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XXIII.

Ich ward so in den Jahren, in denen ich mein Haupt stolz zum Himmel hätte erheben sollen, in denen das Herz stürmisch von Lebenslust schwellt, ein alter welker Mann. Mein Herz war träge und eisig, als ob schon der Tod daran gerührt hätte. Es war aus meiner Brust auf meinen Weg gerollt und blutete nicht; er stieß es mit ruhiger Sicherheit mit der Spitze seines Fußes immer ein wenig weiter in die Tiefe. Ich stieg die ganze Schlangenwindung des Falles hinab – doch dieses Bild ist zu schwach; ich wurde wie von einer blinden wirbelnden Kraft gestürzt. Ich hatte dem männlichen Stolz, der seine Quellen nur in der Natur sucht, entsagt; ich entsagte bald allem, bis hinab zum Sinn der Persönlichkeit.

Wir verbrachten Tage, ohne ein Wort zu wechseln. Aude wurde durch die schreckliche Leere der Stunden nicht entmutigt; sie hatte nicht das Bedürfnis, sich mitzuteilen, da sie mir nichts zu sagen hatte. Sie blieb schweigend und finster in ihrem äußeren Glanze. Ich fühlte, daß es eines der Kennzeichen des Tieres ist, in dem fühlenden Weltall einsam zu bleiben.

Um einen anderen Anblick zu gewinnen, gingen wir manchmal in die Ebene; sie war mir immer wohltätig erfrischend gewesen. Alte Verwandtschaften mit dem Land weckten dann die grünende Jugend meines Geschlechtes wieder, das die Säfte des Waldes gekräftigt hatten. Mich zog wohl ein unbewußter Reiz nach dieser Rückkehr, da ich den Weg meines eigenen Seins verloren hatte.

Unweit der Stadt war ein von welligen Ebenen umgrenzter Wald; seine Gänge waren tief wie Kirchenschiffe. Ihr Ende verschwamm in dem Gold der Felder und hinterließ so einen Eindruck von Befreiung. Doch der Reiz des Lebens und der lauen Schatten darin blieb mir gleichgiltig; nur die mit sich in Einklang befindlichen Seelen erfahren die Wohltat himmlischen Taus; meine Seele stak wie in spröden Sümpfen. Ich fühlte das keusche Strömen nur leise, wie die ferne Luft eines heiligen und mir verbotenen Ortes.

Die Langweile, die Aude empfand, kühlte mich bald ab. Sie sah diese Spaziergänge nur als eine körperliche Erholung ohne weiteren Sinn an. Die Spiegel des Himmels und der Wasser haben einen leuchtenden Sinn, der sich dort nicht offenbart, wo die innere Schönheit fehlt. Die glorreiche Zeichnung der Bäume, wie heiliger Gottesdiener auf Kirchenfenstern, war ihr niemals eine Verkündigung des Glanzes einer Ewigkeit. Sie war das Schweigen und begriff die heftige Geberdenschönheit des Schweigens nicht. Elise, diese wilde, war durch alle ihre Fibern, durch die Ästelungen ihres kleinen leidenschaftlichen und nervigen Seins mit der Helle, dem Morgen- und Abendwinde verbunden. Ihre frischen Augen waren Landschaftsbilder; sie barg die schuldlose tierische Liebe in ihrem Schoße. Und ihr Leben schloß, wie mit Gleichnissinn, im Wasser. Sie kehrte zur Natur zurück, schlief in den sie wiegenden Fluten ein. Um wie viel näher stand diese der freien Schönheit.

Aude überredete mich also immer wieder, in die Stadt zurückzukehren. Unser Nachhausegehen war peinlich wie von leeren Sonntagen, von langweiligen Abenden. Manchmal sahen wir, wie an den Grenzen der Stadt bei der Herausforderung der Athleten mächtige Steinbrecher, muskulöse blutstrotzende Soldaten auf die Bretter traten.

Aude liebte das Theater nicht. So mäßigen Anteil das Ideale an diesem hat, auch dieses wenige überschritt schon die Grenzen der Aufmerksamkeit, die sie für seelische Regungen übrig hatte. Sie verachtete vielmehr die innere Schönheit, und der Lärm einer Militärmusik befriedigte vollauf ihren Sinn für die Symphonie. Statt dessen gefielen ihr lebende Bilder, Ballette, der sinnliche Prunk von darstellenden Stoffen und Leibern. Muskelspiele, turnende Leiber und Schenkel, die Reiterkünste von Stallmeistern kamen ihren sinnlichen Bedürfnissen entgegen. Sie unterließ es niemals, mich vor streitenden Leuten aus dem Volke zurückzuhalten; der Geruch menschlichen Schweißes berauschte sie wie Wein. Wir nahmen also immer in den Einfriedungen Platz, wo sich großmäulige Künstler des Jahrmarkts, von Händeklatschen begrüßt, balgten. Solche Schauspiele riefen eher meinen Widerspruch hervor; ich war klein und mager, durch eine nervöse Empfindlichkeit zart gemacht; die Riesen und ihre geräuschvolle Schaustellung waren meinem armseligen Heldentum entgegen. Aude im Gegenteil, die gewohnheitsmäßig zurückhaltend war, erhitzte sich leidenschaftlich an diesen Genüssen, ergriff mit den Umstehenden Partei, verwarf oder beklatschte die Gegner je nach ihren Finten, vielleicht waren solches die einzigen Augenblicke, in denen ihre allgemeine Teilnahmslosigkeit einer eigenen Regung Platz machte.

In einem Zirkus, den die Stadt besaß, lösten einander wandernde Truppen, ab. Ich ließ die Turniere und Quadrillen ruhig über mich ergehen. Doch die zum Tod traurige Fröhlichkeit der Possenreißer näherte sich gespenstischem Schein, den Burlesken einer Totenpantomime, und quälte und schreckte mich. Ich verglich das Trauerspiel des Lebens mit der Verzerrung ihrer gipsübermalten und hochtrabenden Gesichter, in denen die Darstellung des Schmerzes die Muskelbewegungen des Lachens erborgte. Aude hingegen, die Fühllose, unterhielt gerade das Verborgenbleiben der Persönlichkeit unter ihren rotflammenden Hanswurstschöpfen und geschmacklos bunten Kitteln. War es das Erkennungszeichen eines verwandten Geschickes?, denn auch diese machten gleich ihr Geberden des Traumes und schienen sich unbekannt zu bleiben. Indem ich meine kühle Geliebte zu solchen Schaustellungen führte, war ich darüber glücklich, ihr zu Gefallen zu sein, und ich selbst sah leidentlich den einzigen Reiz mit an, den sie zu erfassen fähig war. Auch sie war in der Wollust eine vollkommene Pantomime. Und ich habe in der berechneten Schönheit ihres Leibes alle Poesie kennen gelernt, die das ›Tier‹ ausdrücken kann. Jawohl, ich gestehe es mir als eine Herabminderung meiner Sünden gegen mich selbst zu: Aude nahm mich durch ein Zauberspiel von Kunst und Schönheit nicht minder als durch ihre erfinderischen Zärtlichkeiten gefangen, vielleicht entzückte sich mein Wahnwitz hierin in einem Kultus der Aphrodite, der mein bloßes geschlechtliches Verhängnis hinter sich ließ.

So sahen wir einmal in einer zu Schauspielen benutzten Halle eine Tänzerin mit übertriebenen Verrenkungen den seit einiger Zeit in Europa bekannt gewordenen Bauchtanz parodieren, dessen heilig gewesene Grundform damit zur Unsittlichkeit verkam. Aude verriet keine Empfindung, doch als wir zu Hause angelangt waren, ließ sie ihr Kleid fallen und tanzte nackt, mit einer befremdenden Keuschheit in der Darstellung des Unsittlichen, wobei sie spielend mit einem leichten Batist ihr Antlitz wie mit einem Schleier bedeckte. Erst als ich sie in meine Arme nahm, lachte sie plötzlich; ihr Lachen glich einer Maske.

Sie machte mir das mütterliche Land ekel; ich verlor den Sinn für seinen friedlichen Reiz, wir suchten nun desto häufiger die bevölkerten Viertel und ihr Zusammenströmen von Menschen auf. Sie liebte das rauhe Gedränge, das Drücken der Massen. Mir im Gegenteil war es zuwider. Dessenungeachtet tat ich hierin, wie in allem, was sie wollte. Es war der feigen Ergebenheit ganz genehm, daß sie meinem Mangel an Entschlüssen entgegenkam.

Sie tat dies so vollkommen, daß ich mich zuweilen dabei überraschte, wie sie gedacht und mich ausgedrückt zu haben. Die wenigen Gedanken, die ihre starrköpfige beschränkte Stirn verriet, waren bald mein Eigen; ich hatte wohl meine geistigen Fähigkeiten nur darum so lange gepflegt, um sie in dieser verächtlichen Lehnbarkeit einzubüßen. Sie brachte mir langsam ihre Verachtung des Schönen, ihren Hohn für den göttlichen Funken in freien Seelen bei. Ich opferte ihr alles, was ich dachte und verehrte; dieser neue Abfall nach so vielen anderen entsprang aus der geheimen Scham, mit der ich vor ihrem Gelächter nackt und armselig dastand. Das leichte Band, das mich mit meinen Dichtern, den edlen und klangvollen Geistern, verband, ward so zerrissen. »Worte! Musik!« sagte sie in ihrer banausischen Unduldsamkeit.

Ich hörte nicht mehr auf mich, und ebensowenig auf jene Tröster, die mir das innere Gehör und mit ihm vielleicht endlich die ersehnte Befreiung hätten bringen können. Ich las kaum einmal müßig ein Zeitungsblatt. Sie schien mit gebieterischer Hand ein Siegel auf meine einst geliebten Bücher gedrückt zu haben. Ich ging immer mehr der geistigen Anstrengung aus dem Wege; meine Gedanken rosteten ein; ich fürchtete mich auf ihrem Grunde selber zu finden. Und wir lebten allein; niemals trug mir ein befreundetes Antlitz einen Schimmer von Menschlichkeit, der mich erhellt hätte, zu. Sie hatte mich gezwungen, einem jeden Verkehr zu entsagen; sie duldete keinen Eindringling in ihrem beschränkten Kreise. Eines Tages brachte ich einen verlaufenen Hund nach Hause, dessen rührende Augen plötzlich mein Bedürfnis nach Genossenschaft erweckt hatten. Sie öffnete das Fenster und schleuderte ihn, ohne ein Wort zu verlieren, auf die Straße hinunter.


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