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Das Internationale und Atlantic Stellenvermittlungsbüro ist ein lang gestrecktes schmutziges Zimmer. Seine Wände sind von Mörtelrissen durchzogen, die den Linien auf einer Landkarte gleichen, und geschmückt mit Schiffsprospekten und Auszügen aus den Verordnungen der Stadt New York für Stellenvermittlungsbüros. All das findet der Besitzer, M. Baraieff, überaus komisch. Er ist ein kleiner, zierlich gewachsener Mann mit unangenehmem schwarzem Bart, zeichnet sich durch muntere Umgangsformen und die Fähigkeit, unvorstellbar rasch zu sprechen, aus und ist in den Fehlern und Verstümmlungen ganzer neun Sprachen perfekt. Mr. Wrenn betrat diesen Misthaufen aller möglichen Nationalitäten mit neugieriger Verblüffung. M. Baraieff rieb sich die glatten, verschwitzten Hände und verbeugte sich viele Male.
Sich zutraulich über die Theke lehnend, murmelte Mr. Wrenn: »Ich hab Ihr Inserat wegen Viehwärtern gelesen. Ich möcht einen Ausflug nach Europa machen. Wie – –?«
»Ja, ja, ja, ja, Mistär. Ich färtjige Sie gleich ab. Zehn Dollar, bihte.«
»Ja, und wozu berechtigt mich das?«
»Ich sage Injen, ich färtjige Sie gleich ab. Ha! Ha! Ich mich auskänne; Sie sind Gentlemann, Sie wollen hibsche kleine Ausflug nach Eiropa machen. Freilich. Ich färtjige Sie ab. Ich gähbe Sie hibsches kleines Viehdampfer, wo gar njicht schwäre Arbeit. Gleich los gäht. Zehn Dollar, bihte.«
»Aber wann fährt das Schiff? Von wo fährt es ab?« Mr. Wrenn war ein wenig verwirrt. Er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so höflich und so rasch grimassieren konnte.
»Nägster Donnerstag ich abschihke Sie gleich.«
Mr. Wrenn tauschte mit wehmütiger Miene zehn Dollar gegen eine Karte ein, die Trubiggs, Atlantic Avenue, Boston, informierte, Mr. »Ren« sei »mit 1. mögl. Fi-Boht abzufärtigen. Mein Kto. belasten. Prov. bezallt. Baraieff.«
M. Baraieff erklärte strahlend: »Ich Injen gähbe feines Schihf« und schrieb noch an den Rand der Karte: »Bästes Schihf leichte Arrbeit.« Er zwitscherte: »Nägster Dienstag frih kohmen« und komplimentierte Mr. Wrenn hinaus wie ein Pariser Geschäftsmann. Die Reihe der wartenden Dienstmädchen knickste wie eine Hecke, die sich unter einem Windstoß beugt, während Mr. Wrenn sich beeilte, an ihnen vorüberzukommen.
Er war viel zu aufgeregt, um sich über die stille Duldermiene, mit der Mrs. Zapp die Ankündigung seiner Abreise aufnahm, Gedanken zu machen. Daß Theresa ihn auslachte, weil er als Viehwärter fahren wollte, und daß Goaty in der Küche sehr laut bemerkte, daß »kein Mensch außer nem Yankee in nem Viehpferch reisen« würde, hatte lediglich die Wirkung, daß er seine Habseligkeiten umso vergnügter bei einem Spediteur einstellte. Am Dienstagmorgen begab er sich – bekleidet mit Sweater, Tennisschuhen, einem alten Filzhut, Khakihemd und Manchesterhosen, einen zum Bersten mit Kleidungsstücken und Baedekern vollgestopften Koffer schleppend, wohlversehen mit hundertfünfzig Dollar in Schecks der Express Company (in einem Säckchen unter dem Hemd) – eiligst auf den Weg zu Baraieffs Bude. Es war zwar erst halbneun, aber er hatte Angst, zu spät zu kommen.
Bis zwei Uhr mußte er warten, dann wurde er, mit einer Fahrkarte nach Boston und einem Brief für Trubiggs' Heuerkontor ausgerüstet, auf den Kai der Joy Steamship Line geschickt. In dem Brief stand: »Ihberbringer Ren laut beigefaltener Quihtung hat Anspruch auf Ihberfahrt nach England mit Fi-Boht. Mein Kto. belahsten. Sylvestre Baraieff N. Y.«
Als er, sein Köfferchen nicht aus den Augen lassend, auf dem Sturmdeck des Boots des Joy Line stand, summte er sich viele Liedchen vor, die alle mit dem Refrain endeten: »Auf dem Meere, frei, frei, frei. Ich bin frei, frei, frei!« Es war ihm gelungen, sich zu beweisen, daß er nicht befürchten mußte, das Schiff könnte untergehen oder in Brand geraten. Auf jeden Fall wollte er ganz einfach keine Angst haben. Während das Boot den East River hinaufdampfte, sah er die Fabrikgebäude Manhattans in den Strahlen der Nachmittagssonne funkeln und die Westchester-Felder weithin glänzen und leuchten.
Er war nicht ein Passagier mit Luxuskabine, aber er hatte ein Anrecht auf eine der zwölf Kojen in einem Raum unten im Schiffsrumpf. Dort redeten Farmer, die sich die Schuhe ausgezogen hatten, verdrossen durcheinander, und deshalb ging er wieder auf das Deck hinauf. Die Nacht, in der die anderen Passagiere schnarchten, verbrachte er bescheiden auf einem Klappstühlchen, unermüdlich auf das Wasser hinausblickend, in dessen kaltblaues Gewebe Leuchtfeuer und Schiffe, die sie passierten, goldene Fäden einschossen. Gegen Morgen war er müde, und seine Augen brannten, aber das tat seiner Freude über das strahlend herabflutende Licht keinen Abbruch.
Endlich Boston.
Die vorderen Räume des Heuer-Kontors in der Atlantic Avenue bestanden in einem verglasten Zimmerchen. Den Boden bedeckte ein wüstes Durcheinander aus krummen und lahmen Stühlen, aus Prospektstößen, alten Bildern von Cunard-Schiffen, noch älteren Kalendern und Adreßbüchern, die mit Fug Anspruch auf die Bezeichnung Antiquitäten machen konnten. Inmitten dieses Trümmerhaufens balancierte, an einem mächtigen Pittsburger Stumpen rauchend, ein rothaariger, etwa vierzigjähriger Yankee auf einem zurückgekippten Küchenstuhl und las den Bostoner American. Mr. Wrenn lieferte M. Baraieffs Brief ab und blieb wartend stehen; sein Köfferchen gab er nicht erst aus der Hand, weil er jederzeit bereit sein wollte, hinauszueilen und augenblicklich an Bord zu gehen.
Der Heuer-Agent durchflog den Brief und legte dann los:
»Breff ist verdreht. Schickt mir die Leute immer zu früh. Wrenn, Sie hätten direkt zu mir kommen sollen. Was sind Sie erst zu dem Pollacken gelaufen? Jetzt haben Sie die Suppe. Er schickt Sie einen Tag zu spät – oder um paar Tage zu früh. Wenn Sie gestern abend hier gewesen wären, hätte ich Sie auf nem Kahn von der Dominion Line unterbringen können. Jetzt ist alles, was ich hab, ein Leyland-Äppelkahn, der am Sonnabend von Portland ausfährt. Mal sehen; heute ham wir Dienstag. Donnerstag, Freitag – drei Tage werden Sie warten müssen. Und jetzt wollen Sie, daß ich Sie abfertige, was? Gar nicht ausgeschlossen, daß ich Sie erst so in ner Woche von heute ab unterbringen kann, aber Sie würden natürlich lieber schon am Sonnabend mit nem guten Schiff losgondeln, was?«
»O ja; das war mir freilich das Liebste. Ich – –«
»Na, wollen mal probieren. Sie können sich ja selber überzeugen, die Rhedereien lassen nicht jeden Tag n Schiff ab, bloß um Breff nen Gefallen zu tun. Außerdem ham wir jetzt Hochsaison. Ne Menge Studenten wollen mal übern großen Teich springen, und dann sind Kanadier da, die nach England zurück wollen, und Juden, die nach Polen abhauen möchten – wahrscheinlich, um Bomben auf den Zar zu schmeißen. Und ich kann Ihnen sagen, die Juden sind richtig. Die haben nichts dagegen, einem die Zeit und die Mühe zu bezahlen, die man braucht, wenn man sie abfertigt, und drum – –«
Voll Würde erklärte Mr. William Wrenn: »Natürlich wird es mir ein Vergnügen sein, Sie – äh – für Ihre Mühe zu entschädigen.«
»Ich habe mir ja gleich gedacht, daß Sie n Gentleman sind. He, AI! AI!« Ein unterernährter Junge der nur wenige Zähne im Mund hatte und aus seinen schmutzigen Hosen herausgewachsen war, tauchte auf. »Mach nen Stuhl für den Herrn sauber. Stell die Reisetasche da auf meinen Tisch … Nehmen Sie Platz, Mr. Wrenn. Sehen Sie, die Sache ist so: ich werde Ihnen das Ganze mal vertraulich auseinandersetzen, verstehen Sie. Der Brief von Breff ist nicht den Fetzen Papier wert, auf dem er geschrieben ist. Der hat gar kein Recht, Leute für die Viehboote herzuschicken. Das ist meine Sache, verstehen Sie wohl, meine Sache. Ich arbeite direkt mit allen Rhedereien in Boston und Portland. Wenn Sies nicht glauben, brauchen Sie nur ins Zimmer da hinten gehen und einen von den Leuten fragen, die dort warten.«
»Ja, ich verstehe«, antwortete Mr. Wrenn mit einer Miene, als ob ihm nicht ganz wohl wäre, und spielte mit einem alten Kalender Fußball. »Äh – Mr. Trubiggs, nicht wahr?«
»Jawoll. Jawoll, mein Junge. Trubiggs. Na?«
»Sehen Sie, Mr. Trubiggs, ich bezahl Ihnen gern – –«
»Ich will Ihnen genau sagen, wies ist, Mr. Wrenn. Ich bin keiner von den Mauschel-Stellenvermittlern; ich bin Amerikaner; und Amerikanern helf ich auch immer gern. Obwohl Sie nicht direkt zu mir gekommen sind, werd ich Ihre Sache so in die Hand nehmen, wie wenns meine eigene war. Also, Sie wollen schnell auf nem netten Kahn abgefertigt werden, der am nächsten Sonnabend von Portland abfährt, und nicht erst lang warten?«
»O ja, das möcht ich, Mr. Trubiggs.«
»Na, meine Liste ist wirklich voll – die Leute warten auch schon – aber wenn die Sache Ihnen fünf Dingerchen wert ist – –«
»Da sind die fünf Dollar.«
Der Heuer-Agent war angeekelt. Aus Mr. Wrenns billigem Sweater und Tennisschuhen hatte er geschlossen, er werde ihm vielleicht drei oder vier Dollar abquetschen können, und jetzt mußte er merken, daß zehn Dollar herauszuholen gewesen wären. In mehr traurigem als ärgerlichem Ton sagte er:
»Natürlich ist Ihnen klar, das mirs, wo Sie so spät kommen, gehörig viel Mühe machen kann, Sie schon aufs nächste Boot zu bringen. Türlich krieg ich für gewöhnlich mehr als fünf Dollar.« Er spielte verächtlich mit dem Geldschein auf dem Schreibtisch herum. »Wenn Sie wollen, daß ich den Agenten ne Kleinigkeit extra zukommen laß – –«
Mr. Wrenn hatte zu heftige Kopfschmerzen, um seiner Schüchternheit zu unterliegen. »Lassen Sie mal sehen, hab ich Ihnen nur fünf Dollar gegeben?« Als er den Schein wieder in der Hand hatte, faltete er ihn sorgfältig zusammen, verstaute ihn in seiner Hemdtasche und erklärte:
»So. Sie haben mir gesagt, für fünf Dollar fertigen Sie mich ab. Außerdem ist der Brief von Baraieff ein Formular, auf dem Ihr Name gedruckt steht; ich weiß also ganz genau, daß Sie regulär mit ihm arbeiten. Wenn Ihnen fünf Dollar nicht genug sind, dann können Sie von mir aus zum Teufel und seiner Großmutter gehen, Mr. Trubiggs; jawohl, und zwar sofort. Ich habs jetzt schon satt, mich zum Narren halten zu lassen. Wenn Sie mit fünf zufrieden sind, kriegen Sie den Schein am Freitag wieder, in dem Augenblick, wo Sie mich nach Portland schicken – wenn Sie quittieren. So!« Er schrie fast, so müde und mutlos war er.
Trubiggs nun war ein Gauner mit Ehre, und außerdem war er immer gern mit einem Menschen zusammen, dem er den, wie er meinte, Ehrentitel »Weißer« geben konnte. Er lachte, schob Mr. Wrenn einen Pittsburger Stumpen hinüber und erklärte sich einverstanden:
»Schön. Ich werd alles erledigen. Stecken Sie an. Zahlen Sie mir die fünf Dinger am Freitag, oder geben Sie sie meinem Aufseher, wenn er Sie aufs Schiff bringt. Sie könnens machen, wie Sie wollen. Sie sind richtig. Sie kann man nicht reinlegen, was?«
Und um Mr. Wrenn weiter hereinzulegen, schlug er ihm für die beiden Nächte, die er in Boston verbringen mußte, ein Logierhaus vor. »Sagen Sie dem Portier dort, daß der rothaarige Trubiggs Sie schickt, und dann werden Sie das beste Zimmer im Haus kriegen. Sagen Sie ihm, Sie sind ein Freund von mir.«
Als Mr. Wrenn gegangen war, telephonierte Mr. Trubiggs mit seinem Bundesgenossen: »Noch son Kaffer kommt, Blaugeld. Daß Sie nicht probieren, mich um meinen Anteil zu behumbsen, sonst zahl ichs Ihnen bei der nächsten Gelegenheit heim, verstanden? Was? Ja, drehen Sie ihm n Fünfundzwanzig-Cent-Bett an. Wiedersehen.«
Die Karawane von Trubiggs Viehwärtern, die am Freitag mit dem Nachtschiff nach Portland abfuhr, stand unter der Führung eines breitschultrigen Boss', der keinen Rock anhatte und seine Manchesterweste vergnügt offen trug. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen – Juden mit kleinen Holzköfferchen, großen Kunstledertaschen und den verschiedensten Bündeln, mit Prophetenbärten gezierte müde Männer in abgeschabten Arbeitskleidern und verbeulten steifen Hüten.
Engländer waren da mit Kisten aus Kiefernholz, die mit dicken Seilen verschnürt waren. Ein Amerikaner mit einem wüsten Mundwerk, der behauptete, ein arbeitsloser Hutmacher zu sein, ein ununterbrochen herumbrüllender Raufbold namens Pete und eine Schar von Landstreichern.
Der Boss zählte sein Trüpplein und suchte sich für die Überfahrt nach Portland seine Vertrauensleute aus – Mr. Wrenn und einen jungen Burschen namens Morton.
Morton war ein untersetzter, kräftiger Mann mit plumpen Händen, der höchst zuverlässig aussah, aber immer vergnügt und freundlich dreinblickte. Stets hatte er eine Pfeife im Mund und blies kunstvoll den Rauch durch die Nase.
Mr. Wrenn und er lächelten einander unsicher zu, als das Portlandboot ausgefahren war und ein frischer Wind aus unbekannten Ländern wehte.
Nach dem Essen knüpfte Morton, der an der Reeling des Dampfers seine Pfeife rauchte – ein Ding, das ein bißchen wie eine Golfkelle und ein bißchen wie eine Kröte aussah – die Beziehungen mit Mr. Wrenn an.
»Feine Auswahl von Viehwärtern, mit der wir da zusammen sind, was? … Morton heiß ich.«
»Freut mich kolossal, Sie kennen zu lernen, Mr. Morton. Wrenn ist mein Name.«
»Sie sind auch froh, daß Sie endlich unterwegs sind, nicht wahr?«
»Herrgott, und ob!«
»Na, ich auch. Jahrelang wart ich schon drauf. Ich bin im Büro der Pennsylvania Eisenbahn, N. Y.«
»Ich komm auch aus New York.«
»So? Lange dort gelebt?«
»Öh – öh, ich – –« begann Mr. Wrenn.
»Also, ich hab jetzt sieben Jahre für die Penn. gearbeitet. Drei Monate Urlaub hab ich. Auf meine Kosten. Jetzt kann ich endlich bißchen reisen. Zehn Dollar hab ich und ne Rückfahrkarte zweiter von Glasgow. Aber trotzdem werd ich mir England und Frankreich ansehen, und Deutschland wahrscheinlich auch.«
»Zweiter? Warum fahren Sie nicht Zwischendeck, um zu sparen?«
»Ach, zurückkommen muß ich wien Gentleman. Sie verstehen. Sie sind doch auch aus New York?«
»Ja, ich bin bei der Kunstartikel-Gesellschaft in der Achtundzwanzigsten Straße. Ich will auch schon längst auf Reisen gehen … Wie wollen Sies denn mit Ihren zehn Dollar schaffen?«
»Unterwegs arbeiten. Klare Sache. Ich fall immer auf die Füße. Ich bin erst achtundzwanzig, aber, seit ich zwölf war, steh ich immer auf meinen eigenen Beinen, wie der Engländer sagt … Na, und Sie? Wollen Sie rumreisen, oder fahren Sie irgendwo hin?«
»Bloß reisen. Ich bin froh, daß wir uns kennen gelernt haben, Mr. Morton. Ich glaub, die Viehwärter da sind zum größten Teil nicht grade feine Leute. Außer den alten Juden. Die sehen eigentlich tadellos aus. Man muß gleich – ach, wissen Sie – an Propheten und solches Zeugs denken. Sehen Sie doch mal, wie sie da drüben Tee kochen. Das Schiffsessen wird wohl nicht koscher sein. Auf der Fahrt nach Boston hab ich einen beten sehen – ich glaub wenigstens, er hat gebetet – er war in sone Art Shawl gewickelt.«
»So, so! Interessant!«
Mr. Wrenn hatte ganz entschieden das Gefühl, einer von den Herren zu sein, die bei Kipling immer an der Schiffsreeling lehnen und Bemerkungen über fremde Länder austauschen. In weltmännischem Ton sagte er:
»Herrjeh! Sehen Sie mal den Sonnenuntergang an. Ist das nicht großartig!«
»Heiliger Strohsack! Und ob. Mir ist nicht klar, wie jemand, wenn er so was mal gesehen hat, noch an was glauben kann.«
Entsetzt und außer sich über eine derartige Theorie, aber freudig erregt, weil Morton eigene Gedanken zu haben schien, zirpte Mr. Wrenn: »Wirklich, das kann ich durchaus nicht einsehen. Ich kann nicht einsehen, wieso irgend jemand, wenn er sonen Sonnenuntergang gesehen hat, überhaupt noch ungläubig bleiben kann. Ich muß dann an alles mögliches glauben – ich komm dann richtig in Fahrt – ich bild mir dann ein, weiß Gott wo zu sein – auf dem Nil und was weiß ich.«
»Freilich! Das ist es ja grade. Alles ist so friedlich und natürlich! Es ist eben so. Man kann genug zusammenphantasieren, ganz von allein, ohne daß man irgend ne Religion dazu braucht.«
»Ja«, antwortete Mr. Wrenn nachdenklich. »Ich geh kaum mal in die Kirche. Ich geb nicht viel auf die ganzen obergescheiten Predigten, die nicht richtig auf die Sache kommen – das ist nichts für gewöhnliche Menschen. Aber trotzdem geh ich in die St. Patrick-Kathedrale recht gern. Ja, dort wird mir richtig ganz anders – ich hoffe, Mr. Morton, Sie denken nicht, daß ich mich aufspielen möchte.«
»Aber wieso denn. Gar keine Rede. Ich verstehe. Erzählen Sie nur weiter.«
»Wenn ich so durchs Schiff hinunter schau, auf den Altar zu, und die Bogen und alles vor mir hab, dann fang ich richtig zu träumen an. Und die Priester im Ornat – die sehen so – so – ach, ich weiß nicht recht, wie ich sagen soll – sie sehen eben so aus, als wären sie gar nicht mehr richtig auf der Erde.«
»Ja ja, ich weiß. Das ist eben die ästhetische Seite von der Sache. Ästhetisch, wissen Sie – das Schöne dran.«
»Ja, klar, das ist das richtige Wort. Sthetisch, das ist es, Ja, sthetisch. Aber trotzdem, ich hab dann das Gefühl, als wenn ich an alles mögliche glauben täte.«
»Ich will Ihnen sagen, was meiner Ansicht nach geschehen wird«, erklärte Morton strahlend. »Der Sozialismus und die ganzen internationalen Arbeiterverbände, das wird vielleicht noch ne neue Art Religion werden. Ich weiß nicht viel davon, das muß ich zugeben, abers sieht so aus, als obs dazu kommen könnte. Ganz sicher ist doch, daß die alten politischen Parteien nichts weiter sind als richtige Banden – außer dem Namen haben sie eigentlich nichts. Aber diese Genossensache, das ist was Blendendes. Brüderschaft der Menschen – wirkliche Brüderschaft. So stell ich mir Religion vor. Ne Religion, dies gibt, weils sie geben muß, nicht bloß, weil sies immer gegeben hat. Jawoll, ich bin für ne Religion von Leuten, die alle zusammenarbeiten, damit einer dem andern das Leben leichter macht.«
»Freilich!« bemerkte Mr. Wrenn, und sie klopften einander auf die Schultern und freuten sich in gemeinsamer Hoffnung.
»Ich würde ja gern was von dem Sozialismuszeugs wissen«, meinte Mr. Wrenn, während er mit zurückgelegtem Kopf den Sonnenuntergang bewunderte.
»Großartige Sache. Keine Arbeit für irgend nen faulen Bruder, der das Recht, mit einem rumzukommandieren, geerbt hat. Und internationale Brüderschaft, nicht bloß jedes Land für sich. Das ist was ganz Neues.«
»Herrjeh! Das wär wirklich ne großartige Sache«, seufzte Mr. Wrenn.
Er sah die Prozession der Weltbrüderschaft festen Schrittes durch den allmählich verblassenden Sonnenuntergang ziehen; in safranfarbene Gewänder gekleidete Mandarine marschierten neben hellblonden Skandinaviern und trägen Südseeinsulanern – alle Völker sah er, nach denen er sich seit jeher sehnte.
»Aber auf die Sozialisten, die sich an die Straßenecken stellen und geschwollene Reden halten, geb ich nicht so viel«, meinte Morton nachdenklich. »Das sind die Leute, die schreien: ›Wenn du dich nicht auf unsere Weise retten läßt, kannst du zum Teufel gehen! Laß dich nicht mit unorganisierten Führern zur Prosperity ein‹.«
»Klar!«
Morton hatte bald noch einen Gedanken. »Aber, wissen Sie, wir Leute, die wir die ganze Arbeit machen, müssen ja eigentlich wirklich was für uns selber rausholen. Auf die studierten Burschen mit den großen Brillen, die zu uns immer bloß so von oben herunter sind, weil sie meinen, wir sind viel zu dreckig für sie, auf die können wir uns nicht verlassen. Und auf die ganzen Schriftsteller und so weiter auch nicht. Und deshalb muß man eben doch mit den Straßenschreiern zusammengehen.«
»Ja, das stimmt wirklich. Da werden Sie wohl schon recht haben.«
Sie blickten einander an und lachten wieder, neue Freunde, die einer des anderen Seele kennen lernen. Sie tauschten belegte Brote und Ansichten aus. Als die anderen Passagiere schlafen gegangen waren und die Matrosen, die Wache hatten, einsam und verlassen aussahen, erklärten die beiden immer noch schüchtern aber voll Wonne, es sei »doch wirklich merkwürdig«.
Am frühen Morgen, als es feucht und unbehaglich war, wurden die Viehwärter vom Schiff zu einem Speisehaus in Portland geführt. Der Boss, der behaglich seinen Maiskolben rauchte, erzählte Mr. Wrenn und Morton unterwegs recht interessante Dinge.
»Trubiggs ist ein ganz ausgekochter Hund. Laßt euch, wenn ihr mal auf der Merian seid, bloß nicht für dumm kaufen. Die werden euch irgendwohin stecken wollen, wo die Stiere euch auf die Hörner spießen. Der Fraß wird – –«
»Was gibts denn zum Essen?«
»Schiffsmischmasch und Brot. Und Wasser.«
»Was ist Schiffsmischmasch?«
»N Fleischgericht ohne Fleisch. Ja, der Fraß wird hundsmiserabel sein. Trubiggs ist ein ganz Ausgekochter. Aber wo war der Junge, wenn er mich nicht hätte!«
Mr. Wrenn hatte alles Verständnis für Englands Verlangen nach Roastbeef, aber nichtsdestoweniger wollte er sich nicht gern von Stieren aufspießen lassen – was ihm schon vor dem Frühstückskaffee zu drohen schien. Die Straßen waren kalt und leer, und Morton schlief. Als er im Gasthaus auf einem hohen Stuhl an der Fichtenholztheke saß, würgte er mühsam ein Eierbrot herunter, das dick geschnitten, vertrocknet und ganz geschmacklos war. Neben dem finster schweigenden, pfeifengewaltigen Morton wanderte er verloren in Portland umher und kämpfte gegen zwei Ängste an: die Gesellschaft konnte, wer weiß, nicht alle für die Überfahrt brauchen, und er mußte noch warten; und zweitens, wenn wirklich das Unglaubliche geschah, wenn er an Bord kam und nach England ausfuhr, erwiesen die Stiere sich vielleicht als grauenhafte Bestien. Nach angestrengtem Nachdenken kam er zu dem Schluß: »Na! Entweder bringt mich die Langweile um, oder die Stiere spießen mich tot.« Und das kam ihm so gut vor, daß er es unbedingt Morton sagen mußte; sie lachten beide sehr, und um zehn Uhr wurden sie unter großem Lärm auf das Verdeck des D. S. Merian geführt.
Man war noch damit beschäftigt, Vieh einzuladen. Auf den schmutzigen Decks herrschte ein wüstes Durcheinander von Tauwerk und Viehwärtergepäck. Die alten Juden betrachteten mit Grabesmiene die Wüstenei offener Luken und gefährlicher Fallreeps, als prophezeiten sie Unheil und Tod.
Mr. Wrenn aber, der entschlossen neben seinem Köfferchen stand und es bewachte, streichelte mit zärtlichen Blicken den verrosteten Eisenrumpf ihrer Pilgerkarawelle; und als die Merian vom Kai losmachte, ohne daß es zu mehr Abschiedskundgebungen mit Tränen und Taschentücherwinken kam als bei der Abfahrt eines Fährboots, murmelte er:
»Ich bin auf dem Meer, frei, frei, frei! Ich bin frei, frei, frei!«
Und dann staunte er.