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Am Nachmittage war die Hitze noch erdrückender geworden. Wie leblos hingen die Lindenblätter an den erschlafften Stielen herunter. Auch nicht der geringste Luftzug machte sich in den müden Kronen bemerkbar. Die Prellsonne hatte das Leben in den schmalen Gassen des kleinen Fleckens zurückgebremst. Die Kramläden standen verwaist, die bestaubten Plankarren träumten hinter der Gnadenkapelle, und die Fuhrknechte lagen ausgestreckt unter den Spriegeltüchern, schnarchten oder haschten nach den zudringlichen Fliegen, die mit einem feinen Genäsel ungemütlich in die Traumwelt der klobigen Kerle hineinsummten. Auch in den benachbarten Gärten war ein Schläfern und Duseln. Die türkischen Bohnen hatten kaum noch Kraft genug, sich an den schräg gestellten Stangen zu halten. Selbst die sonst so straff aufragenden Stengel der Feuerlilien bogen sich ein und ließen die ziegelroten Köpfe traurig hängen. Die Luft hatte sich zwischen den hohen Bocksdornhecken gefangen und fand keinen Ausgang. Alles duckte sich unter der brütenden Hitze und hatte die Lust am Wachsen und Treiben verloren. Kein Spatzengeschilp – keine Grasmücke ließ sich vernehmen. Nur ab und zu fiel eine unreife Frucht mit dumpfem Geräusch in die Erbsenbeete hinein. Das waren die einzigen Laute, die aus den müden Gärten hervordrangen. Aus den Kneipen aber schallte Fidelität und Gelächter. Der Schnaps belebte die ermatteten Geister und drängte die Erinnerung an die ausgestandenen Mühseligkeiten beiseite. Hier wurde den Speisen zugesprochen, dort streckte man die Beine unter den Tisch, sang und räkelte sich, politisierte, um zeitweilig und bei passender Gelegenheit einen ›Ollen Klaren‹ hinter die Binde zu schieben. Die Macht des Rosenkranzes war für eine kurze Spanne dahin. An Stelle der Muttergottesbildchen waren andere Bilder an die Reihe gekommen. Das Treffel-Daus knallte auf den Tisch, wurde aber von der Atout-Zehne gestochen, und Pfiffig schielte der Coeur-Bube nach der Schüppen-Dame herüber. »Was kostet die Welt!« rief der säbelbeinige Bäckermeister seinen Partnern zu, legte die Karten beiseite und strich den Gewinn ein.
Mittlerweile hatte der Schellfisch seine Mission bei Kathje erledigt. Mit allen Zeichen seiner Würde ausgerüstet, war er dabei wie ein Ketzerrichter verfahren, unnachsichtlich, streng und geheimnisvoll, als wäre er ausgesandt worden, eine Abtrünnige vor das höchste geistliche Gericht zu zitieren. Kathje, die gerade im Begriff stand, ihren Bruder aufzusuchen, ließ ihre Mitschwestern vom heiligen Herzen Jesu beim Kaffee zurück, begab sich zu Pittje und erzählte diesem unter Tränen was vorgefallen.
Die Herberge ›Zum frommen Pilgersmann‹, wo Pittje und Wilm Henseler eingekehrt waren, hatte nur wenigen Zuspruch, so daß Kathje ihre Erlebnisse ungestört vorbringen konnte, Erlebnisse, bei deren Erzählung der wackere Schreinermeister derart kompakte Ausfälle gegen Aloys Pierentrecker von der Seele herunterraspelte, die gewiß nicht daran gedacht haben mochten, bei einer Fahrt, wie die heutige, Verwendung zu finden.
Wie Kathje geendet, hatte Pittje nur ein überlegenes Lächeln als Antwort.
»Aber – den Düwel noch mal!« – fuhr Wilm Henseler dazwischen, »Du lächelst bei dieser Aloys Pierentreckerschen Order? Stelle Dir vor, was das besagt in der christkatholischen Kirche: öffentlich vor einen Heerohme berufen zu werden! Das is musmaßlich noch schlimmer, als wenn ein Raubmörder vor die Assisen gestellt wird. Das bedeutet eine Kränkung gegen Dir un gegen die Menschen, die es gut meinen mit Deinem ehrlichen Namen.«
»Aber, was schadet's?« fragte Pittje mit jovialer Betonung.
»Pittje, Deinem Honnör nich – geht aber Kathje hin, dann erkennt sie ihren Mjinheer Bruder als geistliches Tribunal an, un gewissermaßen auch Du, denn sie is Deine wirkliche Braut un somit auch berechtigt, Dir zu vertreten. Un vertritt sie Dir, dann heißt das soviel, als wenn Du Dich fürchten tätest wegen der priesterlichen Gewalt, un das geht über den Maxusstandpunkt un is musmaßlich nich geeignet, Deinen Namen nobeler zu machen. Nein, Pittje – Du darfst Dir von dem jungen Heerohme nich platt hobeln lassen, denn Aloys un seine Kollegen ...«
»Laß die doch man machen! – Die gehören all zu der nämlichen Sorte. Du, Wilm, ich kenne so viele, die stets mit dem Rosenkranz herumfummeln, die Augen verdrehen, den Klingelbeutel für die Klingel des Herrn verschleißen und ähnliche kirchlich-unkirchliche Sporte betreiben – aber das ist auch danach, denn wie die meisten haben auch diese Sporte die sonderbarsten Blumen am Stengel. Gottdomie noch mal! – entrüsten sich doch diese lumpigen Kerls in moralistischer Hinsicht, wenn kleine Jungs im Wasser ohne Badehose 'rumvoltigieren, gehen aber, wenn's Abend geworden, wie die Igel 'rum und kucken durch Ritzen und Spalten, wo sich so'n dralles Dienstmädchen ins Bett legt. – Ne, Wilm, laß diese Kerle man laufen ...!«
»Schön – aber von wegen des Hingehns?«
»Wer denkt denn daran ...?«
»Du nich – aber Kathje vielleicht. Pittje, ich weiß: Du hast keine Bange, aber Du darfst Dir auch nich den anderen Leuten gegenüber vergeben. Daß der Schellfisch Dir un ihr bei dem leiblichen Bruder gemolden, weil Du ihr freundlich beigestanden hast, das konntest Du nich hindern, un dafür werden ihm die Birken mal eklig aufstoßen – allein, daß er Dir un ihr gemolden, un sie darauf hingeht, das darfst Du Dir als Pittje Pittjewitt un in Deiner Eigenschaft als Bräutigam nich gefallen lassen – un darum, mein' ich, mußt Du dagegen energisch opposuieren.«
»Verlaß Dich darauf, das soll auch geschehen.«
»Recht so – un darum mußt Du Dir präzise von jetzt an öffentlich als Kathjes Bräutigam hinstellen, denn nur auf diese Weise bist Du berechtigt, etwaigen Lügen über das Mundwerk zu fahren. Also Pittje: opposuieren un Dir offenkundig benehmen – das is das allein Richtige, um Dir gegen den Schellfisch zu schützen un Dir nobel zu halten.«
»Ich danke Dir, Wilm. Kathje wird also nicht der Aufforderung ihres Bruders entsprechen. Sie bleibt bei mir, und ich gebe Dir jetzt schon die Vollmacht, unser Verlöbnis bekannt zu geben.«
»Ganz meine Meinung.«
»Und ferner, Wilm: wir werden uns nicht mehr der Prozesston anschließen, sondem gemeinsam, Kathje und ich, nach der Vesper und wenn's kühler geworden, den Heimweg antreten. Wenn Du aber ...«
»Pittje, ich nich. Ich mache mit der Prozession selbstverständlich zurück un zwar von wegen der Birken. Ich will doch sehn, ob ich keine Standpünkter kriege, dem vermeintlichen Kerl die verdiente Schlinge über dem Halse zu werfen. Un somit, Pittje ... Hörst Du, sie läuten zur Vesper.«
Und da gingen sie hin in aller Eintracht: Wilm, Pittje und Kathje, und die Leute sahen ihnen nach, und als sie zur Kirche gekommen, ergriff Wilm die Hand seines Freundes und meinte mit so recht treuherzigen Worten: »Ich gratuliere Dir, Pittje, von wegen Deiner energischen Forsche. Un nu können wir meinetwegen die heilige Vesper besuchen. Ich bitte Dir, Kathje – angtree!«
Und sie traten unter Glockengeläut in das Dämmerlicht der Kirche, Wilm aber erst, nachdem er sein Priemchen in die Westentasche befördert hatte, denn es war ihm zur Regel geworden, beim Gottesdienst alle weltlichen Genüsse zu opfern und gewissermaßen an den Nagel zu hängen. Hier kasteite sich Wilm, eine überkommene Angewohnheit seines seligen Vaters, der, selbst während der Schlafenszeit ein leidenschaftlicher Tabakkauer, in der Kirche das saucierte Virginiaröllchen beiseite legte, um, wie er sagte, nicht mit einem leckeren Priemchen im Munde vor seinen lieben Herrgott zu treten.
Die Gläubigen hatten sich inzwischen wieder eingefunden, die Feier begann, und der Weihrauch kräuselte sich in zierlichen Spiralen zur Decke. Eine angenehme Dämmerhelle, ein verschläfertes Schummern zitterte durch die niedrige Halle. Draußen hatte sich leise der Wind aufgetan. Schwanke Lindenzweige fingerten verstohlen gegen die bunte Verglasung der gotischen Fenster und ließen herzförmige Schatten über die betenden Menschen huschen. Wie große Trauerfalter schwebten sie hierhin und dorthin.
Auf den Steinfliesen vor dem Muttergottesbild kniete Kathje. Mit seinen Stimmchen knisterten die brennenden Wachskerzen in ihre Seele hinein. Sie war eigentümlich erregt, und ihr schien es, als würde sie von einem dämonischen Zauber gefesselt, als sei eine Gewalt zwischen sie und ihre Liebe getreten, um sie unwiderstehlich an sich zu reißen. Und immer diese Blicke, diese versengenden Blicke! Eine quälende Angst ergriff sie.
»Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von den Übeln. Amen.«
Kathje betete mit verhaltener Inbrunst.
Es raschelte in den Papierrosen des Muttergottesbildes. Vom Westportal bis zum Chor strich ein erquickender Luftzug.
»Erlöse uns von den Übeln ...« Aber die Blicke wollten nicht von ihr lassen. Kathje fühlte sie, obgleich sie wußte, daß sie sich nicht in der Kirche befanden. Halb irr und betäubt vor lähmender Furcht drückte sie die Stirn auf die kühlenden Steine. Kathje hörte nicht mehr; sie hatte keinen Sinn mehr für alles das, was um sie vorging. Die Wachskerzen wuchsen ins Riesenhafte hinein. Die kleinen Flämmchm, die nur ein erbärmliches Leben an den Dochten fristeten, wurden zu grotesken Flammen, die sie tanzend umspielten.
»Erlöse uns von den Übeln ...« betete Kathje.
Der Weihrauch stieg, und der Segen wurde gespendet; das Kirchlein leerte sich. Ein schwaches Gemurmel machte sich draußen unter den Linden bemerkbar. Kathje hatte dessen nicht acht, und sie wußte kaum, daß sie schließlich in der Gnadenkapelle allein war. Eine dumpfe Beklemmung hatte sich ihrer bemächtigt; die Kerzen tropften mit leiser Musik auf die Messingbehälter; die Flämmchen schrumpften in sich zusammen; die Weißen und roten Papierrosen raschelten weiter und weiter. –
Gleich nach der Vesper begab sich Nikodem in seine nahegelegene Wohnung, griff nach Pfeife und Fidibus und setzte den Tabak in Brand, nachdem er vorher einen gedrehten Wachsstock entfacht hatte. Das bräunliche Pfefferrohr mit dem Zeigefinger der linken Hand umspannend, die Rechte unter die Schöße der Soutane geschoben, ging er qualmend und mit hastigen Schritten im Zimmer auf und nieder. Nikodem schien die blankgescheuerten Dielen seiner sehr einfach und bescheiden ausgestatteten Stube zu zählen. Durch die weißen Mullgardinen blinzelte die Sonne ins Zimmer und äugelte verstohlen mit dem spärlichen Hausrat, der so kalt und ungemütlich sich anließ wie die eingetrocknete und vereinsamte Seele des unruhig auf und nieder hastenden Cölibatärs. Keine Blumen grüßten von draußen hinein, keine mit Pflanzen bestandene Scherben winkten ins Freie, so daß, trotz der Juliwärme, ein Frösteln die vier Wände durchwehte. Der Geist des Unwirtlichen, Armseligen, Unfreundlichen saß in einer abgelegenen Ecke hinter dem Bücherregal, strich sich die dünnen Haare hinter die glasigen Ohren, machte ein vergrämelt Gesicht und blies nun schon seit geraumer Zeit Langeweile und Trübsal durch die vom Tabaksqualm angebräunte und durchräucherte Stube – und gähnte.
Die Wohnung Nikodems, die unter demselben Dach wie die des Pfarrers gelegen war, bestand lediglich aus diesem Zimmer und einer jenseits des Korridors sich befindlichen Schlafstube. Wahrhaftig! – die allererbärmlichste Kirchenmaus hatte es besser. Die bescheidene Sakristei, wo sie hauste und die heiligen Möbel anschrotete, war ein Prunk- und Paraderaum gegen dieses Quartier, in welchem die täglichen Mahlzeiten auch nicht reichlicher ausfielen wie in der Behausung des schnuppernden Mäuschens. Dreihundert Taler! – Mit diesem kärglichen Lohn, mit dieser Hungerspende hatte sich Nikodem über Wasser zu halten, mußte sich hiervon ernähren, rasieren, bekleiden und sein tägliches Deputat an Tabak bestreiten. Dreihundert lumpige Taler! – Zuviel zum Sterben, zuwenig zum Leben! – und dennoch hatte er es verstanden, die Taler mobil zu halten und Kathje ein Kleid zu verstatten, ein Taschenspielerkunststück allerersten Ranges, welches selbst dem haushälterischen Pastor einen Ruf der Bewunderung abgelockt hatte. Wäre Nikodem kein Priester geworden, hätte er die Staatskarriere ergriffen und sich in die Geheimnisse der Staatsschulden vertieft – keine Frage: er wäre der beste Finanzminister gewesen. In Geldangelegenheiten hatte er einen praktischen Blick, der ihn in anderen Dingen gänzlich im Stich ließ und ihn dieserhalb in den Geruch des Mondmenschen brachte. In der Tat – der Herr Kaplan Peerenboom war ein blutjunger, aber auch blutarmer Waller auf irdischer Laufbahn, der sich fast ausschließlich von Kyrie eleison-Semmeln und Hallelujah-Würstchen ernährte, kärgliche Gerichte, die er jedoch durch kleine Zutaten von zelotischen Ingredienzien pfefferte und salzte und somit schmackhafter machte.
›Der Herr ist mein Hirt,‹ diese fromme und in gotischen Buchstaben verfaßte Devise grüßte von der kahlen Längswand des Studierzimmers herunter. Mit Perlen auf Stramin gestickt, unter Glas gebracht und mit einer schmalen Goldleiste umbordet, bildete dieses sinnige Geschenk der diesjährigen Erstkommunikanten das einzige Schmuckstück an den gekalkten Wänden, das, unter Beihilfe von etlichen Bücherregalen mit Werken theologischen Inhalts, eines Garderobeständers, eines Tabakskastens und weniger Stühle mit geflochtenen Rohrsitzen, sich in etwa bemühte, den Schein des Behaglichen, wenn auch nur als dürftiges Fragment vor Augen zu führen. Nein – in den vier Pfählen des jungen Klerikers konnten sich keine Lebewesen behaglich und glücklich fühlen, wenn man von den Fliegen absah, die sich auf dem warmbeschienenen Fensterbrett unermüdlich beim Liebesspiele ergötzten.
Insichgekehrt und mit großen Schritten durchmaß Nikodem mindestens zum vierzehnten Male den kahlen Raum seines Zimmers, als es draußen an die Tür pochte, und Ull Koßmann die Stube betrat.
»So in Gedanken, Hochwürden?«
»Leider Gottes! – und zwar in Gedanken, die nicht zu den angenehmsten gehören.«
»Hm!«
»'ne Pfeife gefällig?«
»Danke, mein Junge. Rauchen? Niemals! 'ne brutale Gewohnheit, deren Reize ich nie zu ergründen vermochte.«
»So? – aber ich sollte doch meinen ...«
»Bemühe Dich nicht,« unterbrach ihn der Maler, »Deine fanatischen Rauchtheorien sind bei mir als deplaciert zu betrachten, vornehmlich jetzt, wo sich meine Lungen da draußen in Gottes freiem Odem geweitet.«
»Und bist nicht in der Kirche gewesen?«
»Ich? Nein. Aber da draußen bin ich gewesen, weißt Du: trotz der mörderischen Hitze zwischen den Feldern dahinten. Herrgott noch mal! – diese flimmerige Luft, dieses saftige Grün in den Pappeln, dieser göttliche Farbenrausch an allen Ecken und Enden, diese sanft versterbende Kobaltbläue auf den ferngelegenen Wiesen – nein Du, mein Junge: solche Tinten und Töne bietet doch nur unsere niederrheinische Heimat! Und dazwischen das Zinnoberrot der Ziegeldächer, die Resedafarbe des Korns – und dabei das glückliche Gefühl, das hehre Bewußtsein ...«
»Na, was denn?«
»Ein Modell gefunden zu haben.«
»Wirklich?! – und in diesem sind alle Eigenschaften verkörpert, die das zu schaffende Werk beansprucht?«
»Alle! – ein Modell so recht nach meinem Herzen, so ohne Tadel und Fehl, so ganz wie ich wollte: ein Madonnengesicht mit braungoldigen Haaren.«
»Und das wäre?«
»Deine Schwester.«
»Die?!« entsetzte sich der junge Kaplan, nahm die Hornspitze zwischen die knirschenden Zähne und schlug die Hände zusammen. »In der Sünde gezeugt, in der Sünde geboren ...«
Nikodems Geist schien in die vierte Dimension entrückt. Kathje als Modell für die allerseligste Jungfrau! Sakrileg! – Ull Koßmann hätte ebensogut die Behauptung aufstellen können, sie sei unter Gngelchören mit Harfenklängen geradenwegs und noch mit ihrem irdischen Leibe behaftet gen Himmel gefahren. Nein – diese Hypothese des Unsinns!
Der junge Heerohme faßte es nicht. Verstörten Blickes sah er seinen Freund an und wiederholte noch einmal: »In der Sünde geboren und darum prädestiniert für die Sünde – und Du ...«
Der Maler war näher getreten, klopfte ihm auf die Schulter und meinte mit lachendem Munde, wobei die Zähne, blendendweiß wie die eines Raubtiers, aus den frischen Lippen hervorsahn: »Laß das man gut sein, mein Junge! Wenn auch in der Sünde gezeugt und geboren, so was gibt's nicht wieder unter der Sonne. Dieser Erdgeruch an ihr, so'n Madonnengesicht, das nach dem Künstler schreit, diese verkörperte Anmut und das Fesselnde in den seelischen Blicken – so was für mich ... Du, ich brenne darauf, auf sie, auf dieses Modell, das in des Wortes vollster Bedeutung eingreifen dürfte in mein Leben und Schaffen und ein Werk zeitigen könnte, vor dem die Menschen knieen und beten sollen, weltentrückt und in gehobener Stimmung.«
»Koßmann ...!«
Wieder nahm der junge Kaplan seinen hastigen Rundgang auf. In nervöser Unruhe große Wolken verpaffend, schien er den kahlen Geviertraum für einen Zwinger zu halten.
Ull Koßmann hatte sich in einen Sessel geworfen und zahlte die Schritte des ungelenken, sommersprossigen Mannes in der Soutane.
Jetzt hielt dieser den Fuß an.
»Und da glaubst Du ...«
»Ich will Dich in keiner Weise beeinflussen – aber ich glaube. Wenn die mir sitzen wollte, wenn Du es vermöchtest – Herrgott noch mal! – im Interesse der Kunst, zur höheren Ehre Gottes, es wäre verdienstvoller, gottwohlgefalliger und besser für Dich, als wenn Du jahraus jahrein auf den Knieen lägest, um für das Seelenheil Deiner Dir anvertrauten Herde zu beten.«
Nikodems Augen taten sich auf.
»Und ferner, mein Junge,« fuhr der Maler mit verhaltener Stimme fort, »ich kenne das Leitmotiv Deiner geängstigten Seele: Kathje, prädestiniert für die Sünde. – Zugegeben, daß diese strenge Doktrin nicht zu Unrecht besteht, so liegt doch die Frage nahe, ob nicht ein gottwohlgefälliges Werk imstande wäre, diesen Fluch, diese brutale Vorherbestimmung in etwas zu schwächen, wenn nicht ganz illusorisch zu machen.«
Daran hatte Nikodem nicht gedacht; sein erregter Geist bequemte sich, in ruhigere Bahnen zu lenken.
»So, so, so!« machte der junge Kaplan. »Ich bin kein Prinzipienreiter, will nicht auf einer vorgefaßten Meinung bestehn und bin dieserhalb gern bereit, einem verlorenen Schaf über die Hürde zu helfen, vorausgesetzt ...«
»Also Du wolltest?«
Nikodem stand wieder in Überlegung.
»Koßmann, gib mir Bedenkzeit.«
»Unmöglich; die Sache ist dringlich. Es kocht in mir, es gärt in mir; ich muß zu Rande kommen mit meinen Gedanken. Dieser Zustand ist qualvoll, mein Junge. Das Modell ist gefunden, der Traum meiner Nächte scheint sich verwirklichen zu wollen, ich brauche nur zu fassen, zu greifen – und Du ...«
Nikodem ließ neue Kräuselwölkchen seinen zugespitzten Lippen entsteigen, wobei die sommersprossigen Finger der rechten Hand hastig an den Knöpfen der Soutane auf- und niederklavierten.
»Koßmann, 'ne heikle Sache; allein, wenn Du absolut auf Deine Künstlerlaune ...«
»Keine Künstlerlaune – Überzeugung, Kaplänchen!« »Überzeugung?! – Gut, auch die nehme ich hin. – Wenn Du also bestimmt auf dieser Deiner Überzeugung beharren mußt und des Glaubens bist, hierdurch dem großen Werke zu dienen – in Gottes Namen! – ich will Deine Pläne nicht kreuzen, aber ich bin doch gespannt, näheres über den Gang fraglicher Modellaffäre zu hören.«
»Hm!« versetzte Ull Koßmann, lehnte sich in den Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und legte die weißen Hände zusammen.
»Meine Theorien,« also begann er in einer fast docierenden Weise, »mein künstlerisches Glaubensbekenntnis habe ich Dir schon heute morgen entwickelt. Der Kürze der Zeit halber konnten sich diese meine Deduktionen allerdings nur embryonenhaft geben, und bin ich daher gezwungen, dieses mir innewohnende Glaubensbekenntnis, unter ausführlicher und sachlicher Begründung, Dir gegenüber noch einmal zu rekapitulieren.«
Ull Koßmann hob die gesenkten Augenlider empor.
»Du bist doch einverstanden damit?«
»Ich bitte darum,« erwiderte Nikodem, indem er seinem Freunde gegenüber Platz nahm.
»Na – so will ich also beginnen. – Du weißt, ich bin bei den Nazarenern in die Schule gegangen. ›Mir ist die Kunst eine Harfe, darauf ich möchte allzeit Psalmen ertönen lassen zum Lobe des Herrn!‹ dieser von Overbeck herrührende Jubelruf ist auch in meine Seele übergegangen, wenngleich meine schöpferische Tätigkeit ihm und seiner Schule gegenüber im Laufe der Zeit eine ganz andere Wendung genommen. Kein Zweifel, Oderbecks Werke wurden auf dem christlichen Parnaß als bedeutsam anerkannt; seine Malweise war Evangelium geworden, und es ist nicht zu leugnen, daß seine Bilder im Geiste Fiesoles gedacht sind und alle Reize der Gemälde eines Perugino besitzen. Sie sind von inniger Empfindung und lauterem Ausdruck, sie atmen einfache lyrische Stimmung, ergreifen das Gemüt und legen auf den idealen Wert der Komposition und das Symbolische des Gedankengehaltes den gehörigen Nachdruck. Ohne Frage, die Formen sind in scharfen Rissen gezeichnet, die Gruppen wirksam, aber die Luftperspektive mangelt, die Rundung fehlt, und der Zauber des geheimnisvollen Helldunkels ist so gut wie unverstanden geblieben. Eingehende Naturstudien, Benutzung von Modellen – diese notwendigen Erfordernisse und Requisiten modernen Malens sind ihm allzeit böhmische Dörfer gewefen. Alles stumpf, flach, grau; das hatte kein Licht, ging nicht in die Tiefe und trat nicht aus der Fläche heraus, in der Verkörperung zeigten sich Lücken, kein lebendig Empfinden, keine Qualität der Dinge – kurz, es fehlte dasjenige, was die Natur in so überschwenglicher Weise dem sinnlichen Auge zu bieten vermag. Das Dichten und Denken in Farben blieb ihm versiegelt – und somit ist er eben der gepriesene Nachfahre Fra Angelicos, ein malender Klosterbruder geblieben.«
»So?« machte Nikodem.
»Ja. Ich frage Dich selbst, Nikodem. Abstrahiere von den obigen Vorzügen, lege die lyrische Stimmung beiseite, lasse einmal die symbolischen Spitzfindigkeiten, das Didaktisch-Allegorische in diesen Bildern außer acht – und urteile selber: was ist übrig geblieben? Na?! – Verhimmelte Gesichter, stumpft Farben, Gliederpuppen – und Süßholz.«
»Ull, Deine subjektive Auffassung.«
»Nein – aber diejenige aller denkenden Köpfe, aller der Köpfe und Stürmer, die mit Aufbietung enormer Kräfte gewillt sind, dem einzigwahren Realismus auf die Beine zu helfen, die mit leiblichen Augen sehen, mit leiblichem Herzen empfinden und vermittels ihrer regen Künstlerphantasie den zarten Wildgeruch feinbeseelter Sinnlichkeit ...«
»Also doch!«
»Verstehe mich recht: kein gefährliches Raffinement, keine Schwüle und Treibhausluft, in welcher Orchideen gedeihen und ihre barocken Kelche entfalten, kein Zustand, der an das Tierische gemahnt, aber wohl jene Feinnervigkeit, die erforderlich ist, ideale Auffassung mit Natur zu verschmelzen.«
»Und dieses Evangelium gedenkst Du auch Deinem Werk zu verflechten, gedenkst aus diesem heraus ...«
»Allerdings. Nur hierdurch wird die antiquierte nazarenische Unnatur aus ihren Angeln gehoben. Früher ihr Schüler und Anhänger, bin ich im Laufe der Jahre ihr Gegner geworden, denn die wahre Kunst hat Pflichten, heilige Pflichten gegen die Menschheit und gegen die Natur zu erfüllen – und tut sie's nicht, kann sie niemals das pulsende Leben verkörpern. Auch in religiösen Bildern darf man nicht die berückenden Körperformen entbehren. Hellenische Anschauung und christliches Wesen müssen sich wechselseitig ergänzen, und ich werde bei dieser Hypothese an Apulejus erinnert, der in seinen Metamorphosis irgendwo die Behauptung aufstellt: ,Die meisten Frauen entledigen sich ihrer Kleidung, um ihre angeborene Grazie und ihre Reize zu zeigen und sehnen sich danach, ihre nackte Schönheit bewundern zu lassen.'«
»Beschämend!«
»Zugegeben – und dennoch: eine starke Dosis Wahrheit liegt auch hierin verborgen. Die alte heidnische Welt mit ihrer heißen Pracht und Sinnlichkeit mußte allerdings vergehen vor dem asketischen Ernste des Kreuzes, und Tertullian hat recht, wenn er sagt: ,Da wir alle der Tempel Gottes sind, so ist das Schamgefühl die Hüterin und Priesterin dieses Tempels, die nichts Unreines und Profanes einläßt, aus Furcht, den Gott, der in ihm wohnt, zu beleidigen ...' aber trotzdem, Kaplänchen, die rechte Kunst sehnt sich mit allen Fibern zur Akropolis und nach dem goldenen Tempel von Baalbeck und betrachtet noch immer die Darstellung des Nackten als den Inbegriff alles Schönen auf dieser Erde.«
»Leider!«
»Ich bin Weit entfernt davon, dem Nackten in diesem Sinne und vornehmlich in der religiösen Kunst das Wort zu reden, allein unter Kleidung und Stoff, da darf man nicht die Gliederpuppen ahnen und wittern, da muß Fleisch sein, da muß das Leben pochen und atmen, soll das Bild die Sinne erheben und den Mann, der es geschaffen, zum wahrhaften Künstler stempeln. Overbeck, Deger und ihre malenden Konsorten haben den Frauenkörper nie als Körper gesehen, haben sich nie verstehen können, in die Mysterien des Frauenleibes zu dringen, und deshalb vermochten sie nur geschlechtslose Wesen auf die Leinwand zu werfen, trotz des großen Talentes, das sie beseelte. Wir alle haben eine große Sehnsucht nach Schönheit und dürsten nach Schönheit. Nichts ist schöner als das Weib. Ich verdamme das Sinnliche in ihm, kann mich aber an seinen Formen berauschen. Leben und Wahrheit vor allen Dingen! – und darum bei jeder weiblichen Darstellung: erst das Fleisch modelliert, den Körper geschaffen – und dann: die Lappen, den Stoff, die Drapierung darüber geworfen.«
Nikodem hatte sich plötzlich erhoben.
»Auch bei der Gottesmutter?« fragte er in sittlicher Entrüstung.
»Auch bei der,« lautete die ruhige Antwort.
»Menschenskind!« rief der junge Kaplan und machte sich an den Knöpfen seiner Soutane zu schaffen.
»Wozu die Aufregung?« fragte der Maler.
»Koßmann,« entgegnete Nikodem, »Deine Erörterungen gleichen einer dünnen Eisdecke, die betreten auch den Besten hinabführt. Und Du ...«
»Nein, mein Junge,« lächelte Koßmann mit einem unnachahmlichen Augenaufschlag, »sie gleichen dem starren Pfahlwerk einer mächtigen Brücke, die uns in das wahre Reich der Kunst geleitet, und zwar derjenigen Kunst, die ich in optima forma vertrete. Kein Geringerer wie Raffael ist hier mein Gewährsmann. Im Gegensatz zur Malweise Leonardos und Dürers, die nur nach genau gestellten und umkleideten Modellen zu arbeiten pflegten, schuf er zuerst die nackten Figuren, rundete sie, vollendete jene Teile, die nackt bleiben sollten, und legte dann erst die Stoffe um den übrigen Körper. Ich pflege nicht lange zwischen ›Gut und Böse‹ zu taumeln, dem traurigen Erbteil schwankender Mischnaturen, sondern greife stets nach dem Rechten. Die echte, göttliche Kunst kennt keinen Schein. Aber verstehe mich: wenn ich das Weib bilde, wenn ich mich in sein Geheimnis vertiefe, selbst nackt – ich sitze vor demselben, als wäre es ein Holzstock, denn ich bin mir wohl bewußt, was es bedeutet, im Dienst der katholischen Kirche zu schaffen. Das weibliche Modell ist mir nur Mittel zum Zweck. Ich will die Natur und keine Schemen verkörpern; aber ich male keine entblößten Frauenleiber als solche. Niemals! – Ich will kein Ärgernis geben. Das mögen solche tun, die es verantworten können vor ihrer Religion und ihrem Gewissen.«
»Brav so!« unterbrach ihn Nikodem und versuchte die Hand seines Freundes zu nehmen. »Und jeder erotische Beigeschmack ...?«
»Fort damit!« lachte der Maler, »ich habe doch nicht bei den modernen Philosophen die Schweine gehütet?! Nur aus unerbittlicher Strenge gegen mich selbst resultiert mein Verfahren. Nochmals: mich berührt das Sinnliche nicht, halte aber an meiner Theorie fest, denn auch unter dem Stoff muß das Anatomische schlummern. Wird dieses verpaßt, dann ist der Maler ein Pfuscher! Und darum ...«
Ull Koßmann war aufgesprungen.
»Mir ist das Bild vor die Seele getreten,« rief er mit leuchtenden Blicken, »aber was fruchtet's? Wenn auch noch so klar geschaut, die Natur ist zu mächtig für unser Schaffensvermögen, und in der Verkörperung bleiben wir Stümper, wenn wir sie nicht leibhaftig in ihren feinsten Zügen nachbilden können. Herrgott noch mal! – und alles das, was ich suchte, was ich notwendig habe, ist in Deiner Schwester gefunden.«
»Koßmann ...!«
»Die als Madonna gemalt ...«
»In der Sünde gezeugt, in der Sünde geboren ...!«
»Unsinn! – Die als Madonna gemalt – Kaplänchen, Kaplänchen, das gäbe ein Wunder!«
»Das Weib ist die Pforte zur Hölle!«
Nikodem hatte die Hände gefaltet.
»Nein – aber die Pforte zu den ewigen Freuden!« warf ihm der Maler entgegen. »Die über der Predella als Gottesmutter thronend, na, ich sage Dir – tausendfältiger Segen, tausendfältige Ernte: Freuden und Weihe, fromme Schafe und klingende Münzen!«
»Koßmann ...!«
»Nur ruhig, Kaplänchen. Ich will noch ein übriges tun. Ihr seid eine arme Gemeinde und darum: kann meine Kunst sich ausleben in diesem Modell – aus freien Stücken opfere ich die andere Hälfte des ausbedungenen Lohnes.«
»Ull,« stammelte der junge Kaplan, »Dich hat der Allmächtige in seiner großen Liebe und Güte zu uns gesendet.«
»Willst Du?«
»Kathje, der Geburt nach meine Schwester,« meinte Nikodem, noch immer seiner Gedanken nicht Herr, »sie kommt – sie muß kommen – ich habe sie nach der Vesper ... Herein!« Aloys Pierentiecker war mit seinem Medaillenstab zu den beiden getreten. Der Aufenthalt im ,Saftigen Ferkel' hatte nicht dazu beigetragen, die Erscheinung in seinem äußeren Menschen zu heben. Das verschrobene Beinwerk folgte nicht mehr, und die Zunge ging lallend.
»Hochwürden, das scheint mir doch eine beispielsmäßige Frechheit ...«
»Herr Pierentrecker in diesem Aufzug und in dieser Verfassung?!«
»Hochwürden, die Hitze und dann der Ärger soeben...«
»Und Kathje?«
»Das ist es ja eben. Ich habe sie zum zweiten Male gebeten – aber sie ist rebellisch geworden, und Wilm Henseler hat mich vor die Brust gestoßen, und das brauche ich mir als Kirchenvorstand und Vorbeter, wie er selber gesagt hat, beispielsweise nicht gefallen zu lassen.«
»Und sie kommt nicht?«
»Kommt nicht,« sagte der Schellfisch. »Hopla! – um Verzeihung, Hochwürden.«
Ull Koßmann hatte sich in eine Nische begeben und trommelte gegen die Scheiben des Fensters.
»Was?!« eiferte der junge Kaplan, »und sie kommt nicht?«
Mit einem dumpf abgebrochenen Laut trat er einige Schritte zurück.
»Die und kommen!« meinte der Schellfisch. »Den Hut hätte sie mir beim zweiten Male bald vom Kopfe gehauen.«
Nikodem biß die Lippen zusammen. Alles drehte sich vor seinen Blicken. »Warum haben Sie sich überhaupt berufen gefühlt ...?« wandte sich Ull plötzlich an Aloys Pierentrecker.
»Nur aus purer Nächstenliebe, Herr Maler.«
»Hm!« sagte Ull Koßmann und trommelte weiter.
Nikodem hatte sich wiedergefunden.
»Herr Pierentrecker,« fragte er mit umflorter Stimme, »kennen Sie den Ackerer Grades van Lommen hier neben?«
»Kenn' ich, Hochwürden.«
»Dann bitten Sie ihn in meinem Namen, er solle für mich sein Schäschen Parat machen; ich will es noch vor Abend benutzen.«
»Gerne, Hochwürden.«
»Ich danke.«
Der Schellfisch empfahl sich. Torkelnd verließ er das Zimmer.
Draußen zogen betende Menschen vorüber: ein Psalmodieren und Summen.
»Auch das noch, auch das noch!« keuchte Nikodem. Mit großen Schritten durchmaß er die Stube.
Ull Koßmann vertrat ihm den Weg, legte ihm beide Hände auf die Schultern und meinte mit lachendem Munde, daß die weißen Zähne sichtbar wurden: »Du, Kaplänchen, ich hab' 'ne große Idee.«
»Und ...?«
»Den Kerl von soeben, weißt Du – Herrgott noch mal! – den will ich Dir auf Deinen Sonntagspfeifenkopf malen. Dieser Gemütsmensch verdient es.«