und wieder das jämmerliche Klagen und Schluchzen: »Laß mich nicht gehn – nicht so allein gehn. – Ich will Dich halten und ehren – ich will Deine Magd sein – Dein Hund...!«

Ein bitteres Lachen ertönte.

Mutter Pittjewitt war bleich wie das Elend aus dem Nebenzimmer gekommen. Den weißen Scheitel trug sie gebeugt; in den stahlgrauen Augen jedoch brannte ein vernichtendes Feuer. Sie streckte die zitterige Hand aus. So war sie, krank und siech, aber noch immer die Alte, zwischen die beiden Menschen getreten.

»Die...?!«

Das Wort klang verächtlich.

»Pittje,« sagte sie, ohne mit der Stimme zu beben, »wähle zwischen Deiner Mutter und der da.«

»Mutter, Mutter...!«

»Ich habe weiter nichts zu sagen, aber Du weißt, was Du mir und Deinem ehrlichen Namen gegenüber zu tun hast. Oder soll ich »Angtree« rufen, daß auch noch die Schande hereinkommt?«

Kathje hatte sich langsam erhoben und wiedergefunden.

»So mußte es kommen.«

Mechanisch kamen die Worte von ihrem Munde. Eine bittere Herbe legte sich um die gekniffenen Lippen. Sie hatte ein Schriftstück aus ihrem Mieder genestelt.

»Hier ist die Hypothekenverschreibung, die mir Pittje in besseren Tagen geschenkt hat.«

Mutter Pittjewitt schüttelte den Kopf.

»Nein,« sagte sie mit einer gewissen Rührung und Milde, »Du kannst es besser gebrauchen wie wir. Du hast es vonnöten. Und dann: geschenkt ist für immer gegeben.«

»Pittje, Du wirst meiner gedenken im Leben.«

Und Kathje ging hinaus, hinaus auf die Straße – und als sie hinausging, da war ein ruhiger Mann mit putzigen Hasenpfötchen, einem guten Gesicht und mit einem Priemchen hinter der Backe ins Zimmer getreten. Und dieser merkte sofort, was vor seinem Kommen geschehen war. Ohne weitere Redensarten zu machen, hatte er sich direkt an Pittje gewendet.

»Pittje, ich frage gehorsamst: sie war hier?«

»Sie war hier.«

»Un Du...?«

»Wilm, Wilm...!«

»Pittje, bekriege Dir man un geh' nich über den Maxusstandpunkt Deiner Besinnung. Was Deine Mutter Dir anrät – Pittje, ich melle gehorsamst – das muß ich für richtig halten, denn das is immer richtig gewesen. Aber Ull Koßmann,« und seine Stimme nahm einen bedrohlichen Ton an, »der Dein ganzes Leben auf sein Kerbholz genommen – mit Respekt zu vermellen – den hole der Düwel! – So – un nu setze Dich hierher, denn nu rauchen wir 'ne gemütliche Pfeife Tabak zusammen.«

Pittje folgte, aber er hatte auf Jahre hinaus das Lachen verloren. –

Und Kathje trieb hinaus, hinaus in die Schneenacht, und die Leute, die sie von der Schwelle Pittjes kommen sahen, blickten ihr mitleidig nach und dachten das ihre.

Und als sie zu Hause ankam, da war Licht in der vorderen Stube. Und als sie fröstelnd hineinging, trat ihr ein Mann in schwarzer Soutane entgegen – und das war ihr Bruder, Nikodem Peerenboom, der Kaplan.


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