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»Dies Buch ist ein schmerzhafter Krampf.«

 

1. Buch.
Die Liebe im Menschen.

I.

Der Arzt spielte mit seinem goldenen Stifte und verordnete mir »eine beruhigende Lebensweise«. O nein, daran liegt es nicht; das Übel wurzelt anderswo. Die Nerven und der Geist sind angegriffen. Gut, ich weiß dies alles – dennoch ist es ein Anderes.

Auf der Straße zuckte ich mit den Achseln und zerriß das Geschreibsel. Da ging eben ein hübsches Kind vorbei und blickte mich an. Ich kenne sie nicht; ich habe sie niemals gesehen; dennoch kennt diese mein Übel besser als die Ärzte.

Vielleicht, daß ich ein uralter Mensch bin. Ich trage den Menschen in mir, der ich schon in den Fernen meines Geschlechtes war. Ja, damals schon tobte dieses Weh in mir, mein Blut glühte. Und ich bin kaum dreißig Jahre alt.

Bei uns zu Hause lebte ein schöner rüstiger Greis, eine Art Riese, der mit erhobenen Armen an die Decke reichte. Den Winter über wirkte er oben in seinem ungeheizten kleinen Zimmer Netze. Er war ein guter Mann, der die Jagd und die Fischerei liebte. Im Herbste ging er in unser Forsthaus. Dort gab es immer Wild in Fülle. Und eines Tages höre ich, wie eine der Mägde lacht: »Der Alte ist wieder ein Kind zeugen gegangen.« Ich verstand dies erst um so viel später.

Der »Alte« kehrte mit dem ersten Schneefall ein wenig beschämt zurück. Dann sprach mein Vater barsch mit ihm und war rot im Gesicht; doch schwieg er jedesmal, wenn ich ins Zimmer trat. Meine Mutter wohnte schon am anderen Ende der Stadt bei den Grabsteinen.

Allmählich wurden die beiden Stimmen wieder friedlicher. Ich sehe den schönen Greis vor mir, wie er die Stricke zu Netzen flicht und mich mit großen Händen streichelt.

Meine Erinnerungen reichen nicht weiter zurück. Ich war ein kleiner Junge und hatte eine um acht Jahre ältere Schwester, die das Haus verließ, um sich zu verehelichen. Das war ein heilloser Kummer für mich. Ich verbrachte eine ganze Nacht in Weinen, in ihrem Bette zusammengekauert, und sehnte mich nach dem Duft ihres Haares. Sie war in diesem Augenblicke nur ein Weib für mich und ich fühlte Eifersucht gegen meinen Schwager. Dann lebten wir: der Alte, mein Vater und ich, kurze Zeit zu dreien. Zuweilen, wenn jener nicht im Zimmer war, drang ein seltsamer Lärm aus der Oberstube. Der Alte lachte: es war ein schmetterndes Lachen, das ich noch von niemand vernommen habe: das Wiehern eines Rosses zur Brunstzeit. Und dann kam bald das eine, bald das andere Mädchen, laut scheltend, die Treppe herunter.

Dann gab man mich zu den Jesuiten in Erziehung. An einem Wintermorgen nach etwa einem halben Jahre erwartete mich mein Vater im Sprechzimmer. Er sagte zu mir: »dein Großvater ist gestorben«, und ich begriff die Befreiung, die dies für sein Haus bedeuten mochte. Jener war ein Mann aus einem andern Weltalter gewesen, ein Stück jenes Menschentums, das, im Grunde harmlos, mit seinen Gelüsten nach Frauenraub, noch dem Faun verwandt war. Er hätte in einem Waldwinkel an einem Flusse leben sollen und Wild und Weibchen in seine Netze gezogen. Mit siebzig Jahren schwängerte er, wie alle Welt wußte, das Weib eines unserer Bauern. Und viele kleine Kinder um das Forsthaus trugen seine Züge.

Ich glaube, daß ich ihn lieber hatte als meinen Vater. Er sah aus wie ein mächtiger braver Büffel in einem Wirtschaftsstall. Ich unterhielt mich, ihn an seiner großen Nase zu zupfen, und er lehrte mich im Röhricht Pfeifen schneiden. Er verstand nur die kleinen bäuerischen und waidmännischen Künste: Lockpfeifen, Schlingen und Netze, das Bestielen von Grabscheiten, das Schleifen von Sicheln und ähnliches. Er ahmte das Kläffen des Fuchses, das wilde Grunzen des Ebers und das Klappern des Storches nach. Und er hatte, reißend wie ein Werwolf, eines der alten Vermögen des Landes verschlungen. Ich werde niemals den stolzen Ausdruck vergessen, den er auf dem Totenbette zwischen den Kerzen hatte. Da man ihn auf den Kirchhof getragen hatte, ward es sehr stille in unserm Hause.

Auch ich besitze jene große Nase des Alten. Es scheint, daß diese der Zug unseres Geschlechtes ist. Mein Vater hingegen hatte schmächtige Gesichtszüge, einen Advokatenkopf mit kalten berechnenden Augen. Er tötete nur einmal in seinem Leben, als er mit dem Alten auf der Jagd war. Ein Tier wälzte sich, von seinem Blei getroffen, und in der Folge jagte er nicht mehr. Mein Großvater hatte mir eine Entenflinte und zwei Stutzen hinterlassen. Ich wollte sie nie berühren. So wurde der schäumende und reiche Strom unseres Blutes ein fahles Bächlein zwischen einförmigen Ufern. Ohne die Seitensprünge, die der seltsame große Pan für mich gemacht hat, hätte ich wie mein Vater an einer peinlichen und geordneten Lebensweise Geschmack gefunden. Er sprach wenig, ging schwarz gekleidet und meist nur zur Nachtzeit aus. Er war ernsthaft und schüchtern und kannte keine Herzensergüsse. Zweimal im Monat besuchte er das Grab, darin meine Mutter ruhte. Ich war sehr erstaunt, als ich später sah, daß er bis an sein Ende der Gast eines Hauses mit geschlossenen Läden gewesen war. – Und sein Leben war doch ein Muster von Ordnung und Rechtschaffenheit gewesen!

Ich erbte von ihm die Erbärmlichkeit meines Handelns und meine unausgesetzten Halbheiten. Er verstand es, wie ich glaube, sich klug in seinem Tun nicht einzuschränken und gleichzeitig fremder Zügellosigkeit Feind zu sein. Seine Mutter hatte ihn lange mit Zärtlichkeit im Nest gehütet. Seine Jugend war von Milch und Honig, wie die einer Tochter gewesen. Mit zwei Jahren trug er noch ein Flügelkleid ohne Unterscheidung des Geschlechtes. Damals lebte der Alte schon sein freies Eigenleben in den Wäldern. Erst als meine Großmutter starb, erinnerte er sich ihrer Hinterlassenschaft, seines Sohnes. In einer kleinen Provinzhauptstadt, wo ich mich vor mir und den andern hätte verbergen müssen, wäre ich in meines Vaters Fußtapfen getreten, nächtlicherweile, das Gesicht mit dem Mantel verdeckt, in die Häuser mit grünen Vorhängen gegangen. Ich habe es vorgezogen, in großen Städten zu wohnen, und mußte den Kragen meines Überrocks nicht hinaufschlagen. Indessen kann ich nicht sagen, daß ich der Stimme der Natur gefolgt bin.

Der Mann meines Schlages war viel eher der Großvater, der zur Herbsteszeit auszog, um das menschliche Wild am Buchensaum aufzuspüren. Und ohne Zweifel war er der Letzte einer Kette von Jungfernräubern. Doch während jene Alten hochgemut frei durch die Felder stürmten, habe ich hinter einer Hecke in Lüsternheit dem Tier entgegengezittert, das sie tief atmend verfolgten. Das Weib mit seiner Liebe trat eines Tages in mir ein und hat mich nicht mehr verlassen. Ich bin der stöhnende Gefangene dieses bunten Heimwehs.

Zur Zeit, als meine Schwester noch im Vaterhause lebte, kamen einige halberwachsene Mädchen ihres Alters dorthin. Sie waren sämtlich neugierig, den Blutsfreund, ihren Bruder, kennen zu lernen. Es spielt jedesmal eine noch dunkle Anziehung zwischen den Geschlechtern mit, wenn zum erstenmale der kleine künftige Mann und das kleine werdende Weib einander gegenüberstehen. Es blitzt ein Widerspruch auf zwischen der nur brüderlich verstandenen Kameradschaft und der plötzlich erwachten heißen Liebessehnsucht.

So liebte ich damals ein großes Mädchen wahnsinnig, das ich stets nur durch das Schlüsselloch gesehen hatte. Zuweilen setzte sich Ellen mit ihr in den Kopf, mich im Hause zu suchen. Ich rettete mich, indem ich die Stiege hinauflief. Einmal kamen sie in den Bodenraum. Ich verkroch mich in einen Wäschekorb.

Und dann stieg ich wieder beklommen auf den Fußspitzen hinab, preßte das Auge ans Schlüsselloch und das Gesicht an die Türe, und wäre tot geblieben, wenn sie sich in diesem Augenblicke geöffnet hätte. Endlich ging die große Dina fort, und ich küßte mit einem langen Kuß den Stuhl, auf dem sie gesessen war. Auch sie verheiratete sich kurze Zeit nach Ellen.

Man hatte uns in strengstem Anstand erzogen. Ich wußte nie, wie die Schultern meiner Schwester aussahen. Ihr Zimmer war von dem meinigen getrennt, während eine stets offenstehende Türe das letztere mit dem Zimmer meines Vaters verband. Er rückte, wenn er sich entkleidete, den Schirm vor. Ich habe niemals erfahren, ob er mich lieb hatte. Er wachte eifersüchtig über der Erfüllung meiner religiösen Pflichten, küßte mich nur selten, und schien vor allem bestrebt, aus mir einen ordentlichen jungen Mann zu machen, der den Versuchungen der Sünde standhalten könne.

Die »Sünde« war ein Wort, das in seinen Unterhaltungen eine häufige Rolle spielte und das ich ebenso von den Lippen des Priesters vernahm; ich fürchtete die Sünde in allen selbständigen Regungen meiner feineren Seele.

So lehrte man mich, der Natur mißtrauen. Um so heftiger schlug sie in mir ihre Flügel. Zu zwölf Jahren ward ich mir meiner Nacktheit bewußt und entdeckte in ihr den geheimen Quell einer neuen Freude. Es geschah, daß mich mein Vater bei Nacht seufzen hörte und mit dem Lichte bis an mein Bett kam.

Ich gewöhnte mich an den Gedanken, daß ich, was mir Lust bereitete: meine Begeisterung, den Laut meiner Knabenstimme, die Offenbarungen meines inneren Lebens unterdrücken müßte. Ellen wurde einstmals gescholten, weil sie mich zu zärtlich liebkost hatte. An jenem Tage weinte ich von mir selbst noch unverstandene Tränen wie über eine mitleidlose Verletzung unserer gewaltsam voneinander gerissenen Nervenfäden, über ein Schändliches, das auf dem Grunde unserer geschwisterlichen Liebe wohnte und uns einander zu Fremden machte. Ich empfand von nun an bei Ellens Annäherung nur ein dumpfes unerklärliches Mißbehagen. Ich verbarg mich vor ihr wie vor meinem Vater. Doch überraschte er mich kurz nachher, wie ich eines Nachmittags hinter der Türe nach der schönen Dina spähte. Er faßte mich am Arm, zog mich die Treppe hinauf und verschloß mich in meinem Zimmer. Ich sah das große Mädchen nicht wieder: und liebte sie von dieser Stunde an so wahnsinnig.

Mein Vater ward so eine der Ursachen meines Leidens. So lange ich bei ihm wohnte, lebte ich mein einsames Leben im Garten und im Hause. Wir hatten keinen Schmuck an den Wänden, kein liebenswürdiges Bild, das mir die Schönheit hätte enthüllen können – und die Türe zum Bücherzimmer blieb mir verboten, von den Sinneswerkzeugen des Lebens sprach man nur in Verschweigungen, es schien etwas Schimpfliches, ein Mann zu sein, und die Liebe blieb, wie ich argwöhne, für meinen Vater zeitlebens die erniedrigende Schwäche, deren er in dem Hause mit den Läden Herr zu werden trachtete. So war der Schmerz, daß das Leben und meine körperliche Schönheit von Gottes und der Menschen Verachtung getroffene Frevler seien, die Litanei, die mir ihren ewigen Gleichklang offenbarte. Schon war es zu spät, ihm ohne das häßliche Geräusch der Sünde zu lauschen. Ich war ein Kind und hielt mich für verdammt, daß ich mein Fleisch berührte.

Ich überwand dies niemals. In meinem Grunde errötete ich gläubig vor der Nacktheit und vor den Namen, mit denen man dieses Fleisch beim Mann und beim Weibe bezeichnet hat. Bei der Betrachtung freilich fand ich nichts Widriges; nur wenn ich mir nachdenklich die Umschweife des Ekels vorführte, mit denen man mich darauf hinwies, den Kopf im Sande zu verstecken, schien mir, was man mir verschwieg – Teile meines eigenen Leibes – die Verkörperung der menschlichen Schwäche zu sein.

Sie waren eher schön in meinen Augen, und dennoch war diesen Augen ihre Betrachtung verboten. Die Natur hatte sie mir nur gegeben, um mich von ihnen abzuwenden. Sie glichen einem Irrtum, einer Unzulänglichkeit der schaffenden Hand, sie hielten in sich auf ewig die lebendige Reue Gottes umschlossen, und als ich nachher erkannte, daß alles thronende Geheimnis des Lebens darin wie in einem wunderbaren Glase der Zeugung braue, lehnte ich mich auf. Doch die Scham entfloh nicht.

»Kreatur, inmitten deiner, tiefer als dein Antlitz, doch näher den Schlägen deines Herzens, zuckt ein Herd flammender Ergüsse, die Triebfeder selber deines Lebens und aller der Leben, die dem deinen gleichen. Lasse niemals, was die Gottheit doch nicht verhüllt, deinen Gedanken nahen. Es vollendet in der Schönheit seiner äußeren Teile, in seiner gewundenen Blütenanmut – dessen Echo es ist – den Bau deines Leibes. Um so abscheulicher ist es. Wahrlich, du wirst ihm nicht mit der Hand, noch mit dem Blick nahen können, ohne den Stolz zu fühlen, daß du ein Mann, ein Gefäß der Kraft bist, die den Stoff verewigt. Du fühlst es, einen Teil deines Lebens, mit unwiderstehlichem Trieb leben: als ein Wesen von Fleisch und Blut, eins mit dem Träumen deines Geistes. Und dennoch ist dies das Niedrige, Unaussprechliche; sieh zu, daß du dich nicht daran in deinem Wohlgefallen als Tier erkennst.«

So redete der Priester. Dies war der Sinn dessen, was man rings um mich dachte und sprach. Und später erkannte ich, daß der Abscheu des Mittelalters vor dem lauteren Werk des Lebens und seinen zarten Werkmeistern in der Gesellschaft der Jetztzeit noch nicht abgedankt hat.


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