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Sechzehntes Kapitel.
Er wird sanft religiös und hoch literarisch

Der Held des Einakters, der an jenem denkwürdigen Dezemberabend in Hammersteins Viktoria Vaudeville-Theater gespielt wurde, war ein wohlhabender junger Bergwerksbesitzer, der sich verkleidete und für den »Bergwerk-Gründungsschwindler« arbeitete, weil er dessen Tochter mit einer Liebe liebte, die das Begriffsvermögen aller überstieg, nur nicht das der Mädchen auf der Galerie. Als die Postbeamten den Schwindler verhaften wollten, rettete der junge Held ihn, indem er ihm ein wirkliches Bergwerk schenkte, und der darauffolgende Kuß der Tochter machte der Spannung ein Ende, mit der Mr. Wrenn und Nelly, Mrs. Arty und Tom dem Stück von der sechsten Balkonreihe aus zugesehen hatten.

Zufrieden aufseufzend rief Nelly: »War das nicht großartig! Ich hab mich ja so aufgeregt! War der junge Mann nicht entzückend?«

»Schrecklich nett«, sagte Mr. Wrenn. »Und herrjeh, war das nicht wunderbar, die Büroszene mit dem Geldschrank und allem anderen – ganz so, als ob man in nem wirklichen Büro war. Aber ich muß sagen, sone Kopierpresse würde man in sonem Büro gar nicht haben; die Gründungsschwindler schicken lauter tadellose Briefe raus; die werden natürlich Durchschläge machen und nicht die Briefe beim Kopieren ganz verschmieren.«

»Weiß Gott, das stimmt!« Und Tom nickte zustimmend und anerkennend mit dem Kopf. Nelly rief: »Das ist wahr; das wird so gemacht«; und Mrs. Arty, die nicht wußte, was eine Kopierpresse ist, sah sehr zufrieden aus und sagte überhaupt nichts.

Während des Films, der dann kam, empfand Mr. Wrenn voll Stolz, daß er ernst genommen wurde, obwohl man ihn erst kaum mehr als einen Monat kannte. Er nutzte seinen Sieg aus, und fragte überaus intelligent: »Mit wem von den beiden Schauspielern war die Heldin eigentlich verheiratet?« und: »Wieviel verdienen wohl die Leute in der Woche, die sowas spielen?« Tom lud sie dann ins Miggleton zu Kaffee und gebackenen Austern ein. Eine Weile schwieg Mr. Wrenn. Als sie aber an einer Ecke über den Damm gingen, eroberte er sich seine Stellung wieder, indem er rief: »Hören Sie, meinen Sie nicht, daß das Stück besser gewesen war, wenn der Schwindler den jungen Bergwerksbesitzer überhaupt nicht ausstehen könnte, und dann, wenn der Junge ihn rettet, klein beigeben müßte?«

»O ja; das wäre wirklich besser!« stimmte Nelly ihm strahlend zu.

»Ja, ich glaub auch«, meinte Tom, Mr. Wrenn auf die Schulter klopfend.

»Ja, paßt mal auf«, sagte Mr. Wrenn, als sie den Broadway, auf dem sich schon die Mengen der Weihnachtseinkäufer drängten, verließen und in die stillere Zweiundvierzigste Straße einbogen, »war das nicht n großartiges Stück: sagen wir, da ist n schrecklich reicher alter Kerl; sagen wir, er ist Eisenbahnpräsident oder so was, versteht ihr? Also, der hat nen Sekretär bei sich im Büro – auf der Bühne, versteht ihr? Die Bühne zeigt sein Büro. Also, die Tochter von dem Kerl – von dem reichen alten Kerl – kommt und erzählt, daß sie mit einem armen Mann verheiratet ist, und seinen Namen wird sie nicht sagen, aber sie will bißchen Geld von ihrem Vater. Wissen Sie, ihr Vater hat sich gedacht, daß er sie mit nem Grafen oder irgendeinem Lord verheiraten will, und er ist so bös wie nur möglich und will gar nichts von ihr hören und beschimpft sie nur ganz wütend, versteht ihr? Natürlich schimpft er nicht richtig grob, aber er ist schrecklich bös; und sie sagt ihm, er hat doch auch ihre Mutter geheiratet, wie er ein ganz armer Mann war; aber er will nichts hören. Dann kommt der Sekretär dazu – ich stell mirs so vor, daß er sich immer son bißchen im Hintergrund hält, verstehen Sie? – und er ist die ganze Zeit der Mann von der Tochter, versteht ihr? Und er sagt dem alten Gauner, daß er ein paar von seinen Papieren – von den Papieren von dem Alten – in die Hände gekriegt hat, die verraten, daß er was Unrechtes getan hat – irgendwas mit dem Geschäft – Rabatte und so Sachen, verstehen Sie, was ich meine? Und der Sekretär will das Zeug den Zeitungen geben, wenn der Alte nicht nachgibt und ihnen verzeiht; und da muß der Präsident den beiden natürlich verzeihen, verstehen Sie?«

»Sie meinen, der Sekretär ist schon die ganze Zeit der Mann von der Tochter, und er hat gehört, was der Präsident da eben gesagt hat?« fragte Nelly atemlos vor Aufregung, vor Miggleton stehen bleibend.

»Ja; er hat alles gehört.«

»Aber, ich finde die Idee einfach ausgezeichnet«, erklärte Nelly, während sie in das Restaurant gingen. Sie war nicht weniger würdevoll und zurückhaltend als sonst, aber sie schien ganz hingerissen vor Freude über seine Genialität zu sein.

»Hören Sie, das ist ne blendende Idee für ein Stück«, rief Tom aus, während er am Tisch galant den Damen die Mäntel abnahm.

»Ja, eine glänzende Idee«, meinte Mrs. Arty.

»Warum schreiben Sie das eigentlich nicht?« fragte Nelly.

»Ach – ich könnt es nicht schreiben!«

»Aber natürlich können Sies, Bill«, erklärte Tom. »Wirklich; Sie müssens schreiben. (Halloh, Ober! Viermal Gebackene und Kaffee!) Sie müssens schreiben. Mensch, das war herrlich; das würde ja einen verflucht – – 'Tschuldigung, die Damen. Da bin ich aber gehörig reingetreten. Sie können nen schönen Haufen Geld damit verdienen.«

Die Wärme, die sie jetzt einhüllte, der Duft der gebackenen Austern, die Melodie »Jedes kleine Mädel« – die auf dem Klavier gespielt wurde – all das bildete den Rahmen für Mr. Wrenns großen Entschluß. Sie blickten einander aufgeregt an. Mr. Wrenn blinzelte geschmeichelt. Tom schlug leicht mit der Hand auf den Tisch und erklärte: »Wissen Sie, in so was kann viel Geld stecken. Ich hab gehört, daß Harry Smith – der schreibt die Texte für diese Operetten – das Geld nur so scheffelt.«

»Mr. Poppins muß Ihnen dabei helfen – er hat so viel Theaterstücke gesehen«, rief Mrs. Arty besorgt.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Mr. Wrenn.

Es war also anscheinend beschlossen, daß er das Stück schreiben sollte. Jetzt beriet man wichtige Einzelheiten. Als Nelly rief: »Ich halte das wirklich für einen wunderbaren Einfall; ich hab ja immer gewußt, daß Sie so viel Phantasie haben«, unterbrach Tom sie, um zu sagen:

»Nein; Sie werdens schreiben, Bill. Ich werd Ihnen natürlich helfen, so gut ich kann … Wissen Sie, was Sie tun müssen: Sie müssen Teddem am Schlafittchen kriegen – der hat so viel Theatererfahrung; der wird Ihnen behilflich sein, daß Sie mit den Impresarios sprechen können. Das wird das Schwerste sein – schreiben werden Sies schon, aber dann müssen Sie auch mit den Leuten vom Fach zusammenkommen können, und Teddem – – Hören Sie, Sie müssens wirklich schreiben, Bill. Das kann viel Geld bringen.«

»Ach, ungeheuer viel!« hauchte Nelly.

»Ich hab von einem gehört«, redete Tom weiter – »Gene Wolf heißt er, glaub ich – der war so pleite, daß er im Bryant Park schlafen mußte, und der hat mit seinem ersten Stück hunderttausend Dollar verdient – oder nein; so wars: er hats ein für allemal um zehntausend verkauft – oder ungefähr so viel wars auf jeden Fall. Das hab ich direkt von einem, der ihn mal kennen gelernt hat.«

»Trotzdem, ein Autor muß eigentlich aufs College gehen und so weiter.« Das klang ganz so, als ob Mr. Wrenn nur darauf wartete, daß dieser Einwurf augenblicklich erledigt würde, was auch geschah:

»Ach, Unsinn!«

Mr. Wrenn delektierte sich an den köstlichen Austern in der braunen Mehlhülle, hörte zu, wie sein Genie gelobt, und er im Lauf einer Viertelstunde dreimal Bill genannt wurde, und war selig. Er verlangte etwas Papier vom Kellner, und während sie zu Viert angeregt darüber diskutierten, was die Tochter des Präsidenten tun müßte, entwarf er auf einem Blatt Papier, das er noch immer auf hebt, ein Personenverzeichnis. Darüber steht: »Miggleton, Filiale Zweiundvierzigste Straße.«

Skizze

Unten ist der Name Nelly in mannigfachen Ausführungen zu lesen.

»Ich denke, ich werd die Heldin Nelly nennen«, meinte er.

Nelly Croubel errötete. Mrs. Arty und Tom sahen einander an. Mr. Wrenn merkte, daß er sich, auf der Höhe seiner gesellschaftlichen Triumphe, eines Taktfehlers schuldig gemacht hatte.

Hastig sagte er: »Ich hab den Namen immer schon gern gehabt. Ich – ich hab ne Tante gehabt, die hat so geheißen.«

»Ach – –« fing Nelly an.

»Sie war so gut zu mir, wie ich klein war«, fügte Mr. Wrenn hinzu und dachte angestrengt darüber nach, ob es in einer derartigen Notlage erlaubt sei, zu lügen.

»Ach, das ist ein schrecklicher Name«, erklärte Nelly. »Warum geben Sie ihr nicht einen wirklich hübschen Namen, wie Hazel – oder – ach – Dolores?«

»Nein, nein; Nelly ist ein eleganter Name – ein eleganter Name.«

Er wanderte in der Zweiundvierzigsten Straße mit Nelly hinter den anderen einher. Wer ihn sah, erblickte in ihm nicht mehr als einen kleinen, anständigen Angestellten, leicht vorgeneigt, mit einem bescheidenen Schnurrbart und mit der Würde, die man gewinnt, wenn man eine enge Welt gut kennt; sein Mantel war für den Winter zu leicht; allzu beflissen wich er den Passanten aus, machte er das hübsche Mädchen an seiner Seite auf schlechte Stellen des Wegs aufmerksam, indem er sie hin und wieder schüchtern am Ellbogen berührte – was ihn so sehr beschäftigte, daß er nicht dazu kam, einen Blick auf seine Umwelt zu werfen. Er war ein ebenso unansehnliches Teilchen des abendlichen Straßenlebens wie irgend einer der vielen Straßenbahnwagen, die durch den nassen Schnee fuhren. Und doch war er ein Ritter, der Kavalier der größten Dame in seinem ganzen Reich; er war ein großer, gesellschaftlich anerkannter Autor, ein Mann, dem große Reichtümer und Macht über die Menschheit winkten!

»Hören Sie, wenn das mit dem Stück klappt, werden wir das großartigste Essen machen, das Sie in ihrem ganzen Leben gesehen haben«, sagte er. »Werden Sie dann mitkommen, Miss Nelly?«

»Selbstverständlich! Oh, Sie dürfen mich nicht übergehen! War ich denn nicht dabei, wie – –«

»Natürlich waren Sie dabei! Ach, wir werden ein richtiges Festessen im Astor haben – Artischocken und Trüffel und alles Mögliche … Würden – würden Sie sich freuen, wenn ich das Stück verkauf?«

»Natürlich würd ich mich freuen, Sie Schaf!«

»Dann würd ich mir das Geschäft kaufen und Rabin zum Direktor machen. Die ganze Kunstartikel-Gesellschaft.«

So kam er darauf, ihr mit sämtlichen Einzelheiten von seiner Arbeit zu erzählen, und die Leichtigkeit, mit der sie all die schwierigen Verhältnisse verstand, überwältigte ihn.

Seine Vorbereitungen zum Schreiben des Stücks waren sehr umfangreich und kunstvoll.

Bis halbein Uhr ging er in Toms Zimmer auf und ab und beriet sich mit ihm darüber, ob er auch Angaben für die Bühnendekoration machen sollte; ab und zu rauchte er in eleganter Pose auf einer Stuhllehne eine Zigarette. Am nächsten Vormittag entwarf er auf vielen halben Bogen Papier zahlreiche Dekorationspläne. Mittags führte er mit Tom ein Telephongespräch über die Frage, ob auf der Bühne ein oder zwei Schreibtische stehen sollten.

Er drückte sich vom Abendessen bei Mrs. Arty und speiste in literarischer Nachdenklichkeit im Armenischen Restaurant – er hatte ja schwierige Probleme zu bewältigen. Er kaufte sich einen Ein-Dollar-Füllhalter, der höchst vornehm aussah und eine sehr schlechte Feder hatte, und einen Karton mit ziemlich großen Papierbogen. Sein literarisches Handwerkzeug zärtlich unter den Arm gepreßt, suchte er vier Vaudeville-Theater auf. Als es elf Uhr war, hatte er drei Einakter und ein Dramolett gesehen.

An der Wohnzimmertür bei Mrs. Arty schlich er leise vorbei.

In seinem Zimmer war es still. Das Lampenlicht auf den zartgrünen Wänden sah ganz genau so aus wie in einer richtigen Schriftstellerbude, dachte er. Glückselig probierte er die Füllfeder aus, indem er die Namen Nelly und William Wrenn auf ein Stück Papier schrieb (das er schuldbewußt in einem Aschenbecher verbrannte); er wusch sich das Gesicht mit Wasser, das er eine Minute lang ablaufen ließ; setzte sich behaglich grunzend an seinen Tisch; ging wieder zurück und wusch sich die Hände, riß sich wütend die bürgerlichen Hemmnisse Rock und Kragen ab; setzte sich wieder; stand auf, um ein Bild gerade zu rücken; nahm die Feder in die Hand; legte sie wieder nieder und blickte vor sich hin, während er an Nelly dachte, die da in seiner nächsten Nähe schlummerte, die köstliche Wange vielleicht ganz weich in den Arm geschmiegt, und ihre weißen Träume – –

Plötzlich schrie er sich an: »Jetzt aber an die Arbeit, verstanden!« Er nahm die Feder und schrieb:

 

DIE MILLIONÄRSTOCHTER

EIN EINAKTIGES DRAMOLETT
VON
WILLIAM WRENN

PERSONEN

John Warrington, Eisenbahnpräsident; ziemlich reich
Nelly Warrington, Mr. Warringtons Tochter
Reginald Thorne, sein Sekretär

 

Er jubelte. Er schrieb so rasch, daß die Feder hängen blieb und kleckste.

 

Dekoration: Ein Büro. Reich eingerichtet. Mr. Warrington und Mr. Thorne sitzen am Schreibtisch. Miss Warrington tritt ein. Sie sagt:

 

Er brach ab. Er dachte nach. Er hielt sich den Kopf. Er ging zum Waschbecken und machte sich das Haar naß. Er legte sich auf das Bett, strampelte mit den Beinen und strich sich nachdenklich und ernsthaft den Schnurrbart. Fünfzig Minuten später stöhnte er entsetzlich und ging zu Bett.

Es hatte ihm durchaus nicht mehr einfallen wollen als: »Ich komme, um dir zu sagen, daß ich verheiratet bin, Papa«, und das klang eben nicht ganz gut; wenigstens nicht als erste Zeile.

Beim Essen am nächsten Abend – es war Sonnabend – machte Tom immer wieder Anspielungen auf »unseren Autor« und bemerkte des öfteren: »Na, ich weiß, wo ein bestimmter Jemand gestern abend war, aber ich werd natürlich nichts verraten. Ja, die Autoren, das sind schon wilde Burschen.«

Mr. Wrenn, der sich sogar von Tim, dem Hutmacher, ganz ruhig hatte aufziehen lassen, wollte »sich von keinem Menschen dumme Witze gefallen lassen – wenn Nelly dabei ist«, und bat um ein Glas Wasser mit dem Gehaben eines Harvard-Privatdozenten, der gezwungen ist, in einer Garküche zu essen und sich vom Koch freundlich auf die Schulter klopfen zu lassen.

Nelly beruhigte ihn. »Mit dem Stück gehts gut, nicht wahr?«

Als er, mit einer zerstreuten Großartigkeit, deren er sich augenblicklich schämte, verkündet hatte, daß er »der Sache schon richtig auf den Leib gerückt« sei, daß er bereits an vier weitere Stücke denke, und mit dem wirklichen Schreiben begonnen habe, blickten ihn alle ehrfurchtsvoll an und stellten die verschiedensten Fragen.

Um halbzehn Uhr des gleichen Abends kämmte und bürstete er sich sorgfältig das Haar, das er sich eineinhalb Stunden lang gerauft hatte, ging zu Nellys Zimmer, klopfte an und sagte: »Ich bins, Wrenn. Darf ich Sie etwas wegen des Stücks fragen?«

»Ein Momentchen«, hörte er sie rufen.

Er wartete, unruhig atmend, mit offenem Mund. Er hatte Nellys Zimmer noch nie gesehen. Sie öffnete die Tür halb, scheu und ängstlich lächelnd, ihren hellblauen Schlafrock am Hals zuhaltend. Das Hellblau bildete einen bescheiden leuchtenden Fleck vor dem weißen Hintergrund des Zimmers – eine weiße Kommode, an der Tanzprogramme und das gelbe Banner der Upton's Grove-Hochschule hingen, ein zierlicher weißer Schaukelstuhl, hellgelbe Matte, weißsilberne Tapeten und ein Schimmer von einem weißen weichen Bettchen.

So viel Reinheit verwirrte ihn sehr, aber er brachte es zuwege, zu sagen:

»Ich bin im ersten Teil des Stücks etwas hängen geblieben, Miss Nelly. Bitte, sagen Sie mir doch, was meinen Sie, wie wird die Heldin ihren Vater nennen? Was wird sie zu ihm sagen? ›Papa‹ oder ›Sir‹, was glauben Sie?«

»Ja – lassen Sie mich mal nachdenken – –«

»Das ist so schrecklich feine Gesellschaft –«

»Ja, das ist richtig. Also, ich glaube, sie müßte ›Sir‹ sagen. Vielleicht – ach, was war das nur, was ich damals in dem Stück in der Musikakademie gehört hab? ›Vater, ich bin zu dir zurückgekehrt!‹«

»Hören Sie, das ist eine wunderbare Zeile! Das muß die Leute gleich im ersten Augenblick in Schuß bringen … Ich hab ja gewußt, daß Sie mir viel helfen werden.«

»Ich bin schrecklich froh, wenn ich Ihnen helfen konnte«, sagte sie ernsthaft; »schrecklich froh, aber – – Gute Nacht – und viel Glück bei der Arbeit. Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Recht vielen Dank, Miss Nelly. Morgen Kirche, vergessen Sie nicht! Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Da es eine wohlbekannte Tatsache ist, daß alle Dramatiker mit Puppentheatern als Modellen arbeiten, demolierte Mr. Wrenn eine schöne Pappschachtel, in der vor kurzem ein Achtundneunzigcent-Wecker gekommen war, und holte sich etwas Leim und drei kleine Korken. Er richtete seine Bühne ein, eine Pillenschachtel und eine Streichholzschachtel wurden auf den Fußboden – der bisher die Seite der Schachtel gewesen war – geklebt, und das waren seine Mahagonischreibtische. In die Korken steckte er Streichhölzer, und siehe, da hatte er drei anmutige Schauspieler – für Korken wenigstens anmutig. Es war etwas zauberhaft Schönes, sie durch Löcher, die in die Hinterwand der Schachtel gebohrt waren, auftreten, zu ihren Schreibtischen gehen und gewaltige, tiefempfundene Reden halten zu lassen, die jedes Publikum zu Tränen rühren mußten; Reden, von denen er außer den Worten alles wußte; von diesem Detail hatte er nach einem halbstündigen Spiel mit seinen Marionetten noch nicht die geringste Ahnung. Als er verzweifelt schlafen ging, hatte er noch geschrieben:

 

Mr. Thorne sagt: Hier sind die Papiere, Sir. Als großer Eisenbahnpräsident müßten Sie – –

 

Alles andere blieb der Zukunft überlassen. Wie zum Kuckuck sollte er dem Publikum beibringen, wie unerhört mächtig sein Präsident war?

 

(Tochter, Miss Nelly, tritt ein)

Miss Nelly: Vater, ich bin zu dir zurückgekehrt, Sir.

Mr. Warrington: Meine Tochter!

Nelly: Vater, ich habe dir etwas zu sagen; etwas – –

 

Das Frühstück bei Mrs. Arty war immer eine herrliche Angelegenheit. Er saß – wie anders als bei den einsamen, unerfreulichen Mahlzeiten in der Schnellimbißstube seiner Zapp-Zeit! – neben einer hübsch gekleideten, nach neunstündigem Schlaf frischen und lebhaften Nelly. So war es an gewöhnlichen Tagen. Aber Sonntag früh – das war das Paradies! Der Petroleumofen glühte und schnurrte wie ein großer Kater; er röstete ihre Beine, während sie sich systematisch mit Toast, Waffeln und Kaffee vollstopften. Nelly und er fühlten sich Tom Poppins stets etwas überlegen; der Gute schlief noch lange, wenn sie sich schon darüber unterhielten, wie schön es sei, nicht ins Büro gehen zu müssen, daß Weihnachten immer näher rücke, und um wieviel besser Upton's Grove und Parthenon doch als New York seien.

An diesem Morgen sollte Mr. Wrenn zum ersten Mal mit Nelly in die Kirche gehen. Sie hatten es schon für den letzten Sonntagvormittag geplant, aber damals war Mr. Wrenn in höchst unreligiöser Wut jammernd zu einem jungen Zahnarzt mit weißem Kittel geeilt, statt mit Nelly fromm zur Kirche zu wandeln.

Zum ersten Mal auch wohnte er seit neun Jahren einem Gottesdienst bei, abgesehen von der Messe, die er im St. Patrick-Dom gehört hatte, aber das galt ihm nicht als Kirchgang, sondern als Kunstgenuß. Er kam sich erschrecklich gebessert vor, auf neue Pfade der Tugend und der guten Vorsätze geführt, und gedachte erbarmungsvoll der einsamen Junggesellen Morton und Dr. phil. Mittyford. Die wissen ja gar nicht, was es einem Menschen bedeutet, mit einem Mädchen wie Miss Nelly in die Kirche zu gehen, dachte er, als er sich nach dem Frühstück noch einmal das Haar bürstete.

Stolz schritt er neben ihr einher und machte etwas Großartiges daraus, als Mitglied einer wohlhabenden und überaus gebadeten Gemeinde in die Kirche zu treten. Er verbeugte sich sogar vor einem nahezu unangenehm gewaschenen und gebürsteten jungen Kirchendiener mit goldgeränderter Brille. Voll Verachtung gedachte er der fernen Tage, da er dem Mann mit den Messingknöpfen im Nickelorion seine Verbeugung gemacht hatte.

Das Innere der Kirche war so behaglich anzusehen wie Sonntagstoast mit Marmelade – in den Gängen rote Teppiche, schimmernde Bänke aus solider Eiche, prächtige gemalte Glasfenster, ein allgemeines höfliches Knarren der besten Miederfischbeine bei den Damen und der steifen Hemdbrüste bei den Herren, und ein Duft von bestem Kölnischwasser und besten Mottenkugeln.

Es fehlten nur noch sechs Tage an Weihnachten. Mr. Wrenns Herz war ein kleiner Garten, und seine Augen wurden feucht; er blickte Nelly zärtlich an, als er die Stechpalmen, den Efeu, den Weihnachtsspruch »Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen« und alles andere sah, was die Wände zwischen den Fenstern schmückte.

Weihnachten – glückliche Heime, Lachen … Seit den Zeiten, da er die Weihnachtsfeier in der Sonntagsschule in Parthenon mitmachte und grell gefärbte Bonbons in kleinen Säckchen bekam, hatte er die Festtage damit gefeiert, daß er sich bei seinen einsamen Weihnachtsmahlzeiten Plumpudding kaufte, in großen, billigen Gasthäusern, wo ihm außer dem Kellner, den er wahrscheinlich zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben sah, kein Mensch »Fröhliche Weihnachten« wünschte.

Aber diesmal – er überraschte sich und Nelly damit, daß er plötzlich die Hand ausstreckte und mit den suchenden Fingerspitzen eines Kindes, das die Ängste der Nacht überwunden hat, ihren Ärmel berührte.

Während der Predigt hatte er einen Einfall. Was war das nur, was Nelly ihm von »Peter Pan« erzählt hatte? Ach ja; dort sagt jemand: »Glaubst du an Märchen?« Ja, wäre es denn nicht einfach großartig, die Millionärstochter zu ihrem Vater sagen zu lassen: »Glaubst du an Liebe?«

»Herrjeh, ich glaub an Liebe!« schmachtete er, als Nelly ahnungslos mit ihrem Arm den seinen streifte.

Tom Poppins hatte an diesem Nachmittag Horatio Hood Teddem zu einem heißen Toddy bei sich. Horatio sah sehr knabenhaft, sehr vertrauensselig aus und borgte sich fast mühelos fünf Dollar von Mr. Wrenn; so sehr beschäftigte es Mr. Wrenn, von Horatio zu lernen, wie man ein Stück verkauft. Die Adresse des Bühnenvertriebs Wendelbaum & Schirtz zu kennen, war fast schon ebenso viel wert wie die Bekanntschaft mit einem Broadway-Impresario.

Als Horatio gegangen war, machte Tom einen Vorschlag, auf den er in seiner Sonntagsmittag-Stunde im Zigarrenladen gekommen war.

»Warum sollen wir nicht zu dritt – sagen wir, ich und Sie und Mrs. Arty das Stück sprechen, genau so, als ob wirs spielen würden?«

Begeistert überredete er Mr. Wrenn dazu. Er polterte die Stiege hinunter und holte Mrs. Arty herauf. Er lief im Zimmer umher und brüllte Anweisungen. Er machte seine Kommode zu dem Schreibtisch des Eisenbahnpräsidenten, einen Tisch zu dem des Sekretärs und verwandelte nach etlichem Nachdenken und vielem Kinnreiben seinen grünen Lehnstuhl in einen Geldschrank.

Das Stück begann. Mr. T. Poppins in der Rolle des Präsidenten trat, eine strenge, erhabene Miene auf seinem Gesicht, ein, warf Wrenn, seinem Sekretär, ein »Guten Morgen, Thorne« zu und legte die Handschuhe ab. (Das mit den Handschuhen notierte Mr. Wrenn; das war ein Schlager.)

Mr. Wrenn näherte sich schüchtern, mit ausdruckslosem Gesicht, damit Mrs. Arty ihn nicht auslache. »Hier – –

Sagen Sie, was meinen Sie, wie könnt der Sekretär den Leuten unten am besten zu verstehen geben, daß der andere der Präsident ist? Wie war denn das: ›Der Eisenbahnvizepräsident läßt Sie bitten, Sir, daß Sie als Präsident diese Papiere unterzeichnen.‹«

»Großartig!« rief Mrs. Arty, die, das Atlaskleid sorgfältig über den schwellenden Knien glatt gezogen, in dem eichenen Schaukelstuhl saß wie ein heiteres Bronzemonument der Sonntagsfeierlichkeit. »Aber meinen Sie nicht, daß er noch sagen würde: ›Wenn es Ihnen recht ist, Sir‹?«

»Herrjeh, das ist blendend!«

Das Stück hatte begonnen.

Es endete um sieben. Mr. Wrenn gönnte sich nur fünfzehn Minuten für das Sonntagsabendessen, dann schrieb er bis ein Uhr morgens und hatte den ersten Entwurf seines Manuskripts fertig.

Die Überarbeitung war etwas Köstliches, denn sie machte viele Konferenzen mit Nelly nötig, bei denen man am Tisch im Wohnzimmer saß und vertraulich die Schultern zusammensteckte. Die Bekanntschaft gewann auch dadurch an Intimität, daß Tom Mr. Wrenn, Nelly und Mrs. Arty zu dem großen Weihnachtsball der Zigarrenhersteller-Union in der Melpomene Hall eingeladen hatte. Nelly fragte nicht nur Mrs. Arty, sondern auch Mr. Wrenn ganz aufgeregt, ob sie ihr neues weißes Kaschmir oder das ältere rosenfarbige Chinaseidene anziehen sollte.

Zwei Tage vor Weihnachten übergab er einer hochmütigen Stenotypistin, die wie Lee Theresa Zapp aussah, sein Stück schüchtern zum Abschreiben. Als er sie bat, mit dem Manuskript sorgfältig umzugehen, gähnte sie. Das herrlich rosa eingebundene Schreibmaschinenmanuskript wurde am Heiligen Abend um sechs Uhr fünfzehn nachmittags an den Bühnenvertrieb Wendelbaum & Schirtz abgeschickt.

 

Sie gingen zu viert über die Sechste Avenue zum Zigarrenherstellerball. Die Mengen der Weihnachtseinkäufer zwangen sie dazu, im Gänsemarsch zu gehen, und oft blieben sie vor den herrlichen Verkaufsbuden mit Silberhaar und Teddybären stehen. Sie alle mußten laut lachen, als Tom Poppins sich plötzlich ein rosa Püppchen kaufte und an seinen karierten Mantel steckte. Sie redeten einander ein, daß sie vor Kälte zitterten, und tranken in einem Warenhaus heiße Schokolade.

Hier geschah es, daß Nelly Mr. Wrenn die hellblaue Krawatte zurecht zog. Ihr Haar hatte den Duft, den er seit einiger Zeit als den ihren kannte. Ihr weißes Pelzwerk rieb sich an seinem Winterrock.

Die Zigarrenhersteller, von denen sieben im Frack und zwei im Smoking erschienen waren, tanzten bereits auf dem gewachsten Boden des Melpomenesaals. Auf dem Podium unter dem roten Stuckbalkon trommelte und blies und fiedelte ein großes Orchester lustig drauf los, und an dem Buffet hinter dem Balkon gab es Bier und allerlei andere Getränke.

Mr. Wrenn strich verlegen an großen Gruppen hübscher Mädchen vorbei. Jetzt, da er die Galoschen abgelegt hatte und über den schlüpfrigen Boden ging, kam er sich in seinen neuen, auf Hochglanz polierten Abendschuhen sehr leicht und unsicher vor. Er gab sich verzweifelt Mühe, sein Taschentuch nicht zu auffällig zu benutzen, obwohl er erkältet war.

Erst bei der Wahl der Partner für den nächsten Tanz, als Tom Poppins sich mit tänzelnden Füßen und schwingenden Armen neben Nelly stellte, wurde es Mr. Wrenn völlig klar, daß er nicht tanzen konnte.

Vor einer Woche hatte er den anderen so ganz nebenbei gesagt, daß er nur die einfachen Tänze kenne, die er als Junge in Parthenon gelernt habe; aber man hatte ihn beruhigt: »Ach, machen Sie sich keine Sorgen – auf dem Ball werden wir Ihnen schon das Tanzen beibringen – dort wirds ja nicht steif sein. Außerdem werden wir Sie ein bißchen unterrichten, bevor wir hingehen.« Das Schreiben des Stücks und die Fünfhundert-Partien hatten den Unterricht verhindert. So saß er nun, als ein Twostep begann, entsetzt da und sah zu, wie ungezählte Scharen heiterer junger Leute und Mädchen die schwierigsten Tänze vollführten und mit einer Sicherheit, deren er sich entschieden nicht mächtig fühlte, aneinander vorbeikamen. Die Musik machte ihn ganz sentimental und ließ ihn große Sehnsucht nach Nelly empfinden, die doch nur durch die Breite des Saals von ihm getrennt war.

Bald stellte Tom Poppins Nelly einen lustigen Zigarrenverkäufer vor, der sie wieder mit drei Kavalieren im Frack bekannt machte, während Tom Mrs. Arty engagierte. Mr. Wrenn saß unter Menschen, die nicht das geringste Interesse für seinen Kummer hatten, blickte finster in den Saal und wäre am liebsten davongelaufen. Nelly kam mit Männern, die schwarze Schnurrbarte und Westen mit Perlknöpfen hatten, strahlend und lachend zu ihm und stellte ihn vor, aber er warf einen unfreundlichen Blick auf die jungen Leute, und immer wieder wurde sie zum Tanzen fortgeholt.

Sie entdeckte ein Mauerblümchen aus Yonkers und stellte es Mr. Wrenn vor; er sprach mit ihr verdrossen über Dinge, von denen sie noch nie gehört hatte, während er zusah, wie Nelly Walzer tanzte und ihrem Partner zulächelte. Bald schwiegen die beiden. Das Mauerblümchen murmelte eine Entschuldigung und ging zu ihrer Mama aus Yonkers zurück.

Mr. Wrenn saß unglücklich da, er haßte seine Freunde, weil sie ihn hergebracht hatten, haßte die Lieblichkeit Nelly Croubels und sagte sich: »Ach – natürlich – sie tanzt mit allen anderen – ich bin selbstverständlich nur der arme Esel, mit dem sie redet, wenn sie müde ist und aufgemuntert werden will.«

Als Tom kam und ihm einen neuen Witz erzählte, den er eben am Buffet gehört hatte, gab er keine Antwort.

Einmal setzte Nelly sich zu ihm und redete ihm unermüdlich zu, er solle mit ihr einen Versuch machen, das Tanzen zu lernen. Er wurde ganz glücklich, erklärte aber schüchtern: »O nein, ich glaub, ich werds lieber lassen.« Gerade in diesem Augenblick kam der Zigarrenverkäufer mit dem schwärzesten Schnurrbart und der elegantesten Weste sie um einen Tanz bitten, und da war sie auch schon fort, hatte bloß noch gesagt: »Jetzt nehmen Sie sich aber zusammen. Ich werde Sie zwingen, daß Sie mit mir tanzen.«

In der Pause sah er sie mit dem ekelhaften Zigarrenverkäufer durch den Saal gehen, schlank in ihrem enganliegenden hübschen weißen Kaschmirkleid, sich fächelnd und glückselig plaudernd. Sie setzte sich neben ihn. Er sagte kein Wort; er starrte noch immer auf den spiegelnden Boden hinaus. Sie warf ihm einige Male einen neugierigen Blick zu und klopfte ganz leise mit dem Fächer auf den Stuhl.

Sie seufzte ein wenig. Vorsichtig, ganz wie nebenbei, fragte sie: »Wollen Sie mich nicht ans Buffet führen, Mr. Wrenn?«

»Ja natürlich – um sie ans Buffet zu führen, dazu bin ich grade noch gut genug!« sagte er sich.

Armer Mr. Wrenn; er war in Parthenon nicht oft genug in Gesellschaften gewesen, und in New York noch gar nicht. Er wurde bald vierzig Jahre und erfuhr jetzt zum erstenmal die bösen Nöte und die schwarze Eifersucht des Liebenden … Zu ihr sagte er: »Warum haben Sie sich nicht von dem Kerl mit dem schwarzen Schnurrbart hinführen lassen?« Und immer noch sah er geradeaus vor sich hin.

Ihre Augen wurden ganz groß, und die Tränen kamen ihr. »Aber Billy – –« Mehr antwortete sie nicht.

Er ballte die Hände, um nicht in ein erbärmliches Weinen auszubrechen. Aber er sagte kein Wort.

»Billy, was – –«

Er wandte sich schüchtern zu ihr um; seine Hand berührte sanft die ihre.

»Ach, ich bin eine Bestie«, erklärte er leise mit zitternder Stimme, während alles rings um ihn lustig war und lachte. »Ich habs nicht so gemeint, aber ich war – ich bin mir so blöd vorgekommen – weil ich nicht tanzen kann. Ach, Nelly, es tut mir schrecklich leid. Sie wissen doch, daß ichs nicht so – – Kommen Sie! Gehen wir was essen!«

Während sie am Buffet Gefrorenes, allerlei Backwerk und Hühnerbrötchen aßen, ärgerten sie sich darüber, daß so viele Menschen da waren. Dann kamen Tom und Mrs. Arty. Tom brachte Nelly dazu, daß sie sich ihre erste Zigarette anzündete. Mr. Wrenn bewunderte sie, als sie schüchtern an ihrer Zigarette zog und den Rauch in kleinen Wölkchen wieder ausstieß, aber es machte ihn sehr glücklich, daß sie die Zigarette nach einer Minute fortwarf und erklärte, sie werde nie wieder rauchen und auch noch ihre drei Freunde dazu bringen, daß sie das Rauchen aufgäben, jetzt, da sie wüßte, wie abscheulich und unangenehm es sei.

Mr. Wrenn lockte sie dann fort an einen Tisch, und dort bei dem Ingwerbier sahen diese beiden Kinder in aller Unschuld so offenkundig verliebt aus, daß Mrs. Arty und Tom sich wegstahlen. Nelly ließ einen Tanz aus, den sie einem Zigarrenhersteller versprochen hatte, und ging dann mit Mr. Wrenn fort.

»Fahren wir nicht – ich möcht nach dem Rauch da drin etwas frische Luft schnappen«, sagte sie. »Aber es war doch wirklich herrlich … Gehen wir die Fünfte Avenue hinauf.«

»Schön … Müde, Nelly?«

»Bißchen.«

Er fand, daß ihre Stimme ein wenig kalt klang.

»Nelly – es tut mir so leid – da drin hab ich wirklich keine Gelegenheit gehabt, Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut, daß ich so zu Ihnen geredet hab. Herrjeh! Es war scheußlich von mir – aber mir war – ich konnte nicht tanzen, und da – ach – –«

Keine Antwort.

»Und Sie waren sehr böse?«

»Na, ich fand es wirklich nicht nett von Ihnen – wo ich mir so Mühe gegeben hab, damit Sie sich amüsieren.«

»Ach, Nelly, es tut mir so leid – –«

Seine Stimme klang ganz tragisch. Die Schultern, die er immer, wenn er mit ihr ging, so gerade zu halten suchte, als wären sie in einem Schraubstock, fielen vornüber.

Sie berührte seinen Handschuh. »Ach nicht, Billy; jetzt ist ja alles gut. Ich versteh schon. Vergessen wirs – –«

»Ach, Sie sind viel zu gut zu mir!«

Schweigen.

Als sie die Dreiundzwanzigste Straße überquerten, nahm er ihren Arm. Er drückte ihre Hand. Plötzlich war die ganze Welt jung und schön und wundervoll. Zum erstenmal in seinem Leben ging er so, den Arm eines Mädchens, das er gern hatte, in seinem haltend. Er sah auf ihr billiges weißes Pelzwerk hinunter. Schneeflocken zitterten darauf und verwandelten sich im Licht einer Straßenlaterne in Diamantenstaub; in diesem Licht zeigte sich auch eine ganz kleine Stelle an ihrem Kragen, die sehr sorgfältig ausgebessert war. Und dann erfuhr er, der ein Wanderer in den verlassenen grauen Regionen eines einsamen Männerherzens gewesen war, in einer Millionstelsekunde allen Schmerz und alle Lust der Liebe und das ganze unendliche Sorgen für die Geliebte, das aus einem verbrauchten Buchhalter einen Mann macht. Anbetend hob er die Augen zu dem Wunder der kahlen Bäume empor, zu dem Metropolitan-Turm, hoch in den rötlichen Winterhimmel der Großstadt hinaufragte. Alle Wunder kannte er und sang er. Was er sagte, war jedoch nur:

»Herrjeh, die Bäume da sehen doch wirklich aus wie n richtiges Gemälde! … Nicht?«

»Ja, es ist sehr hübsch«, antwortete sie unsicher, aber mit einem Druck auf seinen Arm.

Dann schwatzten sie darauf los, planten, daß er einen Immergrünzweig für Weihnachten kaufen solle, den sie dann morgens beim Frühstück einschmuggeln würde. Und das neue Glück, das in den Schmerzen ihres Mißverständnisses geboren war, beseligte alle Worte.

Am 10. Januar wurde das Manuskript »Die Millionärstochter« von dem Bühnenvertrieb Wendelbaum & Schirtz mit folgendem Begleitbrief zurückgesandt:

 

»SEHR GEEHRTER HERR, zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, daß Ihr Stück uns nicht verwendbar erscheint. Sie finden in der Anlage das Referat unseres Lektors. Gleichzeitig legen wir eine Liquidation über zehn Dollar Lesehonorar bei, um deren baldgefällige Erledigung wir ersuchen.«

 

Es war kurz vor dem Abendessen, er stand in der Diele vor dem Speisezimmer. Nachdem er den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, öffnete er langsam das Referat, das folgenden Wortlaut hatte:

 

›Millionärstochter‹

Einaktige Kom. Völlig unmgl. Unvorstellbar dilettantisch. Dialog liest sich wie eine Burleske von Laura Jean Libbey. Zurückschicken.«

 

Nelly kam herunter. Er reichte ihr Brief und Referat und gab sich Mühe, nicht allzu niedergeschlagen auszusehen. Sie las beides. Dann nahm sie seine Hand. Er ging rasch ins Speisezimmer und las bei Tisch den Brief – aber nicht das Referat – vor. Bevor er schlafen ging, verbrannte er das Manuskript seines Stücks. Am nächsten Vormittag ging er mit einem Eifer wie noch nie zuvor ins Büro. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er jetzt immer bei seiner Arbeit bleiben würde. Aber hundertmal im Laufe des Tages dachte er an Nelly und hoffte, daß er es einmal, in irgendeiner Frühlingsnacht bei Mondschein, wagen würde, daß er den Mut zu dem ganz großen Abenteuer haben und sie küssen würde. Istra – – Theoretisch war sie in seiner Erinnerung ein großes Erlebnis. Aber was für nebelhafte Dinge sind Theorien!

 

Der langsame, aber völlig korrekte und zuverlässige Fünfhundert-Spieler Mr. William Wrenn, bekannt unter dem Namen Billy, warf an jenem Abend gegen Ende Februar Miss Proudfoot, mit der er gegen Mrs. Arty und den Reisenden James T. Duncan spielte, einen triumphierenden Blick zu. Er hatte als letzter im entscheidenden Spiel anzusagen. Die anderen warteten respektvoll. Selbstsicher erklärte er »Neun ohne Trumpf«.

»Du guter Gott, Bill!« rief James T. Duncan.

»Ich schaff es auch.«

Und er schaffte es. Als Sieger stand er auf. Ohne jede Verlegenheit, mit aller gesellschaftlichen Glätte der Pension Mrs. Arty ging er zu Mrs. Ebbitt hinüber und fragte: »Wie gehts Mr. Ebbitt heute abend? Plagt ihn der Rheumatismus sehr?« Miss Proudfoot bot ihm ein Pfefferminzplätzchen an, das er mit kritischen Blicken akzeptierte. »Ich glaub, die sind fast ebensogut wie die von Park & Tilford«, erklärte er mit zurückgeworfenem Kopf. »Hören Sie, Dunk, wir wollen jetzt knobeln, wer eine Lage Bier spendiert. Tom muß bald zurück sein – er wird wohl grade den Laden zumachen. Wir müssen was für ihn bereit haben.«

»Gut, Bill«, stimmte James T. Duncan zu.

Mr. Wrenn verlor. Er ging und nahm heimlich statt eines zwei Krüge mit; in dem einen brachte er »Dunkles«, in dem anderen eine Überraschung. Er rief über die Treppe zu Nelly hinauf: »Können Sie runterkommen, Nelly? Ich hab Eiscreamsoda für die Damen!«

Allerdings zeichnete Mr. Wrenn sich nicht aus, als Tom zurückkam und sich mit James T. Duncan über die Vorzüge eines Tom Collins' unterhielt; er dachte, dieser Tom Collins sei ein Mensch, und nicht ein Getränk.

Doch als sie hinaufgingen, sagte Miss Proudfoot zu Nelly: »Mr. Wrenn ist sehr still, aber ich muß sagen, ich halt ihn für einen der nettesten Menschen, die in den letzten Jahren hier im Haus waren. Und er ist so ernst. Außerdem glaub ich, daß er, ganz abgesehen vom Fünfhundert, ein guter Whistspieler werden wird.«

»Ja«, antwortete Nelly.

»Anfangs war er ein bißchen schüchtern, glaub ich … Ich war auch immer schüchtern … Aber er hat uns gern, und ich hab Menschen gern, die Menschen gern haben.«

»Ja!« rief Nelly.


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