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Liebe Istra, ich bin wieder in New York, wo es mir sehr gut geht, & ich hoffe, daß es Ihnen ebenso geht. Ich wollte Ihnen schon seit langem schreiben, aber es hat nicht viel zu erzählen gegeben & so habe ich Ihnen nicht geschrieben. Aber jetzt bin ich wieder bei der Kunstartikel-Gesellschaft. Ich hoffe, Sie amüsieren sich gut in Paris. Das muß eine sehr hübsche Stadt sein & ich habe mir oft gewünscht, dort zu sein, vielleicht fahre ich auch noch einmal hin. Ich [hier ist einiges ausradiert] habe ziemlich viel gelesen, seit ich wieder zurück bin & ich glaube, es wird immer besser damit werden. Sie haben mir so vieles über Bücher & soweiter gesagt, & das habe ich mir gut gemerkt. Ich schließe
als Ihr sehr ergebener
William Wrenn«
Mehr wußte er nicht zu sagen. Aber es gab erschreckend vieles, was er denken konnte, wenn er an seinem Fenster in der Sechzehnten Straße saß, die noch ebenso langweilig aussah wie vor seinem jahrhundertelangen Aufenthalt in England. Er dachte an ihr Lächeln – und rief aus: »Ach, ich sehn mich ja so nach ihr.« Dann dachte er an die Wanderung im Regen – und wieder kam derselbe Ausruf.
Schließlich beschimpfte er sich: »Warum mach ich denn nicht was, womit sie zufrieden sein kann, statt rumzusitzen und wie ein dummer Junge nach ihr zu jammern?«
Er arbeitete an seinem Plan, »den Süden zu erfassen« – für die Kunstartikel-Gesellschaft zu erfassen. Immer wieder sprang er von dem Schreibtisch in seinem heißen Zimmer auf, wenn Istra mit einem Mal zu ihm kam und neben seinem Stuhl stand. Aber er arbeitete.
Die Reisevertreter der Kunstartikel-Gesellschaft waren nicht imstande gewesen, der Firma im Süden die Geschäfte zu bringen, die sie haben mußte, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Auf der Überfahrt von England war Mr. Wrenn auf den Gedanken gekommen, daß ein Dixieland-Tintenfaß mit den kombinierten Flaggen der Konföderierten und der Union ein bewundernswerter Geschenkartikel sein müßte, der die Aufmerksamkeit des Handels im Süden auf sich lenken würde. Dem Tintenfaß sollte eine Serie von Briefen folgen, die bei jedem Anlaß, bei Bestellungen und Nachbestellungen, abzuschicken wären; darin sollte der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß es um die diversen Gesundheiten im Süden gut stehe und die Baseball-Saison zufriedenstellend sei – alles, um den Reisenden im Süden einen guten Empfang zu sichern.
Er setzte seine Briefe auf; er entwarf sein Tintenfaß; er sammelte den Mut, mit dem Direktor zu sprechen … Um die Liebe und die Geliebte zu vergessen, sind Männer in Flugzeugen aufgestiegen und haben afrikanische Volksstämme unterworfen. Um die Liebe zu vergessen, marschierte ein neuer, eifriger, sehr nachdenklicher Mr. Wrenn in Mr. Guilfogles Büro, warf seine Papiere auf den Tisch und erklärte: »Hier haben Sie die Entwürfe für das Geschäft im Süden, von denen ich Ihnen erzählt hab. Wissen Sie, ich möcht das alles wirklich gern ausprobieren. Deshalb möcht ich auch ein paar Stunden im Tag n Fräulein zur Verfügung haben.«
»Na, Sie wissen, unsere Stenotypistinnen haben ganz genug zu tun. Aber lassen Sie mir die Sachen mal hier. Ich werd sie mir durchsehen«, sagte Mr. Guilfogle.
Noch am selben Nachmittag stimmte der Direktor dem Plan begeistert zu. Begeistert zustimmen heißt in einem Büro, mürrisch sagen: »Ja, wissen Sie, es kann wohl nicht sehr viel Schaden anrichten, wenn wirs probieren, aber seien Sie um Gottes willen vorsichtig, und zeigen Sie mir jeden Brief, den Sie rausgehen lassen wollen.«
Mr. Wrenn diktierte also für jeden der Geschäftsfreunde im Süden einen Brief, übersandte ihm ein Dixieland-Tintenfaß und erkundigte sich nach den Ernteaussichten. Er hatte eine Stenotypistin, eine tüchtige, unduldsame junge Person, die seine zögernd gesprochenen Worte niederschrieb, als wären sie Musterbeispiele eines schlechten Englisch, die sie ihren Freunden zeigen wollte, und auf das nächste Wort mit zynischer Belustigung wartete.
»Herr Gott!« knurrte Bill Wrenn, der Viehwärter. »Ich werd ihr schon zeigen, daß ich der Chef von der Sache bin.« Aber er diktierte so eifrig und war so erpicht darauf, Resultate zu erzielen, daß er an den Hochmut des Mädchens gar nicht mehr dachte.
Er informierte sich in den Zeitungen über die Ergebnisse der Baseballspiele im Süden. Er nahm sich jeden Vertreter, der vom Süden zurückkam, vor und erkundigte sich bei ihm nach der Konfession und den politischen Anschauungen der Kaufleute in seinem Bezirk. Er vergaß sogar, sich über seine nächste Gehaltserhöhung den Kopf zu zerbrechen, und fand es viel interessanter, nach einem raschen Mittagessen zu einem wichtigen Brief zurückzueilen, als die Zeit abzuwarten und sorgfältig jede Minute seiner Mittagspause für sich auszunützen.
Als der Oktober kam – der Oktober der Landstreicher, in dem die Blätter auf den Palissaden draußen in bunten Farben erglänzten und die Kinopaläste in der Sechsten Avenue wieder kühl und einladend aussahen – blieb Mr. Wrenn bis in den späten Abend im Büro und legte sich Verzeichnisse der Kaufleute im Süden mit allen ihren Steckenpferden und Vorurteilen an; er pfiff während der Arbeit vergnügt vor sich hin und unterbrach sich ab und zu, um auf den Tisch zu schlagen und zu murmeln: »Weiß Gott! Ich krieg sie – ich krieg sie.«
An Istra dachte er meistens erst, wenn er mit dem stolzen Bewußtsein, soviel gearbeitet zu haben, daß ihm die Augen weh taten, wieder auf der Straße war. Ja, am meisten Sorge machte es ihm in jenen Tagen, wenn Mr. Guilfogle ihn »eine Idee nicht ausführen lassen« wollte.
Die erste Schlacht ging darum, ob Mr. Wrenn die Briefe persönlich unterzeichnen sollte oder nicht; der Direktor war nämlich der Ansicht, die Briefe kämen mindestens ebenso sehr von der Firma wie von Mr. Wrenn und müßten darum auch von ihr unterzeichnet werden. Mit einiger Anstrengung überzeugte Mr. Wrenn ihn davon, daß die beste Methode, einen Brief persönlich klingen zu lassen, darin bestehe, daß der Brief auch wirklich persönlich gehalten werde. Sie beschimpften einander nahezu, bevor Mr. Wrenn die Erlaubnis bekam, nach eigenem Ermessen zu handeln.
Es ist sehr fraglich, ob Mr. Guilfogle gut daran tat, nachzugeben. Wozu ist ein Direktor da, wenn seine Untergebenen selbständig handeln?
Die nächste Schlacht verlor Mr. Wrenn. Er hatte gefordert, daß seine Stenotypistin in jedem Monat einen Frei-Tag bekomme. Mr. Guilfogle wies daraufhin, daß sie nach einem solchen Frei-Tag nur schlechter zu gebrauchen wäre, daß etwas derartiges sie unzufrieden machen müßte, und daß man ihr eine Wohltat erweise, wenn man für ununterbrochene Beschäftigung ihres Geistes sorge. Immerhin wurde Mr. Wrenn eine neue Schreibmaschine bewilligt, in einer Art jedoch, die ihm sehr deutlich zu verstehen gab, daß die Kunstartikel-Gesellschaft fast zu viel Entgegenkommen zeige, wenn sie einem Angestellten gestatte, seinen eigenen egoistischen und eigensinnigen Wünschen zu folgen.
Man kann diesen Angestellten nie trauen. Mr. Wrenn vertiefte sich so sehr in seine Arbeit, daß er nicht einmal so tat, als würde ihm eine Gnade erwiesen, als Mr. Guilfogle ihm erlaubte, seine Briefe mit Durchschlägen schreiben – und nicht kopieren – zu lassen. Der Direktor gab ihm nach, war aber, sehr mit Recht, über das kurzangebundene Wesen dieses Schurken empört, worauf unser selbstsicherer Revolutionär, unser Freund von Anarchisten und rothaarigen Künstlern, eine »Erhöhung« verlangte und erklärte, es sei ihm höchst egal, ob die [vorzüglichen] Briefe hinausgingen oder nicht. Wie freundlich die Chefs doch sind! Mr. Guilfogle entschuldigte sich und erhöhte das Wochensalär des Wahnwitzigen von siebzehneinhalb Dollar auf die neunzehn, die er schon früher gehabt hatte. (Er war entschlossen gewesen, sich mit achtzehn zufrieden zu geben; er hatte zweiundzwanzigeinhalb verlangt, und sein Wert notierte auf dem Arbeitsmarkt zwischen fünfundzwanzig und dreißig; der Nutzen jedoch, den die Kunstartikel-Gesellschaft aus seiner Arbeit zog, belief sich auf sechzig Dollar, abzüglich seines jeweiligen Gehalts.)
Aber das war noch nicht alles. Mr. Guilfogle klopfte ihm auf die Schulter und erklärte: »Sie machen sich gut, alter Junge. Sehr schön. Sehr schön. Werden Sie nur nicht zu leichtsinnig.«
An diesem Abend arbeitete Wrenn bis acht Uhr.
Seit der Gehaltserhöhung konnte er es sich leisten, ins Theater zu gehen, da er jetzt nicht mehr für eine Reise sparte. Er schrieb kleine Briefe an Istra und las die Bücher, von denen er annahm, sie würden ihre Zustimmung finden – einen Pariser Baedeker und den zweiten Band von Tolstois »Krieg und Frieden«, den er auf einem Bücherwagen um fünf Cent kaufte. Er interessierte sich für volkstümliche und oberflächliche französische und englische Geschichtswerke, dachte fast allabendlich daran, Freundschaften zu schließen, und nahm sich fest vor, damit anzufangen – sobald das schöne Irgendwann zur Gegenwart geworden sei.
An dem Tag, da ihm einer der Kaufleute im Süden über seinen Sohn schrieb – »prachtvoller junger Mensch – hat die besten Aussichten, in der Atlanta-Polizei Leutnant zu werden« – wurden Mr. Wrenns Augen feucht. Da war schon ein Freund. Freilich. Er würde noch viele Freunde gewinnen. Dann war der Krüppel vom Zeitungsstand in Austin, Texas, da. Mr. Wrenn schickte ihm zwei Dixieland-Tintenfässer und ein Banner der Yale-Fußballmannschaft für seine Brüder, die an der landwirtschaftlichen Hochschule waren.
Die Aufträge – ja; sie nahmen von Tag zu Tag zu. Die Kaufleute aus dem Süden luden ihn öfters zum Abendessen ein. Aber er fühlte sich in ihrer Gesellschaft nicht recht wohl. Sie waren so klug und kannten so viele Rauchzimmergeschichten. Noch immer hatte er nicht die Freunde gefunden, nach denen es ihn verlangte.
Miggleton's Restaurant in der Zweiundvierzigsten Straße war eine romantische Entdeckung. Trotz seinen »volkstümlichen Preisen« – einfaches Omelette fünfzehn Cent – hatte es grünrot lackierte Armleuchter und Tische im Missionsstil, und ein spatzenähnlicher Pianist machte mit einem Geiger Musik. Mr. Wrenn hörte die Musik eigentlich nie, sondern vergnügte sich, während sie dahinplätscherte, mit den Witzzeichnungen im Journal, das er immer an die Wasserflasche auf seinem Tisch lehnte. Ab und zu ließ er die Zeitung, um die Lichtreklame eines Grundstückmaklers, die wahre Gärten des Paradieses auf Raten versprach, zu bewundern und von einer fernen, köstlichen Zukunft zu träumen, die ihm noch höchst nebelhaft und unklar war. Ein oder zweimal wußte er, daß er an das Mädchen in sanftem Braun dachte, zu dem er »nach Hause gehen« würde. Sie würde ebenso klug sein wie Istra, aber »ach, viel mehr so, daß man sich gar nicht anstrengen muß, wenn man mit ihr zusammen ist« … Bisweilen regte ihn die Musik auch zu guten Einfällen für seine Propagandabriefe an, die er dann auf alten Couverts notierte.
Endlich kommt das historische Streichholzschachtel-Ereignis.
An jenem Oktoberabend aß er früher als sonst bei Miggleton. Das Menu um dreißig Cent befriedigte die höchsten Ansprüche. Die legierte Maissuppe war, wie er zu der Kellnerin bemerkte, »einfach blendend«, und in seiner Portion Waldorfsalat allein fand er zwei ganze Nüsse.
Der dicke Mann mit der weißen Weste, den er schon oft in eben dieser Ecke des Restaurants bemerkt hatte, lächelte ihm zu und sagte: »Schön guten Abend«, als er sich Mr. Wrenn gegenüber setzte und die beiden Locken, die den Vorderteil seines nahezu kahlen Kopfes zierten, glättete und zurückstrich.
Die Musik spielte ein Potpourri aus Melodien der »Lustigen Witwe«, bei dem er die Füße nicht still halten konnte. Die ganze Zeit dachte er daran, daß er das Nouveautés- und Papiergeschäft in Seattle dazu bringen mußte, einen Fünfhundert-Dollar-Auftrag zu erteilen.
Das Journal brachte ein Feuilleton über »Die Freundschaft«, das Cicero alle Ehre gemacht hätte, und auch machte.
Er legte die Zeitung aus der Hand, rührte seine große Tasse Kaffee um und betrachtete die Perlmutterknöpfe auf der Weste des dicken Manns, der jetzt seine Suppe schlürfte. »Mein Land!« dachte er, »Freundschaft! Ich hab noch nicht mal damit angefangen, Freunde zu suchen. Nichts hab ich getan. Ich muß endlich damit anfangen.«
»Hübscher Abend«, sagte der dicke Mann.
»Ja – freilich«, stimmte Mr. Wrenn eifrig zu.
»Richtiges Spätsommerwetter.«
»Ja, nicht wahr! Ich bekomm richtig Lust, auf dem Riverside Drive spazieren zu gehen – ja, das werd ich auch tun.«
»Ich wollte, ich hätt Zeit dazu. Aber ich muß in meinen Laden machen – Zigarren. Dreimal in der Woche hab ich Abenddienst.«
»Ja, ich seh Sie fast immer hier, wenn ich mal bißchen früher eß.«
»Ja. An den anderen Abenden eß ich in meiner Pension.«
Schweigen. Aber Mr. Wrenn suchte verzweifelt nach Dingen, von denen er sprechen könnte, nach Annäherungsmethoden, denn eine solche Gelegenheit, mit einem neuen Menschen bekannt zu werden, hatte er in allen seinen Nächten der Einsamkeit herbeigesehnt.
»Wann die wohl mit dem Grand Central fertig sein werden?« fragte der Dicke.
»Das wird wahrscheinlich noch paar Jährchen dauern.«
»Ja. Wird wohl so sein.«
Schweigen.
Mr. Wrenn saß da und dachte angestrengt darüber nach, was er noch sagen könnte. Einsame Menschen in Großstadtrestaurants werden eben nicht miteinander bekannt. Immerhin gelang es ihm, in höchst freundlichem Ton zu sagen: »N großartiges Gebäude wird das sein.«
Schweigen.
Dann redete der Dicke wieder:
»Bin neugierig, wie Wolgast bei seinem Boxen abschneiden wird. Ich glaube nicht, daß er sich halten kann.«
Mr. Wrenn stimmte zu:
»Er wirds nicht leicht haben.«
»Gehen Sie zu dem Schaufliegen hinaus?« fragte der Dicke.
»Nein. Aber ich würd mirs gern ansehen. Herrjeh! das muß ja ganz – ganz aufregend sein, nicht?«
»Ja – na selbstverständlich. Aber die erste Maschine, die ich gesehen hab – ich war grade in Belmont Park aus dem Zug gestiegen, und da war n Aeroplan oben in der Luft, der hat ganz genau so ausgesehen wie einer von den großen mechanischen Käfern, die die Leute auf der Straße verkaufen. Ich war eigentlich bißchen enttäuscht. Aber was meinen Sie? Das war der J. A. D. McCurdy in nem Curtiss-Biplan – ich glaub wenigstens, das wars – und Herrgott! der hat Schleifen gemacht und ist gekippt, so daß ich vor lauter Aufregung geglaubt hab, mir wird der Hut vom Kopf fallen. Und hören Sie, was meinen Sie? Nachher hab ich den McCurdy selber gesehen, er ist neben einem von den – den Hangars gestanden, n hübscher, junger Kerl, nicht mehr als achtundzwanzig oder dreißig Jahre, und ausgesehen hat er wien Langstreckenläufer. Und dann hab ich noch Ralph Johnstone gesehen und Arch Hoxey – –«
»Herrjeh!« keuchte Mr. Wrenn.
»– die haben sone – wie heißt das nur? – sone Sturzflüge und alle die Sachen gemacht. Ich hab mir die Gurgel ausm Hals geschrien.«
»Ach, das muß ja was Großartiges gewesen sein!«
»Ja – das wars auch wirklich.«
Und damit schienen alle Gesprächsthemen erschöpft. Mr. Wrenn faltete langsam seine Zeitung zusammen, jagte seinem Scheck unter drei Tellern und der Speisekarte nach, bis er ihn in seinem Versteck unter dem Senftigel gefunden hatte, und stand mit einem bedauernden »Guten Abend« auf.
Vor dem Pult der Kassiererin, einer stattlichen Blondine, steckte er ein Centstück in den Apparat, der gutmütig Streichholzschachteln ausspuckte. Diesmal kam keine Schachtel heraus, obwohl er lärmend an dem Hebel zog.
»Funktioniert nicht?« fragte die Kassiererin. »Da sind zwei Schachteln Streichhölzer. Sie haben sie sich verdient.«
»Na na, na na!« rief sein Freund, der Dicke, der jetzt auch dastand und seine Rechnung bezahlte. »Ganz leicht, was? Zwei Schachteln für einen Cent! Das Restaurant reinlegen.« Er warf den Kopf zurück, steckte sorgfältig einen Cent in den Schlitz, zog an dem Hebel und sah sich grinsend nach Mr. Wrenn um, der vergnügt zurückgrinste, als der Apparat wieder nicht funktionierte.
»Lassen Sie mich mal probieren«, rief Mr. Wrenn vergnügt und zog mit der Begeisterung der Kameradschaft am Hebel.
»Nichts zu machen«, krähte der Dicke der Kassiererin zu. »Ich krieg jetzt wohl auch zwei Schachteln, nicht? Und ich bin noch dazu in nem Zigarrenladen. Da hab ich die Konkurrenz mal reingelegt, was? Hohoho!«
Die Kassiererin reichte ihm mit einem verlegen albernen Lächeln zwei Schachteln, und der Dicke klopfte Mr. Wrenn vergnügt auf die Schulter.
»Jetzt bin ich dran!« rief ein junger Mann in hellbraunem Anzug, der interessiert zugesehen hatte.
Mr. Wrenn setzte eine finstere Miene auf. »Keine Rede – ich! Ich hab das Spiel erfunden.« Noch niemals war er so entschlossen aufgetreten. Er war wieder Bill Wrenn, aber jetzt mit der weltmännischen Glätte eines Abteilungschefs in einem Warenhaus. Er stand neben seinem Freund und Schicksalsgefährten, dem dicken Mann, einer Persönlichkeit, die durchaus ernst zu nehmen war.
Allerdings fügte er diesem geistigen Triumph nicht den Triumph hinzu, noch zwei Schachteln zu bekommen, denn die Kassiererin rief: »O nein; ich bin jetzt dran!« und stellte den Automaten auf ein Brett hinter der Theke. Aber Mr. Wrenn trat mit seinem alten Freund, dem Dicken, aus dem Restaurant und sagte höchst witzig: »Jetzt sind wir reingelegt, was?«
»Ja!« kicherte der Dicke.
»Sie gehen in Ihren Laden?«
»Ja – natürlich – wollen Sien Stück mitkommen?«
»Ja, sehr gern. Wo ist das?«
»Vierte Avenue, Ecke Achtundzwanzigste.«
»Da komm ich mit.«
»Fein!«
Und der dicke Mann schien das ernst zu meinen. Er vertraute Mr. Wrenn an, daß man in Trulen in New Jersey ausgezeichnet angle; daß er sehr tüchtig beim Auswerfen der Angelschnur sei; daß er am liebsten auch jetzt in Trulen wäre, um zu angeln, aber vom Geschäftsführer des Zigarrenladens daran verhindert werde; daß der Geschäftsführer ein alter Teufel wäre; daß er (der Dicke) Tom Poppins heiße; daß der Laden eine ausgezeichnete neue Sorte Manilazigarren führe, die in einem auf seinen (Mr. Poppins') Rat angeschafften luft- und feuchtigkeitsdichten Kasten aufbewahrt würden; daß es ihm ein großes Vergnügen sein würde, Mr. – Mr. Wrenn, ja? – eine von diesen Manilazigarren anzubieten – es seien übrigens sehr große Zigarren; und daß er schon lange nicht so gelacht hätte wie darüber, daß sie das Restaurant mit den Streichhölzern so hereingelegt hätten.
All das sagte er in der leichten, zärtlichen, etwas melancholischen Art dicker Menschen. Mr. Poppins' große, runde, freundliche Kinderaugen hatten nie etwas Ironisches. Er war der Mann, der in einem Raucherabteil in der Eisenbahn alle Menschen im Laufe einer halben Stunde zu alten Freunden macht. Die Folge war, daß Mr. Wrenn sich nicht schüchtern zurückzog; er deutete sogar einiges von den Sehnsüchten und Sorgen seines Lebens an, und als sie zum Laden kamen, nahm er eine von den »blendenden neuen Manilazigarren« nicht nur an, er rauchte sie auch vergnügt.
Als er fortging, wußte er, daß das goldene Zeitalter angebrochen war. Er hatte einen Freund!
Er sollte Tom Poppins am nächsten Donnerstag bei Miggleton treffen. Und jetzt wollte er Morton aufsuchen! Er lachte so laut, daß der Polizist in der Vierunddreißigsten Straße ganz verlegen wurde und heimlich festzustellen suchte, was an seiner Uniform nicht in Ordnung sei. Noch jetzt, noch an diesem Abend, wollte er versuchen, Morton auf die Spur zu kommen. Nun, am Abend wohl nicht mehr – die Büros der Pennsylvania waren ja nicht mehr offen, aber auf jeden Fall noch in dieser Woche.
Zwei Abende später, als er bei Miggleton auf Tom Poppins wartete, machte er sich Vorwürfe darüber, daß er noch nichts getan hatte, um Morton zu finden; den guten alten Morton vom Viehdampfer. Aber das alles vergaß er bei Tom Poppins' wunderbarer Erzählung von Mrs. Artys Pension, »wo alle einander gern« hatten.
»Sie haben noch nie in ner Pension gegessen, nicht wahr?« fragte Tom. »Ich glaube ja, in den meisten wird man nen ziemlichen Fraß kriegen. Und die Leute werden auch nicht grade nett sein. Aber bei Mrs. Arty ist man wie zu Hause. Sind auch nette Leute dort. Wenn Mrs. Arty – sie heißt eigentlich Mrs. R. T. Ferrard, aber wir nennen sie immer Mrs. Arty (R.T.) – wenn Sie ihr nicht gefallen, sagt sie Ihnen in aller Seelenruhe, daß sie Sie gar nicht nimmt; wenn Sie ihr aber sympathisch sind, dann stopft sie Ihnen die Socken, als ob Sie ihr Mann wären. Und jeder, der nach Haus kommt, sieht erst noch mal ins Wohnzimmer, ganz egal wie späts ist – bis halb eins, und dann wird geredet und gelacht und n Glas Bier getrunken und Fünfhunderter-Préférence gespielt. Ganz wie zu Haus!
Mrs. Arty ist beinah genau so dick wie ich, aber wenn sie was für einen tun kann, ist sie sehr rasch. Lauter nette Leute wohnen da – außer dem Teddem – das ist son weibischer Komödiant, der nie Arbeit hat; ich glaub, Mrs. Arty hat immer son bißchen Mitleid mit ihm. Hören Sie, Mr. Wrenn – Sie scheinen doch wirklich n netter Kerl zu sein – wollen Sie nicht mit den ganzen Leuten da bekannt werden? Vielleicht wollen Sie auch mal einziehen. Sie haben mir doch davon erzählt, was für ne ekelhafte alte Pute Ihre Wirtin ist. Kommen Sie doch mal zum Abendessen rauf. Eingeladen. Haben Sie nächsten Montag abends was vor?«
»N–nein.«
»Also dann kommen Sie – Osten, Dreizehnte.«
»Ich komm wirklich gern!«
»Na also, dann ist ja alles in Ordnung. Kommen Sie so gegen sechs. Fragen Sie nach mir. Am Montag. Montag, Dienstag und Freitag brauch ich abends nicht in den Laden gehen. Kommen Sie nur; Sie werden ja dann sehen, obs Ihnen dort gefällt.«
»Donnerwetter ja, ich komm!« Mr. Wrenn schlug begeistert auf den Tisch.
Endlich hatte er es »hinter sich, wirklich hinter sich, bloß so rumzubummeln und keine Bekanntschaften zu machen«, sagte er sich. Er hatte genug von den Zapps. Er wollte zu Mrs. Arty gehen und jetzt – wollte er Morton finden. Am nächsten Vormittag telephonierte er, ganz erstaunt darüber, daß er diese leichte Aufgabe nicht schon früher gelöst hatte, mit dem Pennsylvaniabüro, fragte nach Morton und hörte nach einer halben Minute:
»Ja? Hier Harry Morton.«
»Hallo, Mr. Morton! Was meinen Sie wohl, wer da ist?«
»Keine Ahnung.«
»Na, was glauben Sie –«
»Jack?«
»Falsch.«
»Onkel Henry?«
»Nein.« Mr. Wrenn hatte ein unbehagliches Gefühl, als er merkte, er sei so vollständig aus Mortons Welt verschwunden, daß an ihn überhaupt nicht gedacht wurde. Er beeilte sich, einen Teil dieser Welt für sich in Anspruch zu nehmen:
»Sagen Sie, Mr. Morton, haben Sie schon mal was von einem Viehdampfer gehört, der Merian heißt?«
»Ich – – Ja! Ist dort Bill Wrenn?«
»Ja.«
»Aber, nanu! Wieder im Lande?«
»Ach, ich bin schon ne ganze Weile wieder da, Morty. Ich hab dich schon paar mal erreichen wollen – hab schon öfter angerufen – ich bin wieder in meiner alten Stellung – Kunstartikel-Gesellschaft. Hör mal, ich möcht dich gern sehen.«
»Na, ich dich doch auch, alter Bill!«
»Hast du für heute abend schon was vor, Morty?«
»N–nein. Nein, ich glaub, ich hab nichts vor.«
Das kam ein wenig zögernd. Mr. Wrenn zog daraus den Schluß, daß Morton gesellschaftlich sehr in Anspruch genommen sei; er formulierte also seine Einladung überaus höflich:
»Also hör mal, alter Junge, es würde mir n großes Vergnügen sein, wenn du heute abend mit mir essen könntest. Können wir uns irgendwo treffen, Morty?«
»J–ja, ich denk schon. Ja, gut. Wo sollen wir uns treffen?«
»Wie wärs Sechste Avenue Ecke Achtundzwanzigste?«
»Ausgezeichnet, Bill. Gegen sechs Uhr?«
»Schön! Ich freu mich schon sehr, dich wiederzusehen, Morty.«
»Ich auch. Bis dahin.«
Als Mr. Wrenn am Tisch bei Miggleton das ihm bekannte Gesicht Mortons vom Viehdampfer studierte, sah er einen sich nicht allzu behaglich fühlenden Fremden vor sich, dessen Eleganz durchaus nicht an Viehdampfer denken ließ – er trug eine rote Krawatte mit einer Hufeisennadel aus »brasilianischen Diamanten« und einen hübschen braunen Anzug mit elegant geschwungenen Ärmeln und Taschenklappen.
Morton erzählte von seinen Wanderungen nach dem Abschied in Liverpool nicht mehr als: »Ach, ich bin rumvagabundiert. So überall … Warm heut abend. Für die Jahreszeit.« Dreimal erklärte er: »Ich hatte bißchen Angst, daß du bös sein wirst, weil ich so davongegangen bin. Deshalb hab ich dich auch nicht aufgesucht.« Dreimal versicherte Mr. Wrenn, daß er nicht »bös« gewesen sei.
Das Gespräch stockte. Beide spielten ziemlich oft mit ihrem Besteck. Morton baute Zahnstocherpyramiden, während er angeblich aufmerksam der Musik zuhörte und Mr. Wrenn zum Fenster hinausstarrte, als warte er darauf, daß das Haus gegenüber augenblicklich zu brennen anfange. Wenn einem von ihnen etwas einfiel, was er sagen konnte, begannen sie mit schuldbewußter Hast zu plaudern und versicherten einander immer wieder ganz aufgeregt, daß sie durchaus einer Meinung wären.
Mr. Wrenn ertappte sich bei dem Gedanken, daß Morton nicht sehr viel Neues zu sagen habe, und dabei bekam er ein so schlechtes Gewissen, daß er ganz energisch rief:
»Hör mal, jetzt leg aber los, alter Junge; ich muß unbedingt wissen, was du gemacht hast, wie du mal von Liverpool fort warst.«
»Ich – –«
»Na – –«
»Ich bin überhaupt nicht aus Liverpool rausgekommen. Ich hab dort in einem Restaurant gearbeitet … Aber das nächste Mal – – Da fahr ich direkt bis nach Konstantinopel!« explodierte Morton. »Und auf jeden Fall hab ich das englische Leben in Liverpool ganz gut kennen gelernt.«
Mr. Wrenn sprach lange und mit großer Zungenfertigkeit über die großen Baseballspiele und über die Vorzüge der Schuhe von Regal gegenüber denen von Walkover.
Er zerbrach sich den Kopf darüber, was sie anfangen könnten.
Plötzlich rief er:
»Hör mal, Morty, ich kenn nen schrecklich netten Menschen, gleich in der Nähe hier, in nem Zigarrenladen. Gehen wir doch zu dem.«
»Gemacht.«
Tom Poppins empfing die beiden sehr herzlich. Er holte braune Klappstühle aus dem Raum hinten, in dem Zigarren gedreht wurden, hervor, und die drei setzten sich hinter den Ladentisch, wo Tom von den Rennen in Juarez, von Taft, Zigarrenbauchbinden und Juden plapperte. Morton wurde dazu angeregt, die alles andere als neue Geschichte von dem Richter und dem Farbigen zu erzählen. Er war sehr lustig, lachte viel und rief häufig: »Ah Donnerwetter!« Aber er sah immer wieder auf die Uhr an der Wand. Um zehn Uhr stand er verlegen auf, zauderte einen Augenblick und murmelte: »Jetzt muß ich aber nach Hause.«
Mr. Wrenn: »Aber, Morty! So früh?«
Tom: »Warum denn so eilig?«
»Ich muß bis nach Jersey City rüber.« Morton sprach sehr herzlich, aber keineswegs überzeugend.
»Hören Sie – äh – Morton«, sagte Tom mit strahlend freundlicher Miene, »am nächsten Montag kommt Wrenn zu mir in die Pension zum Abendessen. S wär nett, wenn Sie auch mit dabei sein könnten. Ist sehr nett da – Mrs. Arty – das ist die Wirtin – ist wirklich wunderbar. S wird bald n Zimmer frei werden – vielleicht könntet ihr beide das nehmen, wie wär das? Sie dürfen nicht glauben, daß ich da irgend was dran verdien. Aber wir tun für Mrs. Arty gern alles, was wir – –«
»Nein, nein!« sagte Morton. »Tut mir leid. Kann ich nicht machen. Ich wohn bei meinem Schwager – das kostet mich nur halb so viel, als ich sonst anlegen müßte – – Ich muß nämlich für ne ordentliche große Reise Geld sparen. Ich will direkt nach Petersburg fahren … Aber heut abend wars sehr nett.«
»Fein. Großartige Sache das, wie ihr da auf dem Viehdampfer wart«, erklärte Tom. Morton bemerkte noch rasch ein wenig kritisch:
»Ihr unternehmt wohl allerhand? Ich kann mir das nicht leisten … Na, gute Nacht. Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Mr. Poppins. Gute Nacht, alter Wr – –«
»Gehst du zur Fähre? Nach Jersey? Ich bring dich noch hin«, sagte Mr. Wrenn.
Sie redeten nicht viel, und für Mr. Wrenn war der Weg sehr traurig. Er sah, wie Morton (voraussichtlich) die großen Reisen machte, die er einst geplant hatte. Er merkte, daß er, während er neue Freunde gewann, die ganze wilde Abenteuerlustigkeit Bill Wrenns verlor. Und er nahm Abschied von seinem ersten Freund.
An der Fähre sagte Morton: »Also, auf Wiedersehen, alter Junge«, mit einer Zärtlichkeit, die den endgültigen Abschied bedeutete.
Mr. Wrenn floh zurück zu Tom Poppins' Laden. Auf dem Weg konstatierte er zu seinem Entsetzen, daß es eine Erlösung für ihn war, sich von Morton getrennt zu haben. Der Laden war schon geschlossen.
Zu Hause erwartete ihn Mrs. Zapp wegen der Miete (die um einen Tag überfällig war) und er war sehr kurz angebunden. Damit rettete er sich davor, in der Einsamkeit seines Zimmers allzu unglücklich zu werden.
Das Gespenst Mortons war den ganzen nächsten Tag um ihn, bis er nach Hause kam und zu seiner Überraschung einen Brief aus Paris vorfand, auf dessen grauem, ausländisch aussehendem Couvert er Istras Schrift erkannte.
Er schob die Wonne des Brieflesens hinaus, bis er sich die Zähne geputzt, die Pantoffeln angezogen und die Kissen des Schaukelstuhls zurechtgelegt hatte. Atemlos in der Erwartung der kommenden Freude starrte er zum Fenster hinaus und sah eine riesige, wunderbare Istra vor sich, die lachende Istra vom Frühstück am Lagerfeuer. Er seufzte froh und glücklich auf und las:
»Liebes Mäuschen, nur ein ganz kurzes Wort, damit Sie wissen, daß ich Sie nicht vergessen habe und mich sehr, sehr mit Ihren Briefen freue. Von hier ist nicht viel zu schreiben. Ich bin sehr beschäftigt, mit Arbeit und mit albernen Gesellschaften. Sie sind wirklich eine liebe, gute Seele und hoffentlich schreiben Sie mir weiter. In aller Eile
I. N.
Das nächste Mal einen längeren Brief.«
Er war zu rasch beim Ende angelangt. Istra war wieder fort.