Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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XXI.
Schicksal

»Gelobt sei Jesus Christus!«

Unheimlich drangen ihr die salbungsvollen, aber mit einer gewissen Härte ausgestoßenen Begrüßungsworte zu Ohren. Der Beigeschmack des Bitteren wohnte in ihnen; er mahnte daran, daß noch etwas folgen würde, das sich vollständig außer dem Bereich der sanften und heiligen Formel bewegte. Das ›Gelobt sei Jesus Christus‹ hatte einen fanatischen Beiklang.

Mit verzerrtem Gesicht und zuckenden Lippen, den Kopf etwas vornüber gebeugt, lauernd, mit asketischen Zügen und die sommersprossigen Hände in die engen Ärmel der schwarzen Soutane geschoben, stand Nikodem Peerenboom inmitten der Stube. Sein gigantischer Schatten ruhte auf der gegenüberliegenden Wand, knickte an der Decke um, um sich auf der Balkenlage weiter zu dehnen. Ein kaltes Frösteln ging von der Soutane und dem bleichen Gesicht aus.

Kathje schauderte.

In seiner ganzen Unnahbarkeit trat ihr der Mann gegenüber, der einstmals ihr Bruder gewesen. Jetzt war das anders geworden. Seitdem er die Weihen empfangen, seitdem das Schermesser sich seinem Haupte genähert und ihn tonsuriert hatte, war die Blutsverwandtschaft mit Kathje abgestorben in ihm. Ein anderer Geist hatte sich seiner bemächtigt, ein Geist, der ihm vorredete, er sei besser und begnadeter als die anderen Menschen, er sei gewissermaßen ein auserwähltes Stämmchen im christlichen Lebensgarten, wo er früher nur ein simpler Wildling gewesen, und ihm dieserhalb bedeutete, alle verwandtschaftlichen Gefühle, vornehmlich gegen seine mißratene Schwester, dort wo sie hingehörten: in die Rumpelkammer des Vergessens zu bannen und als antiquiert zu betrachten. Und so war denn der jugendliche Kaplan Nikodem Peerenboom vor Jahren einmal Kathies Bruder gewesen, eine Gemeinschaft des Blutes, die aber vor seinen Hypothesen dahingegangen war wie Spreu vor dem Winde. Nur eins hatte er sich ihr gegenüber niemals entäußert. Das hielt er mit einer Zähigkeit fest, als gälte es Berge und Täler zu rücken, um hierdurch dereinstens der ewigen Gnade und Barmherzigkeit teilhaftig zu werden: ihr Seelsorger, das war er immer geblieben, und als solcher stand er heute vor Kathie.

Nikodem hatte die Augen niedergeschlagen.

»Ich komme von dort her,« begann er mit fast geschlossenen Zähnen, »wo das ewige Heil wohnt, und die Gottesmutter durch ihre Fürbitte denen zur Gnade verhilft, die im Leben gestrauchelt, aber, die von Gewissensbissen gepackt, sich veranlaßt sahen, wieder unter den Schirm und Schutz der allbarmherzigen und gütigen Jungfrau zu flüchten. Ihrem geheiligten Munde ist die Süße des Honigs gegeben, ihr Auge gleicht einem läuternden Feuer, ihre Bitte dringt durch die Wolken und weiter – und von hier zu den Sternen. Wachet und betet, auf daß ihr teilhaftig werdet des ewigen Heils und nicht verdammt werdet durch den Zorn des Gerechten!«

Mit einem kurzen Ruck hatte er die Hände aus den Ärmeln seiner Soutane hervorgezogen. Ungelenk rieb er die langen Finger zusammen, um sie dann mit einem tiefen Seufzer ineinander zu flechten.

»Ich weiß,« begann er von neuem, »Du bist in der Sünde gezeugt, in der Sünde geboren und daher gewissermaßen prädestiniert für die Sünde. – Dein Leben ist eitel gewesen, und Du hast wenig Zeit gehabt, Dich um die letzten und höchsten Dinge zu kümmern. Allein früher oder später findet alles sein Ende! – Gott ist die Langmut – und diese verkörpernd hat er Dir die Nichtigkeit des irdischen Daseins kürzlich vor Augen geschoben, Dich mit Unglück geschlagen, Dir den Vater auf furchtbare Weise genommen und Dich heimgesucht mit Trübsal und Kummer, auf daß Du geläutert werdest und Dein weltliches Trachten sich wende nach anderen Dingen. Kehr um, kehr um und höre die Mahnung des gütigen Gottes, bevor es zu spät ist! – Laß ab vom Pfade der Weltlust und wandle den Weg, der mit Dornen gepflastert, der beschwerlich zu pilgern, aber auf dem allein, wenn auch mit blutenden Füßen, die Pforte erreicht wird, die da führt zum Herrn und in seinen Tempel der ewigen Freuden. Kehre Dein Herz um, gedenke des Unglücks, das Dir Mahnung und Weisung gewesen und – bedenke das Ende.«

Eine qualvolle Pause entstand. Auf den bleichen Wangen Nikodems hatten sich rötliche Flecken gebildet. Immer hastiger und nervöser schraubten und rieben sich die starren Fingergelenke zusammen – und Kathje, von einer Flut wirrer Regungen und Gedanken umbrandet, mit ihrem eigenen Jammer beschäftigt, begegnete entsetzt dem stechenden Blick ihres Bruders, der bislang wie ein starrer Felsblock gestanden, jetzt aber sich näher bewegte und ihr zischelnde Worte ins Ohr sprach.

»Gott hat das Unglück in seiner Allweisheit gesendet – und Du: hast Du die Abgeschiedenen beweint und ihrer gedacht in Deiner Bedrängnis?«

»Ja.«

»Hast Du für Deinen Vater gebetet?«

»Ja.«

»Und für den anderen ...?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht wollte.«

»Was ...?!«

Der junge Kaplan stieß einen verhaltenen Schrei aus, knirschte die Backenzähne übereinander, daß sich die Kaumuskeln unruhig bewegten. Graue Blässe und rote Kringel wechselten in jäher Folge auf seinem sommersprossigen Antlitz. Diese Antwort hatte der jugendliche Heißsporn nicht erwartet.

»So! – also nicht gebetet, nichts getan für die unsterbliche Seele des verunglückten Mannes! O Du, Du ...!« Seine Stimme nahm einen heiseren Klang an: »Wohl etwa dieserhalb nicht, weil er mein Freund war, weil er das Höchste gewollt und gesonnen schien, Dir durch die Weihe der christkatholischen Kunst das ›Prädestiniert für die Sünde‹ von den Schultern zu nehmen?!«

Die verschränkten Hände hob der junge Cölibatär langsam und zitternd nach aufwärts.

»Und kennst Du nicht die Worte der Schrift, die da lauten: Du sollst die Hungrigen speisen, die Bekümmerten trösten, die Toten begraben – und für die Abgestorbenen beten?! – Du bist diesen Geboten aus dem Wege gegangen wie allem, was an die Kasteiung des Leibes und die christliche Nächstenliebe gemahnte. Mit vollen Segeln bist Du hinausgetrieben in die Strömung der Weltlust – während ich seit jenen Unglückstagen, seit der Stunde, wo wir Deinen Vater begruben, auf den Knieen gelegen und zum Himmel geschrieen, auf daß er mir in betreff Deines mißratenen Lebens seinen Willen verkünde.«

Nikodem reckte sich auf, blickte nach oben und legte die gestreckten Finger prall aufeinander.

»Und Gott, der Herr, hat mir seinen Willen verkündet,« rief er fanatisch. »Willst Du ihn hören – diesen Willen des allewigen Gottes?!«

»Ja,« entsetzte sich Kathje. Sie wußte nicht mehr, was sie sagte.

»So höre. – Nicht weit von der holländischen Grenze, über Kevelaer fort, liegt ein stilles Haus zwischen Gärten. Dort wohnt der Friede des Herrn, und die Stille der Weltabgeschiedenheit bringt das Herz auf überirdische Dinge. Und die da wohnen, sind so schweigsam und ausgesöhnt mit ihrem Geschick wie die Mauern, zwischen denen sie leben. Sie denken nur an ihren Seelenbräutigam; sie hoffen auf ihn, sie leben in ihm, sie sterben in ihm, wenn ihre letzte Stunde gekommen. Ihr Dasein ist abgeklärt wie eine lautere Quelle, und ihr Schritt geht durch die langen Korridore und verschwiegenen Kammern wie auf geräuschlosen Socken. Sie sind glücklich, die Menschen.«

Bei Kathje begann es zu dämmern. Eine fliegende Angst überkam sie.

»Und was tun die Menschen in dem stillen Haus zwischen den Gärten?« fragte sie tonlos.

»Sie beten.«

»Und ich ...?«

»Du sollst Dich den stillen Frauen gesellen.«

»Und was soll ich da tun?«

»Beten wie sie.«

»Und wie lange?«

Kathje hatte sich mit beiden Händen an die Schläfen gegriffen.

»Für immer,« war die ruhige Antwort.

Sie stieß einen gellenden Schrei aus.

»Beten – wie sie, und das für immer und ewig!«

»Für immer und ewig. Ich habe Dir einen Ausweg gewiesen, ich habe Dir einen Rettungsanker geworfen, ich habe Dir einen Pharus gesetzt, auf daß Dir ein Licht werde auf dem Meere des Irrens. Ich denke nicht mehr an Tonsur und Soutane, denn ich habe meine Würden beiseite gelegt, ich bin ein Mensch geworden wie die übrigen Menschen, ich habe mich zum Staube gebückt und bin zu Dir gekommen, um Dir das Heil zu vermitteln, das da dringt durch die Wolken. Ich bin nur Sein Werkzeug – aber durch mich, höre die Stimme des ewigen Gottes, die Dich geleiten will in den Garten des Friedens und in das Haus der Erkenntnis. Auf den Knieen und all meiner Würden entkleidet, als Mensch zum Menschen und nicht als Priester zum irrenden Schafe, poch' ich an die Kammer Deines besudelten Herzens und rufe mit Inbrunst: tu auf, tu auf, tu auf! – auf daß der Herr hineintriumphiere und Erleuchtung Dir gebe, wo Finsternis herrschte. Tu auf, tu auf, tu auf! – und folge mir in den Garten des Friedens und in das Haus der Erkenntnis.«

Nikodem war in die Kniee gefallen. Seine blauen Augen strahlten in überirdischem Feuer.

»Und Du – und Du ...?!« rief er rauh und mit leidenschaftlicher Stimme. Sie flatterte Kathje entgegen, als säße der Sturm drin.

»Ich will nicht.«

»Du willst nicht?«

»Nein!«

Als wäre der Boden glühend geworden, so fuhr Nikodem aus seiner knieenden Stellung.

»Du entsagst dem Gehorsam und weigerst Dich, meinen Geboten zu folgen?!«

»Ich will nicht.«

»Ah!« stöhnte der Kaplan auf. »Jetzt bin ich wieder Priester geworden!« Er hatte mit zuckenden und blutleeren Lippen gesprochen.

In wilder Hast riß er ein beinern Kreuzlein aus seiner Soutane. Mit der Rechten und flammenden Auges hob er es aufwärts und hielt es Kathje entgegen.

»Im Namen des dreieinigen Gottes – ich beschwöre Dich, Kathje!«

»Du Narr – Du Komödienspieler!« schrie diese. »Bleibe mir mit Deinem Herrgott vom Leibe!«

Ein gellendes Gelächter, so recht aus verzweifelter Seele genommen, war um ihn.

»So strafe Dich der Herr mit seinem Fluch und dem fressenden Aussatz und allen Miseren. In der Sünde gezeugt, in der Sünde geboren und gestorben in Sünde – fahre ins Elend ...!«

»Das will ich ...«

Kathje hatte ihre Hände vor die Augen geschlagen. Dumpf und aus weiter Ferne herkommend, hörte sie noch, wie eine Tür ins Schloß fiel. Schweigen ringsum – nur der Wind orgelte im Rauchfang, und knisternd stiebten die Schneekristalle gegen die gefrorenen Scheiben.

Als sie aufblickte und verstört im Zimmer umhersah, war sie allein in der Stube.

Sie wußte kaum noch, was sich soeben begeben hatte. Sie horchte auf das Stieben da draußen und die langgezogenen und klagenden Töne im Rauchfang.

Es war das letzte Begegnen zwischen Nikodem und Kathje gewesen. Sie hat ihren Bruder niemals wiedergesehen im Leben. –

Und die Flocken fielen stetig vom Himmel, sie fielen während der kommenden Nacht und, nur von wenigen Stunden unterbrochen, während der folgenden Tage, bis die Bäume da draußen sich einen Hermelinmantel umgeschlagen hatten, und der Turmhelm von Sankt Nikolai mit einer blendendweißen Zipfelmütze weit in die beschneite Gegend hinaussah. Dazu herrschte eine grimmige Kälte. Sie biß in die Nasenspitzen hinein, blies gegen die Fenster und belebte die starre Verglasung mit allerlei raren Gebilden, als wäre Klöppelwerk darübergezogen, und wenn die Leute um die Abendstunden an den Häusern vorbeigingen, dann sahen sie durch die Brüsseler Kanten, wie die eisernen Öfen mit glühenden Backen in die Stuben hineinfauchten, ohne auch nur um Haaresbreite die glitzernden Eisblumen zum Schmelzen zu bringen. Mit geplustertem Wams saßen die Spatzen auf den zugefrorenen Dachrinnen und träumten von den Frühlingsschoten und der Zeit ihrer Liebe, und die Bäcker backten Spekulationsmänner und gaben ihnen Gaudaer Tonpfeifen ins Maul, und die Kinder drückten ihre Näschen gegen die Scheiben, hauchten ein kreisrundes Loch in die eisige Kruste und sahen zu, wie das flaumige Bett auf der Straße stetig emporwuchs, und dann war es ihnen, als wenn die Apfelkiste vom Speicher schon lieblich herüberduftete und die Weihnachtsnüsse im Sack schon zu rappeln begannen. Und an einem versteckten Plätzchen des rotbackigen Kanonenofens puffte und zischelte es in verheißenden Lauten. Es waren die Bratäpfel, die auf einem Porzellanteller in ihrem eigenen Schmalz schmorten und gar wurden, die aufgeblähten und überzuckerten Bäuche zusammendrängten und dann mit einem alten Weihnachtsliedchen begannen. Sie sangen, als wenn Heimchen gezirpt hätten.

»Vader en Moder sin liew! –
Kinderkes, schriewt mar 'nen Brief,
Schriewt mar 'nen Brief an den liewen Heer,
Dat he brängt 'nen mojen Bescher –
Dat he still an de Kinderkes denkt
En Nötte en Appels en Babbeltjes brängt –
Vader en Moder sin liew ...!
    Puff-puff...!«

Die Bratäpfel verstummten. Sie waren geplatzt und zum Essen fertig geworden. Als dann die graue Himmelsdecke sich fortschob, und die Schneeflocken aufhörten auf die kalte, starre Erde zu fallen, da lag ein safrangelbes Licht hinter dem Weißen Kirchturm von Sankt Nikolai. Es war so gelb und leuchtend wie der vollerblühte Stern einer Sonnenblume. Und die Dohlen flogen hinein, und die Glocken begannen zu läuten, und die verschneiten Häuser standen feierlich und ernst in den Straßen, und die Leute hatten ihr Sonntagszeug angetan, setzten sich um den Tisch und warteten auf die kommenden Stunden.

Frieden den Menschen auf Erden ...!

Es war heilig Abend geworden. –

Und wie die Glocken zu läuten anhuben, wie es schummerig wurde, und der Schnee eine Färbung annahm, als wäre bläuliches Sternenlicht darüber gefallen, da saß Pittje Pittjewitt, wie er vor einigen Tagen gesessen hatte, am Ofen, aufgerieben von dem Begegnen mit Kathje, und in sich gekauert, als wäre er ein altes Männchen geworden. Er fühlte sich abgemattet – sterbensmüde. Er war längst nicht mehr der Alte von früher, und als heute früh Sally Süßkind und Wilm Henseler bei ihm vorgesprochen und ihm mitgeteilt hatten, daß die beiden Baumfrevler nach viermonatlicher Haft von Kleve zurückgekehrt seien und nunmehr alle Hebel in Bewegung setzten, seinem und ihrem Ansehen zu schaden, daß der Herr Polizeidiener Brill dahinter müsse, um die beiden infamen Kerls mit ihren geheimen Machenschaften unter Obacht zu halten, da hatte Pittje verstört und wie ein Mann gesprochen, der gewillt schien, Gottes Hochflut über Gottes schönen Acker laufen zu lassen, selbst auf die Gefahr hin, daß es sich für später nicht mehr verlohnen sollte, den Pflug über die verdorbene Scholle zu ziehen und den Samen zu streuen. Kopfschüttelnd waren die beiden Männer von ihm geschieden. –

Keine Lampe brannte, die Dunkelheit sah von draußen ins Zimmer, und nur in schwachen Dämmerrissen hoben sich die weißen Tonpfeifen vom Eckbrett, die dort neben dem stattlichen Fidibusbehälter ein beschauliches Dasein führten, denn Pittje hatte seit etlichen Tagen außer anderen Dingen auch das Rauchen an den Nagel gehängt – und das war schlimm, sehr schlimm, wie Wilm Henseler zu Sally Süßkind bemerkt hatte, als sie beide von Pittje gegangen.

Immer feierlicher, lauter, verheißender sprachen die Glocken. Sie läuteten das heilige Fest ein, sie erzählten von vergoldeten Nüssen und Äpfeln, von den jungen Fichtenbäumchen da draußen im Walde, vom Stern von Bethlehem und den Königen aus Mohrland, während Pittje die Lehnen seines Sessels umspannte, und wie träumend seine Augen sich schlossen. Und genau wie vor einigen Tagen begann es im Rauchfang zu sprechen, und genau wie damals öffnete sich leise die Tür – dann kam es kaum hörbar gegangen. Es war ihm so, als berührten ihn die weichen Formen eines weiblichen Körpers. Geschmeidige Arme legten sich um seinen Nacken. Ein eigentümlicher Duft nahm seine Sinne gefangen. Er wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihm; er wollte die Lider heben – sie waren zu schwer in seinem traumhaften Zustand geworden.

»Lebe wohl, Pittje – ich glaube, Du siehst mich auf dieser Erde nicht wieder.«

»Wer bist Du?«

»Ich bin es.«

»Du ... !«

Knisterndes Frauenhaar glitt an seiner Schläfe vorüber.

Eine Träne war auf seine Stirne gefallen – und dann: er fühlte wie ein heißer Mund seine Lippen berührte.

Ihre Seele war bei ihm.

»Und wenn Du später Dich meiner erinnern solltest, so tue es nicht mit bitterem Herzen; aber das beste ist...«

Kühl und ruhig war eine sanfte Hand über seine Lider gefahren.

»Pittje...!«

Wie aus weiter Ferne – fern, fern tönte die liebe Stimme herüber.

Dann waren fröhliche Laute draußen im Flur. Ein greller Lichtschein fiel unsanft in seine schöne Traumwelt hinein. Die Mutter war zu ihm getreten; sie legte ihm die gesunde Hand auf die Schulter und sagte: »Nu komm' man. Mielke ist mit ihren Kindern da; Pittje, nu komm' man.«

Da ging Pittje mit ihr, schüttelte aber den Kopf, war es ihm doch, als fühlte er noch den Kuß auf den Lippen, als hafte noch das weiche Frauenhaar an seinen pochenden Schläfen. Und Mielke begrüßte ihn, und die Kinder streckten ihm ihre Händchen entgegen – und die Weihnachtsglocken läuteten weiter und weiter. –

Als die Leute am ersten Feiertag zur Frühmesse gingen und am Puppenspielerhäuschen vorbeikamen, da fanden sie die Läden vorgelegt und die Tür verschlossen. Frische Fußstapfen führten von der verschneiten Schwelle über den kleinen Vorraum auf die Straße hinaus; dort vermischten sie sich mit den übrigen Spuren. Man dachte nicht weiter an Kathje, man feierte fröhliche, selige Weihnacht, ließ sich von den frommen Worten der heiligen Legende umschauern, fühlte sich bei Mandeln und Nüssen und der dampfenden Punschbowle so recht behaglich hinter dem polternden Ofen, war guter Dinge und heiterer Laune, bis nach den Festtagen das Puppenspielerhäuschen noch immer stumm wie der Tod blieb, die Blenden sich nicht öffnen wollten, und kein blaues Wölkchen über dem Rauchfang sich zeigte. Da dachte man wieder an Kathje, erkundigte sich, und ängstliche Gemüter sorgten dafür, daß in kürzester Zeit die ungeheuerlichsten Dinge in Umlauf gerieten. Erst der Postillon Christ van de Sandt, der den Postwagen bis Kleve und von dort bis zur holländischen Grenze zu führen hatte, brachte einiges Licht in die Sache. Am ersten Weihnachtsmorgen, als er mit seinen dampfenden Gäulen durch die weite Niederung fuhr, sei ihm Kathje Peerenboom in Höhe von Moyland begegnet, wie sie mutterseelenallein, und nur mit einem dünnen Tuch um die Schultern, den Weg zur Kreisstadt eingeschlagen. Er habe ihr noch zugewinkt und sie aufgefordert, Platz im Wagen zu nehmen; sie aber sei wortkarg gewesen, habe still vor sich hingeweint, und dann sei sie querfeldein und auf einem Nebenweg weiter gegangen; dort wäre sie bald seinen Blicken entschwunden. Es sei ihm dabei merkwürdig zumute gewesen, und er habe das arme Mädchen von ganzem Herzen bedauert.

Das war alles, was Christ van de Sandt über das Geschick Kathje Peerenbooms zu berichten wußte, aber es genügte, die Unruhe zu steigern, allerhand widersinnige Behauptungen in die Erscheinung treten zu lassen, unliebsame Erörterungen über Hypotheken, Schuldverschreibungen und derlei Geschichten dem aufgehobenen Verlöbnis und der Katastrophe bei den Wassermühlen zu verflechten, bis schließlich die allgemeine Ansicht sich dahin verdichtete: Pittje und Konsorten seien für das Unglück, das über die Peerenboomsche Familie gekommen, verantwortlich und regreßpflichtig zu machen. Diese fatale Version fand vornehmlich in den klerikalen Kreisen ergiebigen und fruchtbaren Boden, der, mit der noch nicht vergessenen Birkenangelegenheit gehörig durchtränkt, sich bald als tauglich erwies, eine immer größer werdende Erbitterung gegen diese freidenkenden Männer in Halm und Ähren schießen zu lassen. Hierzu kam noch, daß Henne Terlinden und Aloys Pierentrecker ihre Zeit für gekommen hielten, das ihnen entwundene Heft aufs neue zu fassen, ihren besudelten Namen wieder reputierlich zu machen, ihr Mütchen zu kühlen und denen eins auszuwischen, die es fertig gebracht, ihnen, ohne Ansehen der Person, den Herrn Polizeidiener Brill und den ganzen preußischen Gerichtsschwindel über Hals und Kragen zu schicken. Gewiß, sie hatten gesessen, sie hatten sich nicht gescheut, heimlicherweise und so auf eigene Faust hin die jungen Bäumchen über den Haufen zu werfen, aber bei Licht besehen: was war denn so Verwerfliches, Verabscheuenswertes und Strafwürdiges in ihrer ganzen Handlungsweise gewesen? Hatten sie nicht wie zielbewußte Männer gegen die liberalen Machenschaften ihr Bestes in die Schale geworfen? Waren sie nicht für das Wohl und Wehe der Kirche beherzt in die Schranken getreten? Hatten sie nicht unter Hintansetzung ihrer eigenen Person und ihres eigenen Vorteils die Gebote Gottes höher gewertet, denn die Unduldsamkeit und die Lau– und Flauheit der Menschen? – Nas erinnerte doch lebhaft an den christlichen Mut und die Aufopferungsfähigkeit der heldenhaften Blutzeugen aus vergangenen Tagen, und da noch, bei solcher Lage der Dinge, derartige Männer hinter Schloß und Riegel zu setzen – das schrie durch die Wolken! – Was war überhaupt an den lumpigen Birkenstämmchen gelegen? – Was hatte sich Pittje inferner um die Beschlüsse und Antrage des Kirchenvorstandes zu scheren, dem Ansuchen des dämlichen Verschünerungsvereins Folge zu geben und unter Assistenz seiner mehr als fragwürdigen Freunde altverbrieften Gewohnheiten und Gerechtsamen ein Füßchen zu stellen, daß sie jämmerlich straucheln und zu Fall gebracht werden mußten? Aus seiner ganzen Handlungsweise sah nur der Hochmutsteufel heraus und die Sucht, mit allerlei hinterlistigen Pfiffen und Kniffen die schönsten klerikalen Trümpfe niederzukarten. Nein, da waren die beiden gerichtlich Belangten denn doch andere Säulen und Stützen der Kirche! Die Geschichte mit der schönen Herzogin Basthi wurde ihnen nicht weiter nachgetragen. Hatte nicht auch David gesündigt, als er den Reizen Bathsebas, dem Weibe Urias, des Hethiters, nicht zu widerstehen vermochte? Hatte nicht Petrus in einer schwachen Stunde seinen Herrn und Meister verraten? – Die Stimmung schlug um. Pittje Pittjewitt, Wilm Henseler und Sally wurden verdammt und verdonnert, während man keine Bedenken trug, Henne Terlinden und dem Schnittwarenhändler die schmerzhafte, aber schöne Martyrerkrone in die Schläfe zu drücken. Der Pastor des kleinen Ortes war ein viel zu feiner, gesunder und aufgeklärter Kopf, als daß er dieser Stimmung Rechnung getragen oder sie noch gar begünstigt hätte. Allein, er vermochte nicht gegen die hereingebrochene Strömung zu schwimmen; seine Worte verhallten. Aloys und der hinterlistige Bäcker wurden die bestgefeierten Helden des Tages. Der Schuster Kogeleboom stellte sogar unter Beipflichtung des Schneidermeisters Olbers der Erwägung anheim, ob es nicht angezeigt sei, den beiden – na, sagen wir es gerade heraus – bedauernswerten Opfern einer verpfuschten, preußischen Gerichtsjustiz, den offenbaren Blutzeugen der christkatholischen Kirche einen pompösen Fackelzug unter Musikbegleitung zu stiften. Wenn dieses des Kostenpunktes wegen nicht angängig, so beantragte er wenigstens eine solenne Deputation, um durch deren Mund eine Ehrenerklärung und den Ausdruck des Bedauerns über den fatalen Mißgriff des Friedensrichters an die beiden zu richten. Das letztere geschah denn. Die Deputation ging ab, wurde vorgelassen und festlich bewirtet, und der Schufter Kogeleboom sprach im Festfrack und weißer Binde rührende und passende Worte, die den Heldenmut im besonderen und die niederträchtige Abgunst der Gegner im allgemeinen behandelten, und zwar in so fesselnder und rührsamer Weise, daß es weinerlich in den Augen des Schellfischs perlmutterte, und Henne vor eitel Gehobenheit sich kaum auf seinen säbelbeinigen Bäckerständern zu halten vermochte. Sie sprachen denn auch in ihrer Entgegnung von ›nicht wieder vergessen‹, von ›Dankbarkeit bis zu ihrem gottseligen Tode‹ und anderen Dingen, bis schließlich die ganze Deputation in eine allgemeine Verbrüderung aufging. Allein Kogeleboom hatte sich mit diesem Festakt noch lange nicht zufrieden gegeben. – Er flaggte, und als es Abend geworden, illuminierte er sein Haus von oben bis unten, bei welcher Gelegenheit er noch drei Freudenschüsse aus verrosteten Böllern zu lösen gedachte, die er bei irgendeiner Auktion als altes Gerümpel ersteigert, brachte aber nur zwei Knälle zum Vorschein, weil der Herr Polizeidiener Brill auf der Bildfläche erschien und den dritten und letzten Knall im Namen des Gesetzes und mit blitzeblanken Augen kurzerhand konfiszierte. Mit einem zwiefachen Böllerschuß wurde somit die Festivität des denkwürdigen Tages für heute geschlossen. –

Aloys Pierentreckers und Heune Terlindens bürgerliche und konfessionelle Ehre war also gerettet, allein mit der Erledigung ihres saftigen Privathasses waren sie bislang noch nicht fertig geworden. Das kam jetzt an die Reihe. Über die Kalamität, in welche der arme Produktenhändler geraten, konnten keinerlei Zweifel mehr obwalten. Man wußte, wie es um ihn stand, man wußte ferner, daß sein Geschick enge mit demjenigen Pittje Pittjewitts verknüpft war, eine Tatsache, die von den biederen Blutzeugen der christkatholischen Kirche bis ins Titelchen hinein erkannt und ausgenutzt wurde. Die tätige Maulwurfsarbeit dieser gottesfürchtigen Dunkelmänner konnte selbst den Besten in Verlegenheit bringen und ihm über Nacht die Haare grau werden lassen, wobei aber ausdrücklich bemerkt werden soll, daß sich die beiden nicht um Haaresbreite vom strengen Pfad des Gesetzes verirrten und selbst das kleinste vermieden, wodurch auch nur der Schein des Unreellen geweckt werden konnte. Alles ging ehrlich und rechtlich von statten – und dennoch sollte gezwickt und gepiesackt werden, bis totale Blutleere eintrat. Sie machten also ihre flüssigen und anderweitigen Mittel mobil, griffen zum Stock, aber feste, und gingen spazieren. Vom Dreikönigentage an sah man sie fast tagtäglich bei den verschiedenen Bauern und Kätnern in der Umgegend vorsprechen und mit ihnen zu Hause oder in den Wirtschaften heimliche Geschäfte betreiben. Um die Mitte des Monats hatten sie ihren Rundgang vollendet, gingen zu Dores Küppers und tranken vergnügt und in Eintracht eine dampfende Punschbowle zusammen. Die Präliminarien ihres gemeinschaftlichen Handelns waren hierdurch besiegelt. Jetzt konnte der Schraubstock angedreht werden – und also geschah es.


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