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Erstes Kapitel

»Ach wat, dumm Tüg, lat mi tofreden. Ick kann ja nix dabi dahn,« klang eine tiefe Stimme aus dem Nebenzimmer. Dann öffnete sich die Thür, und ein starker, roh aussehender Mann trat in den Schenkraum. Ohne sich um den einzigen Zecher, der hinter einem Glase Grog saß, zu bekümmern, ging der Wirt eilig ans Fenster: »Wat's dat; kiek an, de Baron. Hett he all wedder 'n Dirn in Schierhagen?« fragte der Gast. »Nä, he is ja verheiratet,« erwiderte der Wirt. »Un levt ni glückli,« ergänzte der Andre. Im selben Augenblick jagte Baron Breide von Hummelsbüttel an den Fenstern vorbei. Im kleinen Jagdwagen, ohne Kutscher und Diener, saß Breide in der Mitte des Bockes und führte das Viergespann. Die Goldfüchse, mit ungarischem Geschirr behangen, flitzten durch die Sonne. Licht und Schatten lagen auf ihnen, wechselten, spielten bald hier, bald da. Just waren die sechszehn Beine, je acht und acht, zu vieren geworden. Die Mähnen und Hälse nickten, die Silberplättchen zwischen den Ohren funkelten und gleißten in unaufhörlicher Bewegung, die Lederplättchen auf den Stirnen tanzten auf und nieder, schlugen, wurden die Köpfe geworfen, in die Luft. Der Stolz schwebte unsichtbar über und mit den Tieren. Pferde wissen genau, wer sie reitet und fährt. Dem Stümper sind sie unwillig, laß, langweilig, mühlos. So machts der Jagdhund mit dem Jäger.

Das Gefährt war hinter einer Waldecke verschwunden.

»Dat dar wedder wat los is, wet ick genau,« sagte der Wirt; »güstern Abend klock Ölben sus hier 'n Wagen dörch vun de Statschon. Du kannst mi dat glöben, Eggert, he het all wedder wat. De Baron is doch 'n dullen Kerl. S'is doch rein, als künn he keen Rauh finn,« sagte der Grogtrinker.

Unterdessen war Breide Hummelsbüttel vor der Waldkathe Schierhagen angekommen. Ein Greis in bäuerischer Tracht trat barhaupt heraus. »Paß up, Marx,« und damit war der Baron in der Kathe. Eine alte Frau, gekleidet wie sie in Thüringen gehn, ließ sich sehn, und auf ihrem Arm trug sie den zierlichsten kleinen Knaben, der sich ängstlich an ihrer Schulter verbarg, als der Baron ihm wie mit glücklichem Lächeln die Hände entgegenstreckte. Bald aber hatte er das Kind auf seinem Schoß und ließ ihn in seinen Taschen nach Spielzeug und Naschwerk suchen. Die braunen, halb im Schlaf, halb im Leben stehenden Augen hatten Breide wie sein Söhnchen gemeinsam. Und während drinnen immer zärtlicher der Vater sein Kind hätschelte, während sich ihm Thränen in die Augen stahlen: dacht er an ein verloren Glück, an eine Gestorbene, die ihm den kleinen Kerl geschenkt? stand vor der Thür der Alte mit den Pferden. Es war ihm doch nicht so ganz geheuer mit den vier ungeduldig mit den Hufen scharrenden Füchsen. »O ha … ruhig, ruhig, wis du stahn … na, na, na, man nich so hitzig,« sprach er unausgesetzt. Die Rechte hatte in den Zaum des linken Vorderpferdes gegriffen, die andre Hand hob er oft hoch, wenn er fürchtete, daß die Pferde sich nicht länger von ihm bändigen lassen wollten.

* * *

Ist das Henning Hummelsbüttel, der frühere Rittmeister von den dritten Gardedragonern, der in diesem Augenblick auf feinem Gute Bredenfleht in Holstein vor seinem Schreibtisch sitzt? Seine Stirn ruht schwer in der Linken. Ist er Mystiker geworden, quält er sich in faustischer Unzufriedenheit und Unruhe?

Nun nimmt er einen von ihm eben geschriebnen Brief zur Hand, um ihn zu überlesen. Es ist ein Schreiben an Doktor Franz Hirsch, den Verfasser der Geschichte der deutschen Litteratur. Er dankt diesem Herrn darin für die klare, eingehende und liebevolle Darstellung der Entstehung des Pietismus; daß er die edlen, wahrhaft frommen Männer, die aus tiefstem, menschenfreundlichen Herzen gegen die leere, blutlose, alles verdammende lutherische Orthodoxie der damaligen Zeit auftraten, daß er die Spener, Francke, Zinsendorf Deutschland gezeigt hat, wie sie wirklich waren: voll innerster Gottüberzeugung, voll innerster Liebe aber auch zu ihren Mitmenschen.

Aber ist Henning Hummelsbüttel imstande, diese drei Männer zu verstehn; kann er sich hineinlesen und das Echte, Ursprüngliche herauslesen aus dem oft süßlich erscheinenden Zinsendorf? Ist er nicht zu tief vermauert in der lieblosen, kahlen, kalten lutherischen Orthodoxie? Und dann auch: Er hat sich stark eingelassen in den spiritistischen Schwindel seiner Zeit. Gestern erst ist er aus Hamburg zurückgekehrt. Dort hat er in einer »Privat-Séance« einer »Vorstellung« beigewohnt.

Sein Freund Hermann Thurm, der 1871 an der Spitze seiner Schwadron bei Bapaume fiel, ist ihm auf seinen Wunsch erschienen. Auf seine Frage, ob er glücklich lebe, hat ihm Hermann Thurm (der übrigens die Gewogenheit gehabt hat, im Frack und nicht in seiner Kürassieruniform sich zu zeigen) mit unverständlicher, hohler Grabesstimme geantwortet: »Frage mich nicht«. Diese Antwort hat Henning Hummelsbüttel recht sehr mißmutig gemacht.

Sein Schreibtisch ist überfüllt mit religiösen Büchern und Broschüren. Auch eine große goldgeschnittne Bibel ist zu sehen, mit vielen Lesezeichen in ihr in Form von Kreuzen, gestickten Sprüchen, Ankern. Aber auch ausgerissene Zeitungsblätter dienen in dem heiligen Buche als Aufmerksammachungsfinger. Wars ein Zufall, daß auf einem dieser Ausschnitte stand:

Rennen zu Berlin (Hoppegarten), dritter Tag. Rittmeister Graf H. Hummelsbüttel br. St. »Das lustige Gretchen« von Roland a. d. Käthchen, 53 kg. Reiter: Besitzer …

Das lustige Gretchen brach mehrmals weit fort und verursachte dadurch drei falsche Starts. Als dann die Flagge fiel, ging das Feld geschlossen ab. An der Distanz machte sich das lustige Gretchen von den übrigen los und siegte ganz leicht mit drittehalb Längen …

 

Wenn Henning Hummelsbüttel doch nur einmal diesen Zettel wieder angesehen hätte.

Die Thür öffnete sich und der Kammerdiener Lesage trat ein. Lesage war vierzig Jahr alt, trug schwarze, äußerst kurz gehaltene Backenbartstreifen, hatte ein gelbweißes Gesicht, das unverändert wie ein Topf in den Tag guckte. »Es ist alles versammelt,« meldete er. Der Graf erhob sich, gab die große Bibel seinem Kammerdiener und schritt, von diesem begleitet, in eins der größeren Nebenzimmer. Hier saß, in mehreren Reihen, die gesammte Dienerschaft des Herrenhauses und wer sonst aus Stall und Garten noch zum Schlosse gehörte. Alle erhoben sich, als der Graf erschien. Dieser nahm Lesage die Bibel ab, bestieg einen erhöhten Sitz, und das »Lesen« begann. Nach einem kurzen Gebet trug der Rittmeister ein Kapitel aus dem Evangelium Matthäi vor; dann folgte eine Predigt aus einem Andachtsbuch, dann ein Gesang, und endlich schloß das »Lesen« mit einem längern Gebet.

Sommers und Winters war um acht Uhr abends dieses »in sich Versenken zum Schluß des Tages«, wie es Henning nannte. Vor dem Gärtnerlehrling Hans Brinkmann saß das Küchenmädchen Anna Steen. Gar zu gern hätte Hans Brinkmann die hübsche Anna Steen einmal in die prallen Schultern gekniffen, wenn sie beim »Lesen« vor ihm saß. Aber er wußte nur zu wohl, daß ihm das Mädchen nicht gewogen war; und dann auch fürchtete er, daß sie »au« rufen würde. Heute nun konnte er nicht länger widerstehn und kniff sie, behutsam wollt ers ausführen, recht derbe. Anna Steen aber schrie laut: »Au, lat dat sin. Wat schall dat.« Der Graf, der grade die Bibelworte gesprochen hatte: »Selig sind die Sanftmütigen,« zog finster die Augenbrauen zusammen und fragte: »Wer hat eben die Störung veranlaßt?« Das Mädchen erhob sich blutrot: »Hans Brinkmann hett mi knipen …« »Ruhig!« brüllte der Rittmeister, »höre ich noch einmal solche gottlosen Scherze, so ist der Friedensstörer sofort von mir entlassen.«

Nach Schluß der Gebetstunde ging der Graf wieder in sein Zimmer. Lesage erschien gleich darauf und meldete Herrn Kramer. »Ich bitte«. Und der alte achtzigjährige Kramer trat ein. Herr Kramer war seit seinem zehnten Lebensjahr im Schlosse. Seit langer Zeit war er der erste Kammerdiener. Schon dem Großvater des jetzigen Besitzers von Bredenfleht war er beigegeben gewesen. Wie er nun vor Henning Hummelsbüttel stand, konnte er in jeder Faser mit einem überjährigen Gesandten, mit einem alten vornehmen Gelehrten verwechselt werden. Der Orden um den Hals, der Stern auf der Brust hätte die Täuschung vollendet. »Ah,« sagte Henning, der sich erhoben hatte »lieber Kramer. Sie baten mich, bei Ihrem heutigen achtzigjährigen Geburtstage von allem abzusehen, was einer öffentlichen Feier hätte den Anschein geben können. So ist denn dieser Tag wie die andern gegangen. Nicht aber kann ich es mir versagen, Ihnen aus bewegtem Herzen zu danken für alle die Treue und aufopferungsfreudige Hingabe, die Sie in den vielen Jahren meinem Hause bewiesen haben. Sind Sie bisher der erste Kammerdiener dieses Schlosses gewesen, so sind Sie von heut an nur der Freund des Hauses …«

Der alte Kramer konnte vor Rührung nicht sprechen.

»Ich habe Ihnen,« fuhr der Graf fort, »die Türkenmützen« (so hießen zwei Zimmer im Westende des Hauses) »einräumen lassen. Möchten Sie dort Ihre letzten Tage in Ruhe genießen. Gott segne Sie,« und der Graf hob wie zum Segen die Hände und sprach den Schluß wie der Prediger vorm Altare, »Gott segne Sie; der Herr sei mit Ihnen und gebe Ihnen seinen Frieden. Amen.«

Mit bebenden Lippen wollte ihm der alte Herr die Hand küssen. Scheu streiften dabei seine Augen des Rittmeisters Antlitz. War das sein kleiner, lustiger, fröhlicher Henning aus den Kinderjahren?

Der Alte war gegangen. Henning stand am Fenster, das er geöffnet hatte, und sah in das Sternbild der Kassiopeia. Ein sanfter Nachtwind, ein lieber Gruß aus sonnigem Süden, der dem weltabgelegnen kalten Schleswig-Holstein die Ahnung eines Frühlings brachte, strich ihm um die Schläfen.

War das Henning Hummelsbüttel, der elegante Gardedragoner, der noch im letzten Manöver die fremdherrlichen Offiziere geführt hatte: Allerhöchsten Ortes war der Befehl gegeben.

Der blonde Schnurrbart und die frischen Backen waren zwar nicht verschwunden, aber die Augen sahen so klar, so kalt; die Lippenwinkel hingen herbe, sauersüß, wie wirs so oft auf alten Predigerbildern bemerken.

Aber hatten diese Augen jemals anders geschaut? Hatten die Lippenwinkel jemals eine andre Stellung gehabt?

Und manches aus seinem Leben zog ihm vorüber.

Wein und Würfel waren ihm Zeit des Lebens ein Ekel gewesen. Das Weib stand vor ihm unnahbar, verschleiert. Seele und Leib Hennings gingen keusch und kühl ihren Weg, wie die Wintersonne durch den klaren, reinen Tag.

Niemals hatte er mehr gezecht, als er fühlte, daß er imstande war zu vertragen. Ein Betrunkener widerte ihn an von jeher: das Ausplappern, das Verstecken, Verglasen, Vertieren, Heulen, Lallen, Ueberliebkosen, Finsterwerden – wie grauenhaft, traf ers bei seinen Freunden, bei wem immer, die zu tief ins Glas geguckt hatten. Und vollends der turkelnde Gang, der erbitterte Magen mit seinem vor die Thürwerfen der unwillkommenen Gäste – wie abstoßend gegen jede Würde.

Der Würfel, das Spiel überhaupt war ihm verhaßt. In Geldsachen dachte er klug, ruhig. Mit seinem unermeßlichen Vermögen hielt er genau Haus. Ohne geizig zu sein, beroch er, sozusagen, geistig doch jeden Nickel, ehe dieser seinen weitern Rundlauf aus seiner Tasche in die Welt nahm. Henning gehörte zu den Menschen, die ebenso gut mit drei Mark jährlich ausgezeichnet auskommen, wie mit vierhundertsiebzigtausend Mark. Diese Summe in der That konnte Henning als Jahreseinkommen sein nennen. Und dazu verstand er zu rechnen. Ueber Schulden fehlte ihm jedes Verständnis. Schulden zu haben, hielt er schlimmer, als wenn der Unselige Diebstahl und Betrug zugleich begangen hätte …

Und noch immer schauten Hennings Augen in die Kassiopeia. Wie hatte er die Sterne so gern. Sie träufelten ihr Funkellicht so vornehm, so eisig, so höhnisch, so grenzenlos gleichgiltig auf das fliegenschmutzgroße Fleckchen, genannt die Erde. Diese Kälte that ihm wohl.

Ja, den Würfel, die Karte verachtete er, er hielt das Spiel, selbst die unschuldigste kleine »Meine Tante, Deine Tante« für »unmoralisch«, für »sündhaft«; und um so mehr wäre er der Verdammer geworden, als ihm – zum ersten und einzigen Mal hatte er gespielt – vor wenigen Jahren ein kleiner Versuch mißglückte. Und an diesen Abend mußte er jetzt denken:

Er hatte in Berlin im Triddleklub mit einem jungen, höchst orientalisch »aussehenden« türkischen Kavallerieoffizier (dieser gab Gastrolle bei der Botschaft der Hohen Pforte) zusammen gesessen. Der Osmane, ein feiner Pferdekenner, hatte dem Grafen von der heimatlichen Zucht erzählt. Sie hatten sich endlich erhoben und erreichten ein kleines, äußerst behagliches Zimmer, in dem gespielt wurde. Henning, seiner Abneigung folgend, wollte weg. Ein Unerklärliches hatte ihn gehalten … und um drei Uhr morgens saß er einem Attaché der Gesandtschaft einer südamerikanischen Republik im Spiel gegenüber. Wie das gekommen? Quien sabe. Aber es war so. Ungeheure Summen waren zwischen den beiden schon hin- und hergegangen. Nun endlich kam »der letzte Schlag«. Es handelt sich um die Summe von sechshunderttausend Mark. In einer Partie Ekarté sollte sie endgiltig zum Austrag gebracht werden … Stille des unentdeckten Goldklumpens …

Wie deutlich erinnerte er sich: Sein Gegenüber hatte wie ein saugender Vampyr die Lippen geöffnet, die sonst fast ganz von den Lidern bedeckten dunklen »schlafmützigen« Augen blickten starr, eine von dem Attaché an den Rand des Tisches gelegte Cigarette glimmte weiter, den feinen Rauch schornsteingrade in die Luft sendend.

Ein hinter Henning stehender Lord sagte fortwährend leise, nachlässig: »of course"; es klang, als wenn er es mit rauher, belegter Stimme sprach. Ein deutscher Herzog murmelte: »Nein aber … das ist denn doch …« Hinter dem Südamerikaner stand im Halbkreis eine atemlos horchende, starre Gruppe. Unter dieser ein junger Düsseldorfer Maler, der in einer Berlin benachbarten Stadt als Reserve-Husaren-Offizier eine zweiundvierzigtägige Dienstleistung absolvierte und »herüber«gekommen war. In die großen braunen Augen des Malers senkte sich das Bild hinein, und senkte sich langsam – Verzeihung für den überaus geschmacklosen Vergleich – auf einem Fahrstuhl ins Herz, um dort sitzen zu bleiben und wann? wieder emporzutauchen. Dann heißt das Gemälde: »Ein hohes Spiel«, »Verlorene Ehre«, »Sein oder Nichtsein«, oder ähnlich.

Henning sah in dieser Stunde deutlich die ihm damals auf einer Marmorplatte gegenübergestandne kleine Bronzeuhr: ein Atlas trug das Gehäuse. Weshalb wirft der dumme Kerl nicht endlich die unerträgliche Last von sich, hatte er damals gedacht, fort und fort …

Das Spiel war beendet. Henning hatte verloren, sechshunderttausend Mark verloren …

Er entsann sich des unglaublich einfältigen Gesichts des Amerikaners, als dieser nach dem »coup« aufstand und sich mit zitternder Hand eine Cigarette drehte … Um drei ein halb früh hatte sich Henning noch im Palast des Triddleklubs ein Hammelrippchen, wie es Nelson zubereitet liebte (schlankweg deutsch: à la Nelson), bestellt. Während er wartete, hatte er ein vor ihm stehendes feingeschliffnes Rotweinglas immer wieder in die Höhe gehoben und es von allen Seiten betrachtet. Und er war so lange in diese Untersuchung vertieft gewesen, bis er ein gleichmäßiges Ticken an seiner linken Schulter fühlte: das Herz des ihm die Speise überbringenden Dieners schlug ihm so nah: der Gute mochte sich mit Willen ein wenig, trotz seiner tadellosen Erziehung, dem Grafen bemerkbar gemacht haben, als dieser seine Glasbewunderung so unaufhörlich fortsetzte.

Am zweiten Tage erschien der telegraphisch nach Berlin berufene Rechtsbeistand des Rittmeisters, Justizrat Möllwind. Justizrat Möllwind aus Kiel kannte bis ins innerste Mark die Geldangelegenheiten des schleswig-holsteinischen Adels. War das ein wunderbares Männchen, der Justizrat, ein wenig eckig, brummig, aber klug, klug, klug. Außer seinen Liebhabereien für Kanarienvögel und schwersilberne Suppenteller hatte er kein Steckenpferd.

Um fünf Uhr achtzehn Minuten landete der Berliner Zug auf dem Lehrter Bahnhof; um fünf Uhr dreiundvierzig Minuten trippelte der Justizrat ins Zimmer des Rittmeisters: »Ah, Herr Graf … wie Sie wohl aussehn … wissen Sie, daß ich mich erschießen wollte? … Haben Sie übrigens die Ägyptische Königstochter von Ebers gelesen? Sollten Sie thun, sollten Sie thun … ausgezeichnetes, wirklich ausgezeichnetes Buch in Ihrer Stimmung zu lesen. Aber Sie lesen nicht gern, ich weiß es; ganz Deutschland liest nicht gern, und nun gar wir Schleswig-Holsteiner …« (kleine Pause, der Justizrat bleibt auf seinem Hin- und Herlauf stehn, faltet die Hände überm Leibe, sieht über die Brillengläser) … »aber sechshunderttausend Mark, mit vier vom Hundert, sind vierundzwanzigtausend Mark jährlicher Wenigereinnahme … baarer Unsinn … wie heißt der Kerl, wo wohnt er …« (kleine Pause). »Ihr Herr Vater und Sie, Herr Graf, beehrten und beehren mich seit über vierzig Jahren mit Vertrauen. Ich bringe auch diese Angelegenheit ins Reine … aber fünfhunderttausend Mark knüpf ich ab …«

»Halt da, lieber Freund, Ihnen ist bekannt: Spielschulden – Ehrenschulden. Bis morgen Abend sieben Uhr muß alles geordnet sein,« antwortete der Rittmeister.

Und am andern Abend sieben Uhr hatte der Südamerikaner die Summe.

* * *

Henning blickte noch immer in das Sternbild der Kassiopeia. Nun sanken seine Augen auf einen matthellen Schimmer am Himmelsrand im Süden. Dort lag Hamburg. Es war der ganz schwache Widerschein der großen Stadt bei Nacht, der Schein ihrer vielen tausend Lichter. Henning haßte, wie er Berlin haßte, auch Hamburg; alles Große und Großartige lag seiner Seele wie ein sündhafter Greuel vor. Erst vorgestern, als er in der Handelsstadt war, um am Abend seinen bei Bapaume gefallenen Freund Thurm wiederzusehen und von ihm Aufschlüsse über das Leben im Himmel und die Hosiannah singenden geschlechtslosen Körper, haben wollte, war er am Nachmittag über den Jungfernstieg gegangen. Alle Menschen dort schienen ihm Gecken, im Sündenpfuhl Versunkne, und sein nebelfrostiges Herz hatte eine leichte Freude durchtanzt, als er auf dieser Straße einen graubärtigen Jägersmann mit zehn Waldschnepfen an der Tasche erblickte, die dieser wohl einem reichen Kaufherrn von dessen in der Nähe liegenden Besitzung bringen mochte. Ja, noch mehr war ihm begegnet, das ihm wie eine Art Erlösung aus dem Menschenwirrwarr däuchte: ein Pflasterbesprenger traf vor seinen Füßen einen trotzig sitzengebliebnen Sperling, daß der muntere schleunig mit ganz durchnäßtem Körper davonflog. Auch eine langbeinige Spinne hatte er beobachtet, die sich aus einem von dem Wasserspender gehöhlten Teichlein zwischen zwei Kopfsteinen mit großer Schnelligkeit »auf die Socken machte«. Alles war ihm in Hamburg wie die Hölle; nie, wie vorgestern hatte er solche Sehnsucht empfunden nach seiner Bibel, nach seinem Tholuk, in denen er so gerne las. Die Nebelhörner von der Elbe mit ihrem Durcheinander von schrillen, pfeifenden, heulenden Tönen klangen ihm wie Weltuntergangsrufe. Und merkwürdig, plötzlich fielen ihm bei diesem Geräusch die Molochsöfen im alten Karthago ein: wenn der Wind in die langen Schornsteine fuhr und das Gewimmer und Geschrei der hineingeworfnen Kinder übertäubte. Sonderbar, Henning Hummelsbüttel besaß sonst außer in himmlischen Angelegenheiten gar keine Phantasie.

Über sein gleichmäßiges, ruhiges Rittmeistergesicht senkte sich ein tiefer Schatten; die Züge wurden strenger, die Mundwinkel zogen sich tiefer, der ganze Kopf schien scheinbar länger geworden. Und jetzt auch verschleierte sich das braune Auge: es starrte wieder zur Kassiopeia empor: »Herr Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie andere …«

Ein Menschenherz, o, ein Menschenherz, wer je hätte ein Fünkchen nur gewahrt, wie es aus einer Kammer in die andre, aus einem der Millionen Herzenspünktchen in das andre sprang … wer bei sich selbst auch nur hätte bei peinlichster Nachforschung gefunden: ja, wie bin ich denn zu dem Gedanken, zu der Lebensanschauung gekommen … Geheimnisvoll, aus welcher Veranlassung flog das Saatkörnchen von fernstem Himmelsstern, von nächster zollweiter Entfernung uns in die Seele und trieb, vielleicht lange Jahre ungesehn und unbemerkt im Keim, zur Ähre, oft zu so schwerer Ähre, daß sie uns niederwuchtet und wir mit der Stirn die Erde schlagen? Wie war Henning in »die fromme Herde« verschlagen? Ernst und streng gegen sich, in steter Selbstzucht, fleißig, sehr gewissenhaft, hatte er doch auch seine Knabenjahre wie alle andern lustig durchlebt. Hatte einer in der Zeit sich ihn zurückziehn sehn von den Spielen? Hatte er sich in den Übergangsjahren zum Jüngling Träumereien hingegeben? Mit nichten. Hochmüthig, eingebildet auf sein Wissen und seinen Fleiß auf der Gelehrten-Schule in Kiel (als Schleswig-Holsteiner von Hause aus sich als Mustermensch vor der ganzen übrigen Erde fühlend), sah er mit seinem hellen Verstande, mit seiner vortrefflichen Anlage zur »Berechnung« jeder Daseinsform auf seine Mitschüler hinab. Die Eitelkeit hatte ihn früher viel geplagt. Als junger Offizier hatte er zwei Jahre den Alles fressenden Wolf des Ehrgeizes gefüttert. Der übertriebene Ehrgeiz verschlingt auch die letzte Freude am Leben, macht selbstsüchtig bis zum Teufel … Den Freßsack Ehrgeiz aber hatte er bald entlassen. Nach dem Ableben seines Vaters wollte er Bredenfleth übernehmen, bis dahin die hübsche blaue Uniform tragen. Wars Ehrgeiz? … und doch hatte kaum einer zu ihm mehr die Anlagen als Henning.

Und irgendwoher … aus fernstem Himmelsthule, aus zollbreitnächster Nähe war ihm ein Körnchen zugeflogen: Du willst Dich dem Herrn weihen, dann stehst Du ruhig, dann nimmer kann es Dir schlecht gehen … und Henning Hummelsbüttel nahm die Bibel zur Hand und die Andachtsbücher, und mehr und mehr versank er in den trostlosen See der kahlen, kalten protestantischen Orthodoxie. Die Schulen wollte er knechten; alle Menschen sollten das glauben, was er glaubte. Vor der orthodox-evangelischen Geistlichkeit lag er auf den Knieen. Jeden dummen Bauernbengel, der es zum Prediger gebracht hatte, sah er für ein höheres Wesen an. Hätte nicht sein eigner Seelsorger auf Bredenfleth, Pastor Tröster, ein so gar prächtiges, menschlich, klug und richtig denkendes Herz gehabt, das mit vielem Takt die Liebesbewerbung Hennings wegzuschieben wußte – er hätte ihm sein ganzes Vermögen geschenkt, so fanatisch dachte er …

Und von der Kassiopeia abwärts sank sein Auge auf den Himmelsrand nach Westen, und just da, wo im Verschwindenwollen ein großer, roter, böse funkelnder Stern wie das Auge eines Satans stammte – blieb er haften. Und der rote, böse funkelnde Stern stand genau über den Thürmen des Herrenhauses von Wittensee. Und Wittensee, achtzehn Kilometer entfernt von Bredenfleth, gehörte seinem Vetter Breide Hummelsbüttel. Und seinen Vetter Breide Hummelsbüttel haßte er aus ganzer tiefster Seele – den leichtsinnigen verschwendrischen, bald hier bald dort hintastenden, hinhüpfenden Vetter Breide; er haßte ihn. Wenn er ihn lachen sah, stürzte ihm das Blut zum Herzen wie ein schnell schießender Strom.

Ah, Henning, Henning! Nun schaust du anders; nun zeigt sich dein menschlich Gesicht. Weg mit dem schmucken Rittmeister, mit dem finstern Priester. Und er war doch kein Heuchler und Scheinheiliger. Nie und nimmer. Mit seinem Glauben wars ihm bittrer Ernst.

Den roten, böse funkelnden Stern hatte die Erde in sich gesogen. Noch immer starrte Henning nach Westen, wo Wittensee lag. Seine Stirn hatte sich zusammengezogen, und aus seinen Augen wollte sich ein Gewitter befrein. »Heilwig, Heilwig,« stöhnte er … und dann versank er in ein Brüten und Denken.

Heilwig Wensin (Wappen: ein Schlänglein, das sich an einem Stämmchen emporwand und gegen eine Rose, die oben blühte, züngelte) hatte den großen, schlankgewachsenen Vetter Breide ihm, dem zierlichen, mittelgroßen Henning, vorgezogen, den Ulanen dem Dragoner. Und das konnte er nicht verwinden. Er wußte, wie unglücklich Breide und Heilwig lebten. Ein Grauen war es ihm, dachte er an Breides Leben. Kaum ein halbes Jahr hatte der Taumel gedauert, dann hatte Breide sein schönes Weib liegen gelassen wie ein Stück überflüssigen Holzes. Und Heilwig litt darunter, das wußte nicht er allein, das wußte die Welt.

Hennings Herz war rein und keusch. Als Katholik hätte er seinen Rücken blutig gepeitscht im Kampfe mit der Sinnlichkeit. Als guter evangelisch-protestantischer Christ hatte ihm Gebet und fester Wille geholfen. Und er hatte den furchtbaren Kampf bis heute siegreich bestanden. Aber wie er die Zähne hart in sein eigen Fleisch treiben mußte, so war er höhnisch und hart und eisern, sah und hörte er von seinen Mitmenschen die natürliche Sünde. Seine Regimentskameraden hatten ihm den Spitznamen: »Der Kultusminister« gegeben. So scheu und ehrerbietig er vor einem hohen, reinen Weibe stand, so grenzenlos und tief verachtete er ein gefallnes Mädchen, so ekelten ihn schlüpfrige Reden. Es war ihm völlig unbegreiflich, wie es denkbar sei, daß seine Kameraden, daß junge Männer überhaupt mehr oder minder leichte Verbindungen knüpfen konnten.

Er kannte Breides Leben, mit dem er viele Jahre in Berlin, wenn auch nicht im selben Regiment, gewesen war.

Er wußte genau, wie zahlreich Breides Liebschaften, wie stets dem Vetter Don Juan es gleichgiltig gewesen sei, ob eine Prinzessin, ob ein Bauernmädchen ihm im Herzen saß: rücksichtslos, ohne Unterschied zu machen, war Breide »drauflosgegangen«, wies ihm paßte.


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