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Elftes Kapitel.
Er erwirbt eine orangefarbene Kravatte

Die Aengusmere-Karavanserei ist so erbarmungslos heiter und künstlerisch, daß jeder gewöhnliche Mensch, der dort ist, sich nach einem nicht allzu sauberen altmodischen Lokal sehnt, in dem er seine Pfeife rauchen und sein Bier trinken kann, ohne von dem Tapetenmuster, den geistvollen Radierungen und dem polierten Messing mit aufreizender Geduld getadelt zu werden. Alles ist epithetenschwanger. Der gemeinsame Raum ist ganz in Superlativen und Chintz gehalten.

Istra war in ihr Zimmer hinaufgegangen, um zu schlafen, und hatte Mr. Wrenn gebeten, er solle dasselbe tun und sich nicht mit den falschen Leuten in der Karavanserei einlassen; denn, so erklärte sie ihm, außer den falschen, den Interessanten Leuten, seien auch noch ernstzunehmende arbeitende Künstler da. Aber er wollte sich neue Kleider besorgen, um nicht mehr seinen regenzerdrückten Anzug tragen zu müssen. Er durchschritt schüchtern den gemeinsamen Raum und dachte darüber nach, ob er in Aengusmere ein Kleidergeschäft finden könnte, da ertönte ein schriller Ruf aus einem Lehnstuhl vor dem Kamin und hieß ihn stehen bleiben.

»Oh–h–h–h, Mister Wrenn; Mr. Wrenn

Mrs. Stettinius, die Dichterin aus Olympias Wohnung in der Great James Street, saß da.

»Oh–h–h–h, Mr. Wrenn, Sie schlimmer Mann, kommen Sie und setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir alles über Ihre wunderbare Wanderung mit Istra Nash. Ich habe die liebe Istra eben oben in der Diele getroffen. Das arme liebe Kind, sie war so zerdrückt, aber ihr Haar hat ausgesehen wie ein Sonnenuntergang über Bergesgipfeln – Sie wissen ja, wie Yeats sagt; nur war es natürlich ihr Haar, und nicht ihre Lippen – und sie hat mir erzählt, daß Sie den ganzen Weg von London hierher zu Fuß gemacht haben. Von so etwas Romantischem habe ich noch nie gehört – oder nein, ich will nicht sagen romantisch, ich bin ganz einer Meinung mit der lieben Olympia – ist sie nicht wirklich eine groß- ar-tige Frau – so furchtlos und fortschrittlich – haben Sie sie nicht anbetungswürdig gefunden? Sie ist unsere moderne Jungfrau von Orleans – eine so edle Gestalt – ich bin ganz einer Meinung mit ihr, daß die romantische Liebe passé ist, daß wir in die Aera herrlicher Kameradschaft eingetreten sind, die die Varietätik ebenso romantisch findet wie die Monogamie. Aber – aber – wo war ich denn? – ich glaube, Ihre Wanderschaft von London muß sehr aufregend gewesen sein. Und jetzt erzählen Sie uns alles darüber, Mr. Wrenn. Zunächst aber müssen Sie Miss Saxonby kennen lernen, und Mr. Gutch und die liebe Yilyena Dourschetsky und Mr. Howard Bancock Binch – Sie kennen selbstverständlich seine Gedichte.«

Und dann holte sie tief Atem und sank wieder zurück in die Tiefen des Lehnstuhls.

Die ganze Zeit war Mr. Wrenn dagestanden, erschrocken, schutzlos und regenzerdrückt, preisgegeben den Menschen vor dem Kamin, und hatte sich ununterbrochen darüber wundern müssen, daß es Mrs. Stettinius gelang, eine so blaue und gleichzeitig so gepuderte Nase zu haben. Trotz ihrer ermutigenden Einladung berichtete er über die »Wanderschaft« nicht mehr als: »Ach – äh – wir sind eben gegangen«, bis die russisch-jüdische Yilyena ihre ebenholzschwarzen Augen rollend auf ihn richtete und verlangte: »Ja, Sie müssen uns davon errzällen.«

Nun hatte Yilyena einen hübschen Hals von der Farbe einer leichten Zigarre und einen ganz bestimmten Trick des Lächelns. Sie war es gewohnt, daß Männer ihr gehorchten. Mr. Wrenn stammelte:

»Ja – äh – wir sind eben gegangen, und dann hat uns der Regen erwischt. Wissen Sie, Miss Nash war fabelhaft. Sie hat kein einziges Mal auch nur piep gesagt, wie sie schon ganz naß war – sie hat bloß gelacht und ist lustig weitermarschiert. Und unterwegs haben wir eine Menge typisch englische Sachen gesehen – und wir sind auch gar keinen sonen Touristen begegnet, wissen Sie.«

Ein völlig Fremder, ein schwerer alter Mann mit Hornbrille und weichem Hemd, der sich unaufgefordert dazu gestellt hatte, räusperte sich und unterbrach:

»Ist es nicht ein absonderliches Paradox, daß man auf Reisen niemals der ewigen Bourgeoisie entrinnen kann!«

Der cockney-griechische Chor um den Kamin rief:

»Ja!«

»Nirgends.«

»Äh – –« setzte Mr. Gutch an. Anscheinend hatte er etwas zu sagen. Aber der Chor fuhr fort:

»Und ebenso verheerend monogam in Port Said wie in Birmingham.«

»Ja, so ist es.«

»Mr. Wr–r–renn«, zwitscherte Mrs. Stettinius, die Dichterin, »ist Ihnen nicht aufgefallen, daß diese Menschen von allen wirtschaftlichen Bewegungen keine Notiz nehmen; und daß sie Ruinen nie zu spät datieren?«

»Ich glaub, die Leute wollen immer sicher gehen, daß sie die richtigen Sachen bewundern«, wagte Mr. Wrenn in heimlicher Angst zu sagen.

»Ja, so ist es«, erklang es so anerkennend von dem griechischen Chor, daß der persönliche Schüler Dr. phil. Mittyfords sein erstes Epigramm machte:

»Ob einer n kluger Mensch ist, sieht man eigentlich weniger an dem, was ihm Spaß macht, als an dem, was ihm keinen Spaß macht.«

»Ja«, gurgelten sie alle; und Mr. Wrenn, sehr zufrieden mit sich, lächelte seinen neuen Freunden fürstlich zu.

Mrs. Stettinius wollte eben einige Worte über die Poesie des Industrialismus sagen, aber Mr. Gutch, der schon eine Zeitlang ge-äh-t hatte, versuchte jetzt sein Aperçu anzubringen und bemerkte, Miss Saxonby verschmitzt zublinzelnd:

»Ich glaube aber, ganz tot ist die Romantik noch nicht, wissen Sie. Unsere Freunde hier scheinen ja eine ganz romantische kleine Reise hinter sich zu haben.« Dann blinzelte er noch einmal.

»Hören Sie, was wollen Sie damit sagen?« fragte Bill Wrenn, wütend und mit geballten Fäusten, aber sehr ruhig.

»Ach, ich mache Ihnen und Miss Nash keine Vorwürfe – ganz im Gegenteil!« zirpte Mr. Gutch, höchst weise den Kopf schüttelnd.

Dann sprach Bill Wrenn, die Faust unter Mr. Gutchs Nase:

»Hören Sie, Sie blasses, ungesundes, häßliches Stück Mist, ich bin kein großer Kämpfer, aber wenn Sie sich nicht augenblicklich für diese Unverschämtheit entschuldigen, hau ich Sie so windelweich, daß Sie Ihre Ohren überhaupt nicht mehr finden werden.«

»Oh, Mr. Wrenn – –«

»Er wollte nicht – –«

»Ich wollte nicht – –«

»Er hat nur im Spaß – –«

»Ich habe nur im Spaß – –«

Bill Wrenn freute sich an seiner Heldenrolle und an der Aufregung, die er entfesselt hatte. »Sie entschuldigen sich also?«

»Aber selbstverständlich, Mr. Wrenn. Lassen Sie sich erklären – –«

»Ach, nicht erklären«, rief Miss Saxonby.

»Ja!« sagte Mr. Bancock Binch, »Erklärungen sind viel zu konventionell, alter Junge.«

Ein erbauliches Bild – Mr. Wrenn, sehr verlegen und auf dem Sprung, sich bei dem ersten Zeichen von Mißachtung in einen blindwütigen, kriegerischen Bill Wrenn zu verwandeln; die anderen sitzen herum und nehmen, armselige Geschöpfe, Mr. Wrenn ganz ernst, weil er die großartige Wahrheit entdeckt hat, die Hauptsache aller Besichtigungen bestehe darin, daß man das, was zu besichtigen ist, nicht sieht. Er war sehr unglücklich, der gute Mr. Wrenn, und wünschte sich weit weg. Er sprang wie von einer Feder geschnellt fort, als er Istras Stimme rufen hörte: »Kommen Sie doch einen Augenblick her, Billy.«

Sie stand auf eine Stuhllehne gestützt da, müde, aber lächelnd.

»Ich kann noch nicht einschlafen. Soll ich Ihnen ein paar hübsche Häuser zeigen?«

»O ja!«

»Wenn Mrs. Stettinius Sie entbehren kann!«

Diese Worte waren ihr Kommentar zu dem beredten Glotzen der Dichterin.

»G–g–g–g– –« sagte Mrs. Stettinius, womit sie anscheinend ihre Zustimmung auszudrücken wünschte.

Istra führte ihn auf eine kleine Anhöhe, von der man eine schöne Aussicht auf die Wiesen von Aengusmere mit den zerstreuten niedrigen Bungalows und Rosengärten hatte.

»Schön ist das, nicht wahr? Vielleicht könnte man hier glücklich sein – wenn man alle Menschen außer dem Architekten umbringen dürfte«, meinte sie.

»O ja«, sagte er strahlend.

Wie er da neben ihr stand, ganz eingehüllt in glückliche Zufriedenheit, über die weiten Rasenflächen hinblickend, war Bill Wrenn auf der Höhe seines Triumphes. Zugelassen in eine Welt grüner Wiesen, hübscher Bungalows und großer Atelierfenster, auf einem Aussichtspunkt neben seiner Freundin Istra Nash – –

»Liebes Mäuschen«, sagte sie zaudernd, »weshalb ich Sie hier heraus führen wollte, und weshalb ich nicht schlafen konnte: ich mußte Ihnen sagen, wie sehr ich mich schäme, daß ich in der Nacht so streitsüchtig war und mich so schlecht benommen habe. Das tut mir sehr leid, weil Sie so geduldig und so gut zu mir waren. Ich möchte nicht, daß Sie mich ganz einfach für ein launenhaftes Frauenzimmer halten, das Sie nicht zu schätzen weiß. Sie sind ein sehr lieber Mensch, und wenn ich höre, daß Sie mit einem netten Mädel verheiratet sind, werde ich sehr, sehr glücklich sein.«

»Ach, Istra«, rief er, ihren Arm packend, »ich will gar kein Mädel in der ganzen Welt – ich meine – ach, ich möcht immer nur bei Ihnen sein, wenn ich darf –«

»Nein, nein, mein Guter. Heute nacht müssen Sie es doch gemerkt haben; das ist unmöglich. Bitte, reden wir jetzt nicht weiter darüber, ich bin zu müde. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Sie – – Und wenn Sie wieder in Amerika sind, wird es Ihnen gar nichts geschadet haben, daß Sie mit der armen Istra gespielt haben, weil sie Ihnen von ganz anderen Dingen erzählt hat, als Sie bisher gekannt haben, weil sie Ihnen davon erzählt hat, wie man Kinder zu Individuen erzieht, wie man mit Temperafarben malt und so weiter, nicht wahr? Und – und ich möchte nicht, daß Sie mich zu lieb gewinnen, weil wir – sehr verschieden sind … Aber wir haben ein Abenteuer erlebt, auch wenn es etwas feucht war.« Sie machte eine kleine Pause; dann sagte sie munter: »Also, jetzt werde ich zurückgehen und wieder zu schlafen versuchen. Leben Sie wohl, liebes Mäuschen. Nein, begleiten Sie mich nicht zurück. Sehen Sie sich noch alles an. Leben Sie wohl.«

Er sah ihrer schlanken Gestalt nach, wie sie sich über die Wiesen entfernte und die Stufen zu dem Gasthaus hinaufging. Er wartete, bis er sie durch die Tür hineingehen sah, und dann erst eilte er zu den Kaufläden, die außerhalb des poetischen Gebietes der eigentlichen Kolonie um den Bahnhof herumstanden.

Unterwegs fiel ihm auf, daß die Männer, denen er begegnete, zum größten Teil Knickerbockers und Norfolk-Jacken trugen, und so kaufte er sich Hosen, in denen seit den Tagen seiner Kindheit seine Waden zum ersten Mal nicht verhüllt waren, und eine Jacke aus grobem Tuch mit einer lustigen Schnalle am Gürtel. Ja, er verstieg sich sogar zu einer orangefarbenen Krawatte.

Er wollte etwas für das Essen mit Istra haben – »eine Überraschung«, wie er sich zuflüsterte. Zum erstenmal in seinem Leben trat er in einen Blumenladen … Die Armen in der Großstadt können sich nämlich Blumen erst leisten, wenn sie tot sind, und dann auch nur für einen Tag … Er kam mit einigen Orchideen heraus und dachte an die Zeiten, da er die Menschen beneidet hatte, die in Blumenläden wirklich Blumen kaufen. Als er schon ganz in der Nähe der Karavanserei war, wäre er lieber zurück gegangen, um die Orchideen gegen einfachere Blumen umzutauschen, gegen Rosen oder Nelken, konnte sich aber nicht dazu entschließen.

 

Die Tischwäsche, die Gläser und das Silber der Karavanserei waren nahezu ebenso derb wie in einem Hospiz, allem Deckengebälk und allen Radierungen im Speisesaal zum Trotz. Mr. Wrenn suchte die Kellnerin, eine energische junge Dame, die an einem büroartigen Tisch eifrig Keats las, auf und bat: »Könnt ich zum Tee heut abend besonders schönes Geschirr bekommen? Ich hab eine Art Gesellschaft – –«

»Wieviel Personen?« Die Kellnerin stieß die Worte hervor, als hätte er ein Geldstück in den Einwurfschlitz gesteckt.

»Bloß zwei. Sone Art Geburtstagsgesellschaft.« O lügenhafter Mr. Wrenn!

»Bitte schön. Das kostet selbstverständlich etwas mehr. Ich habe ein königliches Satsuma-Teeservice – nahezu königliches Satsuma wenigstens – und einige echte Limoges.«

»Ich denke, königliches Sats'ma wird richtig sein. Und etwas Silber?«

»Selbstverständlich.«

»Und können wir etwas Besonderes zum Essen kriegen?«

»Was wünschen Sie?«

»Ja – –«

O doppelt lügenhafter Mr. Wrenn! Er legte den Kopf zur Seite, rieb sich in hübscher Nachdenklichkeit das Kinn und fragte herablassend: »Was würden Sie denn vorschlagen?«

»Für einen Abendtee? Nun, vielleicht Consommé und Omelette Bergerac und einen Salat und ein Dessert und Café diable. Wir haben einen Chef, der Französische Eier geradezu hervorragend macht. Das wäre einfach, aber –«

»Ja, das würde genügen«, erklärte der große Gourmet gnädig. »Um sechs Uhr; für zwei Personen.«

Als er wegging, mußte er lachen. »Herrjeh! Ich hab mit dem Omelette Bergerac geredet, als ob ichs schon mein ganzes Leben lang kenn!«

Er dachte über weitere Überraschungen für Istra nach. Moment mal; wenn sie wirklich Geburtstag hätte, würde sie dann nicht gern nen Brief von irgendeinem wichtigen Menschen kriegen? fragte er sich. Er wollte ihr einen »eingebildeten« Brief von einem Herzog schreiben. Das tat er auch. Er erwarb eine Postmarke, hockte sich vor einen Tisch in dem gemeinsamen Raum, malte mit unendlicher Mühe einen Stempel auf die Marke und adressierte den Brief an »Lady Istra Nash, Mäuseschloß, Suffolk.«

Jemand setzte sich zu ihm an den Tisch, und eifersüchtig ging er mit seinem großen Werk in sein Zimmer hinauf. Er klingelte so königlich nach Tinte und Feder, als wäre er niemals am anderen Ende einer Klingel gesessen. Als er sich eine halbe Stunde lang damit geplagt hatte, sich vorzustellen, wie ein Herzog einen Brief schreibt, brachte er folgendes zustande:

 

»LADY ISTRA NASH

MÄUSESCHLOSS

SEHR GEEHRTE GNÄDIGE FRAU!

Wie wir von unserem Freund, Sir William Wrenn, hören, wird von einigen Leuten behauptet, daß heute nicht Ihr Geburtstag ist, damit die Feier unterbunden wird; wenn Sie also jemand brauchen sollten, der diesen Gerüchten entgegentritt, haben wir für diesen Fall unseren Sekretär, Sir Percival Montague, abgeschickt. Sir William Wrenn wird sich hinter seinem Stuhl verstecken, und wenn man Sie belästigt, lassen Sie bloß Sir Percival kommen, und er wird den Leuten schon Bescheid sagen. Gestatten Sie uns, sehr geehrte Lady Nash, Ihnen alles, was der Anlaß verlangt, zu wünschen, und verbleiben wir wie immer

in vorzüglicher Hochachtung

HERZOG VERE DE VERE«

 

Er war sehr müde. Als er sich auf eine Minute hinlegte und sich ein Kissen unter den Kopf steckte, war er in zehn Sekunden eingeschlafen. Aber er sprang auf, wusch sich die Augen mit kaltem Wasser und begann sich anzukleiden. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich in den kurzen Hosen und den Golfstrümpfen, aber die orangefarbene Krawatte erschreckte ihn geradezu. Trotzdem wagte er es und ging hinunter, um sich davon zu überzeugen, ob der Tisch auch tatsächlich so schön gedeckt würde, wie er es wünschte.

Als er durch den gemeinsamen Raum kam, beobachtete er die drei oder vier Gruppen, die dort saßen. Sie schienen seine Kleider für etwas ganz Selbstverständliches zu halten. Das freute ihn, denn er legte sehr großen Wert darauf, Istra Ehre zu machen.

Als er vom Speisesaal wieder in den gemeinsamen Raum kam, sah er in einer Fensternische einige Leute stehen, die ihm den Rücken zukehrten. Und da hörte er:

»Wer ist denn der merkwürdige Mensch mit der orangefarbenen Krawatte und der Rokokoschnalle am Jackengürtel – der eben durchgegangen ist? Hat man schon je so etwas Komisches gesehen! Sein Kragen ist ihm mindestens um drei Zentimeter zu weit. Das muß ein Dichter sein. Ob seine Verse ebensowenig taugen wie seine Kleider?«

Mr. Wrenn blieb stehen.

Eine andere Stimme:

»Und der schöne Mangel an Muskeln an seinen Beinen! Ganz wie in den guten alten Zeiten, als jeder Ladenschwengel an den Bankfeiertagen radelte … Ich kenne ihn nicht, aber er wird wohl irgend ein kleiner Illustrator sein.«

»Oder vielleicht ist er ein Jünger der Getrockneten-Bananen-und-Bohnen-Religion. O Aengusmere! Schatten des heiligen Aengus!«

»Gar keine Spur. Die Leute, die so sanft aussehen wie er, hassen immer die Kapitalisten, wie eine Suffragette die Minister haßt. Wahrscheinlich verzehrt er jeden Abend das linke Ohr eines südafrikanischen Millionärs, bevor er auf die Barrikaden geht, um sich Bewegung zu machen … Aber sehen Sie mal dorthin! Da kommt wirklich ein Künstler über die Wiese. Man kann doch sofort sehen, daß er wirklich ein Künstler ist, weil er angezogen ist wie ein Erdarbeiter und – –«

Mr. Wrenn machte sich davon, fest davon überzeugt, daß alle im Zimmer ihn belustigt ansahen. Und jetzt war es auch zu spät, sich umzuziehen. Es war schon sechs Uhr.

Er reckte das Kinn vor und erinnerte sich daran, daß er den »Brief von dem Herzog« in Istras Serviette verstecken wollte, um die Überraschung noch größer zu machen. Er setzte sich an den Tisch und schob den Brief in die Falten der Serviette. Dann rückte er die Vase mit den Orchideen mehr in die Mitte des Tisches und schob diesen näher an das offene Fenster, das einen Ausblick auf die Wiesen bot. Er machte sich Vorwürfe darüber, daß ihm nicht noch etwas einfiel, das zu ändern wäre, und dabei vergaß er seines Anzugs, so daß er wieder glücklich wurde.

Um viertelsieben rief er einen Boy und schickte ihn mit der Botschaft hinauf, daß Mr. Wrenn warte und der Tee fertig sei.

Der Boy kam zurück und brummte: »Miss Nash hat diesen Brief für Sie hinterlassen, Sir, sagt die Kellnerin.«

Mr. Wrenn riß aufgeregt das grünweiße Couvert der Karavanserei auf. Vielleicht kleidete Istra sich auch um. In diesem Augenblick war er ein großer Freund aller Überraschungen. Er las:

 

»Liebes Mäuschen, ich bin viel trauriger, als ich Ihnen sagen kann, aber Sie wissen doch, ich habe Sie ja davor gewarnt, daß die schlimme Istra eine Kreatur ihrer Launen ist, und eben jetzt schickt mich meine Laune nach Paris. Ich fahre um 5,17. Ich will nicht Abschied nehmen – ich hasse alle Abschiede, sie sind so albern, finden Sie nicht auch? Schreiben Sie mir ein oder das andere Mal, am besten über die Amer. Express Co. in Paris, weil ich noch nicht weiß, wo ich sein werde. Und bitte, besuchen Sie mich nicht in Paris, es ist doch immer besser, eine Affaire ohne Erklärungen zu beenden, nicht wahr? Sie waren ganz wunderbar freundlich zu mir und ich werde Ihnen ab und zu ein paar Zeilen schreiben, ja?

J. N.«

 

Still, ohne etwas zu sehen, ging er ins Büro der Karavanserei; dort zahlte er seine Rechnung und merkte, daß er nur noch fünfzig Dollar hatte. Etwas von der wartenden Mahlzeit zu essen, konnte er nicht über sich bringen. Um sieben Uhr vierzehn ging ein Zug nach London. Den nahm er auch. Vorher schickte er noch ein Telegramm an seine New Yorker Bank, um sich hundertfünfzig Dollar kommen zu lassen. Weil er seinen bitteren Gedanken entgehen wollte, sprach er im Zug ernsthaft und freundlich mit einem alten Mann über die guten Zeiten Englands, da die Männer noch das Wurfscheibenspiel übten. Immer wieder dachte er, von der Musik der rollenden Räder begleitet: »Freunde … Jetzt, wo ich weiß, was das ist, muß ich Freunde bekommen … Komisch, daß manche Leute ohne Freunde bleiben. Ja nicht vergessen. Ich muß eine ganze Menge Freunde in New York bekommen. Muß lernen, wie man das macht.«

Um elf Uhr kam er in sein Zimmer auf dem Tavistock Place, und die ganze Nacht dachte er daran, wie sehr ihm jetzt Morton vom Viehdampfer fehlte – jetzt, da er in der ganzen feindlichen Welt wieder keinen Freund hatte.

 

In einem Londoner ABC-Restaurant sprach Mr. Wrenn mit einem Amerikaner, der sich vor allem durch einen gestutzten Schnurrbart, schlechte Manieren, eine Pythia-Ritter-Nadel und eine Schwäche für Entenjagd, für den Eisenwarenhandel und für Zigarren auszeichnete.

»Bei mir ist England abgemeldet«, rief der Amerikaner strahlend. »Ich mach fort aus dem Nebelloch und hau so rasch, wie ich nur kann, wieder in Gottes Land ab. Ich will wissen, was im Laden los ist, und ich möcht mich wieder zu nem ordentlichen Teller Pfannkuchen niedersetzen. Der ewige Tee mit Marmelade hängt mir schon gehörig zum Hals raus. Mensch, ich würde dieses Affenland nicht nehmen, und wenn man mirs schenken wollte. Nein, mein Lieber! Ich bin immer noch für Gottes Land – Sleepy Eye, Brown County, Minnesota. Klar!«

»Es gefällt Ihnen also in England nicht sehr gut?« fragte Mr. Wrenn intelligent.

»Ob mirs gefällt? Dieses nasse, übervölkerte Loch soll mir gefallen? Wo die Leute nicht englisch reden können und ein ganz besoffenes Münzsystem haben – – Wissen Sie, das metrische System, das die drüben in Frankreich haben, das ist n großartiges System, aber hier – Mensch, die wissen ja nicht mal, ob Kansas City in Kansas oder in Missouri oder in allen beiden ist … Und dann der Tee zum Frühstück! Das ist nichts für mich! Nein, mein Lieber! Ich nehm den allerersten Dampfer!«

Der Mann aus Sleepy Eye stieß eine gewaltige Rauchwolke aus und schritt von dannen, mit dem Schlüsselbund in der Hosentasche klimpernd, die Zigarre kühn in einen Mundwinkel geklemmt, kurz, mit einer Miene, als gehörte das ganze Restaurant ihm.

Mr. Wrenn malte sich aus, wie er von einem ankommenden Schiff das Singer-Gebäude begrüßte.

»Herrjeh! Ich tus auch!«

Er stand auf und floh, direkt von dem Tisch im Londoner Lokal, nach Amerika.

Er hatte kaum die Geduld, an der Kasse darauf zu warten, daß er sein Kleingeld herausbekam, sprang auf einen Omnibus, stürmte in sein Zimmer, warf seine Sachen in das Köfferchen, dem er in aller Hast mitteilte, es ginge nach Hause, und jagte zur North-Western Station. Nervös ging er auf und ab, bis sein Zug aus der Halle fuhr. »Wenn Istra sichs aber anders überlegt hat und nach London zurückkommt?« Dieser furchtbare Gedanke quälte ihn. Er lief in den Wartesaal und schrieb ihr auf einer Ansichtskarte der Westminsterabtei: »Muß dringend nach Amerika zurück – werde schreiben. Adresse: Kunstartikelgesellschaft, Achtundzwanzigste Straße.« Aber er gab die Karte nicht auf.

Als er einmal in seinem Abteil dritter Klasse saß und der Zug in Bewegung war, schien er Amerika schon viel näher zu sein; er summte zum großen Mißvergnügen einer lockengeschmückten Dame vor sich hin und machte Pläne für sein neues großartiges Vorhaben: er würde Freundschaften schließen; eines Tages, wenn Istra nicht nachgab, würde er jemand haben, »zu dem man nach Hause gehen kann«.

In Liverpool blieb er plötzlich an einem Briefkasten stehen und warf seine Karte an Istra ein. Damit war der Fall erledigt. Jetzt mußte er natürlich nach Amerika zurück.

Einen Monat und siebzehn Tage, nachdem er von Portland ausgefahren war, ging er jubelnd wieder an Bord.


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