Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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104.

Dienstag, den 28. Februar 1775, um elf Uhr.

Wenn man auf gutes Einvernehmen hält und ganz besonders, wenn man liebt, darf man nicht halsstarrig und ungerecht sein. Darum, mein lieber Freund, will ich Ihnen durchaus keine Vorwürfe machen und mich nicht beklagen. Sie sind frei von Schuld, und Sie haben mich heute ohne Absicht in die Stimmung der Verlassenheit versetzt. Vielleicht machen Sie sich einen Vorwurf, vielleicht sagt Ihnen Ihr gutes Herz: »Sie leidet, und ich bin schuld an ihrem Leid!« Lieber Freund, sollte Ihr Herz dieses Gefühl haben, so wäre das genug Strafe für Sie und genug Rache für mich. Werde ich nun morgen glücklicher sein? Werden wir zusammen zu Mittag essen? Oder werde ich Sie gar nicht zu sehen bekommen?

Ich gedenke Turgot am Donnerstag aufzusuchen. Ich habe Vaines den Vorschlag gemacht, mich mit nach Versailles zu nehmen und Sie auch, wenn Ihnen das recht wäre. Kommt das nicht zustande, so hat mir der pfälzische Gesandte [Freiherr von Sickingen] angeboten, mit ihm zu fahren. Wenn Sie wollen, können Sie auch hier einen Platz finden. Der gute Condorcet und der treffliche d'Alembert gehen morgen hin.

Lieber Freund, Sie werden mich mit dem vor Stolz platzenden Frosch im Märchen vergleichen, wenn ich Ihnen erzähle, daß mich Turgot gebeten hat, ihm meine köstlichen Reimereien mitzubringen, und daß ich ihm habe sagen lassen, dieses hohe Glück solle ihm nicht vorenthalten bleiben.

Wenn Sie heute gekommen wären, so hätte ich einen Tag hinter mir, so lieblich und friedsam wie in einem Geßnerschen Idyll. Ich habe eine Menge Briefe von Freunden erhalten, von Turgot, vom Grafen Schönberg. Ich habe zu Mittag gegessen allein mit einer, die unglücklich und schon deshalb interessant ist. Dann habe ich um drei Uhr einen Spaziergang im Tuileriengarten gemacht. Es war herrlich. Ein himmlisches Wetter. Die Luft, die ich einatmete, beseligte mich. Ich war verliebt, voll Trauer und voll Sehnsucht, aber alle diese Gefühle waren verklärt durch leise Melancholie.

O, mein Lieber, ein so sanftes Gefühlsleben hat mehr Reize als der Sturm lodernder Leidenschaft. Ich glaube, ich bin davon übersättigt. Ich will keine stürmische Liebe mehr, ich möchte eine sanfte, wenn auch keine schwächliche. Letzteres werden Sie nicht bezweifeln, da ich Sie liebe.

Halb fünf Uhr bin ich wieder heimgekommen, und bis sechs Uhr war ich allein. Wissen Sie, wie ich meine Erwartung beschwichtigt habe? Ich habe alle Ihre Briefe seit dem 1. Januar wieder durchgelesen. Ich wollte sie ordnen. Obgleich Sie nicht erschienen, waren Sie doch lebhaft und innigst um mich.

Dann kamen sechs oder sieben Personen, die mir ihre Fastnacht opferten. Sie waren der Amüsements müde und wollten sich an einer Plauderei erlaben, in Ruhe und Frieden. Und diesen Genuß haben wir gehabt, denn die leise Hoffnung auf Ihr Kommen erhielt mir die Spannkraft. Schließlich dachte ich, Sie würden nach dem »Barbier« erscheinen. Aber ach, als es neun schlug, dachte ich an den Tod, und mein Schweigsamwerden veranlaßte alle Anwesenden, mich halb zehn zu verlassen.

Doch ich bin toll, nein blödsinnig, daß ich Sie damit langweile, Ihnen einen ganzen Tag zu schildern, von dem Sie keine einzige Minute haben besitzen wollen. Gute Nacht, mein Freund, teilen Sie mir mit, was Sie am Donnerstag tun wollen und können.

Ich weiß, Sie sind allzusehr Weltkind, um auf den Fastnachtsball zu verzichten. Aber ich atme lieber die reine süße Luft des Tuileriengartens um die Stunde, wo es da einsam ist. Und warum? Weil mir meine Seele mehr zu geben imstande ist als Ihnen Ihr Geist und Ihr Talent! Aber gute Nacht!

Morgen ist Frau von Châtillon bei mir.


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