Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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99.

Sonnabends, abends zehn Uhr. [1775.]

Mein lieber Freund, wie gut sind Sie, wie liebenswürdig, daß Sie mich für das entschädigen wollten, was mir heute früh entgangen ist! Wenn Sie wüßten, wie ich auf Sie gewartet habe, wie ich alles ferngehalten, alles abgewiesen habe, was mein Glück hätte stören können! Wie mir jeder vorüberrollende Wagen erst Hoffnung und dann Herzeleid gebracht hat! Mein Gott, wie liebe ich Sie! Wie weh tut es mir, Sie gekränkt zu haben! Ach, mein lieber Freund, verzeihen Sie mir nicht, strafen Sie mich, machen Sie meinen Schmerz, meine Reue noch größer, wenn das möglich ist! Ach, Übermaß von Unglück macht einen kurzsichtig. Man wird toll, wirr, krank. Alles das mußte zusammenkommen, damit ich Sie beleidigen konnte! Seit drei Tagen lastet nur das auf mir; ich wäre daran gestorben, wenn Sie mir nicht zu Hilfe gekommen wären. O mein Lieber, Sie haben Worte gebraucht, vor denen ich noch jetzt zusammenschauere, die mir das Herz zerreißen: »Ich öde Sie an. Sie müssen sich Zwang antun, mich zu empfangen!«

Ach, warum bin ich nicht verloschen, ehe ich solche Worte hören mußte, die mir den Mut geben, in den bittersten Tod zu gehen! Sagen Sie mir nicht wieder, daß ich Sie eines Tages doch hassen werde! Lieber Freund, ich verwahre mich gegen diesen Spruch, und ich schwöre Ihnen bei meiner Liebe zu Ihnen, daß ich ein solches gräßliches Gefühl keine Stunde überleben würde. Ich Sie hassen? Sehen Sie doch die Leidenschaft, die Zärtlichkeit meines Herzens! Wenn ich Sie eines Tages nicht mehr lieben sollte, mein Gott, wie süß wäre mir dann der Tod! Der Himmel ist mein Zeuge, daß Sie der Anker meines Lebens sind, daß all die Fürsorge, Güte, Freundschaft und Teilnahme, die andere an mich verschwenden, mir nicht einmal die Lebenskraft bis morgen verleihen könnte. Mora und Sie stehen mir immer unsichtbar zur Seite. Wenn ich diesen Schutz diese Hilfe verlöre, könnte ich nicht weiter existieren.

Sie müssen mehr im Grunde meiner Seele lesen, mehr und besser. Ich kann Ihnen das nicht so sagen. Kann man denn dem Ausdruck geben, was man fühlt, was einen beseelt, was einen atmen läßt, was einem nötiger, ja, viel nötiger als die Luft ist? Ich habe kein Begehren nach dem Leben, ich habe das Begehren Sie zu lieben.

Lieber Freund, wie fern stehen Sie mir. Gestern haben Sie mir gesagt: »Sie haben angefangen, mich zu kränken, und schließlich bin ich zu Stein geworden!« Und ich habe Ihnen geantwortet: »Sie haben mich gekränkt, Sie haben mich gedemütigt, Sie haben mich von sich gestoßen!« Und ich füge hinzu: »Sie könnten mich verachten, könnten mich hassen, und mein Herz wäre doch imstande, Sie leidenschaftlich zu lieben!« Ja, mein Lieber, ich wiederhole es Ihnen, ich denke zwanzigmal am Tage an den Tod, aber der Gedanke, Sie weniger zu lieben, den wage ich nie zu haben.

Lernen Sie mich also besser kennen! Beobachten Sie das Gift in meiner Seele, das mich verzehrt und das Sie nicht merken sollen. Dieses Gift ist nicht meine Reue, nicht mein Leid, wenn ich davon auch zuweilen rede und jammere. Es ist ein Übel, das an meiner Vernunft und an meiner Gesundheit frißt, ein Übel, das mich ungerecht und mißtrauisch macht und mich Dinge aussprechen läßt, vor denen ich selber schaudre. Wie hätte ich es sonst über mich bringen können, Ihnen zu sagen, ich dächte schlecht von Ihnen! Das ist gegen die Natur! Das ist meinem Herzen so fremd! Kann man jemanden anbeten, jemandem Tempel errichten, der einem nicht wie ein Gott erscheint?

Mein lieber Freund, meine Sinne und meine Seele müssen in seltener, ganz ungewöhnlich starker Aufregung gewesen sein, daß ich diese Schuld auf mich laden konnte! Mein Gott, ich ward so geliebt, wie ich Sie liebe, und von dem idealsten Manne! Und dennoch haben Sie die Vermessenheit gehabt, mir zu sagen, ich hätte Sie nicht geliebt. Mein Fühlen sei Haß! Ja, in der Tat, es steckt Haß in mir, aber Haß gegen mich selber! Ob jenes unwiderstehlichen Dranges, der mich zu Ihnen hinreißt. Mein Lieber, machen Sie einmal die Augen recht auf: wenn Sie auch zweifellos in Ihrem Leben viel geliebt worden sind, so hat Sie nie jemand ungestümer, inniger und leidenschaftlicher geliebt als ich.

Ich bitte Sie, heben Sie diesen Brief auf, und was auch sein Los sein mag, ich will mich nicht darüber beunruhigen, noch je darüber beklagen. Mein Schicksal ist von Ihnen verkündet worden, damals am 10. Februar des vergangenen Jahres; es lautet fortan: Sie lieben oder nicht mehr leben!


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