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Am andern Morgen hatte die Fürstin das folgende Schreiben von Detlev erhalten:
Liebe Wulfhilde!
Ich wollte mich bei Dir auf einige Monate nach Italien beurlauben. Meine Adresse ist: Taormina. Sicilia. (Via Reggio-Messina.) Ich kenne und liebe das kleine Erdbebennest schon seit Jahren.
In Bredenfleth ist es nicht mehr zum Aushalten. Ich hatte mich, so gut ich konnte, den Wunderlichkeiten Hennings gefügt. Nun aber gehts nicht länger. Seit einigen Tagen hat mein Bruder zwei Wanderprediger, sogenannte Sendboten, im Schlosse. Er hat sie aus Süddeutschland verschrieben. Der eine ist dick wie ein Elefant, der andre dünn wie ein Zündhölzchen und zerrissen wie eine alte abgelegte Aalhaut. Der eine war Schneider, der andre Pantoffelmacher. Beide sind jedenfalls ehrenwerte Männer, gegen deren Ruf nichts zu erinnern sein wird.
Hast Du sie denn bei Deinem letzten Hiersein nicht gesehen? Jedenfalls hängt mit diesen die plötzliche Andernsinneswerdung wegen der Begleichung von Breides Restschulden zusammen. Vielleicht ist Henning der Engel des Herrn – auch Dir wird er es erzählt haben – in Gestalt des Dicken erschienen. Er ist gänzlich in den Händen der beiden »Erweckten«; und diese jedenfalls, denen er sich anvertraut hat, haben ihm abgeraten, um schließlich das ganze große Vermögen für die Kirche zu gewinnen.
Dann aber auch ist es mir unerträglich, die letzten Zuckungen Breides ansehen zu müssen. Er hat es selbst gewollt, denn sein Leichtsinn übertrifft alle denkbaren Fälle. Ich darf und kann und will kein Pharisäer sein – aber er machte es zu stark. Nun sind die Folgen da. Heilwig bedaure ich mit meinem ganzen Herzen. Welch ein Weib! Und daß sie treu bei ihm ausharrt. Dir, meine liebe Wulfhilde, bezeige ich meine höchste Bewunderung. Wenn ein Mann wie Breide solche Frau und solche Schwester hat, kann er nicht untergehn. Und doch fürchte ich …
In den »Föhrdener Nachrichten« stand ja schon gestern unter: »Amtlichen Bekanntmachungen« die anberaumte Zwangs-Versteigerung. Welche schwere Tage und Wochen stehen Euch bevor. Hätte ich das Geld, so würde ich zweifelhaft sein, Breide zu helfen; denn nur den Gläubigern, von denen ihn die meisten aufs schändlichste betrogen haben, die Summen in den Rachen zu schleudern, halte ich für nicht richtig.
Als ich, zweimal zusammengebrochen, zweimal wieder emporkam, war es nicht Henning allein, sondern auch Breide, der mich rettete. Und das will ich ihm nicht vergessen. Vielleicht hab ich später Gelegenheit.
Willst Du Heilwig und Breide aus diesem Schreiben mitteilen, was Du für gut findest.
Dir aber und Heilwig und Breide darf ich nicht mein Mitleid – es liegt so etwas Klägliches, ja oft Kaltes, Höhnisches im Mitleid – wohl aber mein inniges Mitgefühl sagen.
Weg nach Süden aus unserm überernsten, überstillen Schleswig-Holstein.
In alter Anhänglichkeit
Dein
gehorsamster Vetter
D. H.
Die Fürstin erzählte ihrer Schwägerin und ihrem Bruder aus der Zuschrift Detlevs. Sie bemerkte nicht, daß sich über die Züge Heilwigs Schreck und Freude, Erblassen und Erröten jagten. Auch fiel es ihr nicht auf, daß die Baronin zu ihrem Manne trat, dessen Kopf in ihre Hände nahm und ihn küßte.
Breide, in übermütiger Stimmung, als hätte er das große Los in diesem Augenblick gewonnen, sprang auf und sagte:
»Kinder, gestern machte ich meinen Abschiedsritt durch meine Wälder und Felder; heute will ich meinen Abschiedsgang gehen. Wir haben heute den 1. September, ich nehme Don und mein Gewehr mit, um Euch einige Hühner zu schießen. Das Wetter ist so köstlich. In manche Kathe möchte ich noch einmal treten, manchen Baum, manche liebe Stelle noch einmal – zum letztenmal – begrüßen. Noch gehört ja alles mir … Vielleicht komme ich spät nach Hause …«
Und seinen Lefaucheux aus dem Schranke nehmend, Don heranpfeifend, der trotz seines Rheumatismus im linken Hinterbein wie außer sich herumsprang (merkte er doch, daß es zur Jagd ging), empfahl sich Breide den Damen.
Wulfhilde und Hellwig sahen ihm aus dem Fenster nach. Wie ihm der schier tausend Jahre alte graue Filz mit der einfachen Sperberfeder gut auf den braunen Haaren saß. Wie frischweg er ging, wie ungebeugt und schlank er schritt. Nun sah er noch einmal grüßend zurück, und dann, sich wieder vorwärts bewegend, warf er spielend sein Gewehr in die Luft, als tanze er die Fantasia vor einem Trupp lustiger Araber.
Die beiden Frauen am Fenster verfolgten ihn, so lange ihre Augen ihn noch erreichen konnten.
»Ich werde bis an mein Grab nicht klar über ihn,« sprach die Fürstin, »ein solcher Lebensmut in schwerster Lebenslage ist einzig.«
»Ach, selbst jetzt beugt er sich nicht, Wulfhilde.«
»Du sollst sehen, Heilwig, wie stolz Du noch auf Deinen Mann werden wirst. Die eiserne Notwendigkeit, der furchtbare Sturm seines Schicksals, das Erkennen endlich der Selbstschuld biegt ihn, aber bricht ihn nicht …« Dann fuhr sie fort: »Er weiß es scheinbar noch nicht, daß die Zwangs-Versteigerung von dem Gericht in den Blättern angezeigt ist. Ich mochte es ihm nicht sagen, um ihm den letzten Tag nicht zu verleiden.«
»Die Zwangs-Versteigerung steht schon in den Blättern?« fragte Heilwig mit großen Augen.
»Einmal mußte es doch geschehen. Je eher daran, je eher davon, weißt Du, liebe Heilwig.«
»Aber wenn er es läse in einem Dorfkruge; wenn irgend ein taktloser Mensch ihn fragte … Die »Föhrdener Nachrichten« hält jedes Haus.«
»Nun denn, dann ists nicht so schlimm. Einmal muß er es doch erfahren. Und den Leuten, die es lesen, ist es keine Neuigkeit. Die ganze Provinz hat ja die Worte Bredenfleth und Wittensee im Munde seit Wochen.«
Unterdessen war Breide seinen Weg gegangen. Aus der langen Kastanienallee bog er in einen Redder ein. Die Hitze drückte afrikanisch heiß auf die Knicks und auf den engen Weg. Der Jäger schob seinen Hut in die Stirn hinauf, daß ein Büschel Haare auf die im Gegensatz zu dem übrigen stark gebräunten Gesicht blendend weiße Fläche fiel. Langsamer trat sein Fuß. Beim nächsten Heckthor blieb er stehen, legte Hut und Gewehr ab und setzte sich in den Schatten.
Um sich schauend, sah er mit stiller Freude auf die ihm bekannten und so vertrauten Gräser und Blumen. Er pflückte sich – noch war sein das Feld – ein Sträußlein von blauen Glockenblumen, gelbem Hartheu, Schafgarbe mit ihren weißen Doldenblümchen, hellschwefelgelbem Leinkraut, und weil ers noch erreichen konnte mit der Hand, ohne sich erheben zu müssen, riß er einige der tiefschwarzen Beeren der Ahlkirsche und ein Zweiglein einer Krüppeleiche an sich. Wie ein junges schwärmerisches Mädchen legte der große, hübsche Gardeulanenrittmeister a. D. alles auf seinen Schoß und fing zu ordnen an. »Etwas geschmacklos in der Zusammenstellung,« lachte er »aber die Natur in allen ihren Erzeugnissen ist schön. Nichts geht mir über einen Feldstrauß.«
Plötzlich sah er auf und horchte. Nicht weit von der Stelle, wo er sich im Schatten ausgestreckt hatte, unsichtbar im Wege, hörte er eine Drehorgel, und eine tiefe, nicht unschöne Männerstimme sang:
Unser Kaiser liebt die Blumen,
Denn er hat ein zart Gemüt,
Doch von allen liebt er eine,
Die in keinem Garten blüht.
Nicht nach Rosen steht sein Sehnen,
Draußen pflückt er sich im Feld
Eine kleine blaue Blume,
Die er für die schönste hält.
Unvergeßlich bleibt Luise,
Preußens Stolz und lichter Stern,
Sie trug einst die blaue Blume
Als den schönsten Schmuck so gern.
Darum hat der Sohn, der edle,
Sie als Liebling sich erwählt,
Weil die Liebe seiner Mutter
Wunderbar sein Herz beseelt.
Unbeschreiblich war der Zauber dieses einfachen, zum Volkslied gewordnen Gedichtes und seiner ins Herz gehenden melancholischen Melodie immer auf Breide gewesen. Er konnte sich keine Rechenschaft davon geben … Nun schaute er, ganz wie abwesend, während die Orgel immer weiter spielte und der Gesang immer weiter tönte, in die blaue Ferne. Wie wohl und weh ihm war … Noch einige Felder waren mit Hafer und Weizen besetzt. Zwischen durch flimmerte die Lupine, die zuweilen ihren honigsüßlichen Geruch auf einer Luftwelle sandte. Weit entfernt war schon wieder ein Pflug beschäftigt. Über Breide weg flogen die Saatkrähen; sie wollten zum Pfluge, um hinter ihm her zu äsen. Eine Goldammer tirilierte ihm zu Häupten in einer jungen Eller unaufhörlich ihr: »Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer – mehr.«
Breide hatte sich gelegt, die Hände unter den Kopf verschränkt, und starrte in den Himmel. Ein unermeßlich hoch über ihm stehendes weißes, zerfasertes Schäferwölkchen wollte nicht von der Stelle. Wie angeklebt hing es am blauen Dach. Und immer noch klang das Lied. Etwas Unbehilfliches, etwas Kindliches, Unschuldiges lagerte auf dem frischen Gesicht Breides.
Nun näherte sich, weiter spielend, der Leierkasten; plötzlich verstummte die Musik und im Heckthor stand der Invalide Hermann Hansen. Breide wandte ihm die Stirn zu und lachte.
»Was, Schwerenot, Hansen, orgeln Sie hier im Redder den Spinnen und Fliegen; oder haben Sie mich einbiegen sehen?«
»Ja wohl, Herr Rittmeister. Ich sah Herrn Rittmeister ins Heck gehen. Und ich weiß, daß es das Lieblingslied des Herrn Rittmeisters ist.«
Breide (das kannte Hansen schon) schenkte ihm ein Zweimarkstück und erkundigte sich, wies ihm ginge. Als er Antwort erhalten, sagte er: »So, Hansen, nun gehen Sie. Noch einmal, wenn Sie am Schülper Weg ankommen, spielen Sie nur zwei Strophen, aber nicht mehr … Das Lied …« greift mich an, wollte er weiter sprechen …
Nach einer Viertelstunde tönten ihm zwei Strophen vom Schülper Weg herüber. Es war zum Herzzerspringen traurig. Gut, gut, daß das Lied dann verstummte …
Der Baron sprang mit einem Ruck auf: »Ah, was! Vorwärts!« Und den kleinen Strauß wie einen Schmuck an die Jagdtasche bindend, schritt er wieder in den Redder hinein.
Kaum war er drei Minuten gegangen, als ihm Trien Heeschen begegnete. Trien Heeschen wanderte durch diesen Weg schon über sechzig Jahre mit ihrem Brodkorb. Hin zu den Dörfern und zurück von ihnen benutzte sie diesen Paß so lange schon.
»Na, wa geit't mit' Geschäft, Triena; kannst brav Stuten (Semmel) verköpen?«
»De Tid is wat slecht. Dat help sick sacht so dörch, Herr Baron,« erwiderte die Alte.
»Na, dat ward all gahn, Triena.« Der Rittmeister schenkte ihr einen Thaler. Wie oft schon hatte er das gethan, wenn sie sich begegneten. Was war denn das? Die Greisin hatte Thränen in den Augen. Sie und der Jäger kannten sich so lange schon. Sie durfte die Frage sich erlauben:
»Dat kann ick nich glöben, dat uns' gnädige Herr uns verlaten will. De Lüd sengn dat ja. Nä, nä,« sagte sie weich, »bliv'nSe bi uns, Herr Baron.«
»Dat treckt sick allns wedder trecht,« antwortete Breide. Er wollte lächeln, aber es ging nicht. »Addüs, Triena.« Und bald war er ihren blöden Augen verschwunden.
Die Sonne hatte ihren Höhepunkt erreicht. Wie der Pascha stieg sie nieder, der durch sein Leben im Sichelwagen gestanden hat, dem hochentrollte Fahnen vorgetragen sind, den ewiges Triumphgeschrei und Siegeslieder bis zum Stumpfsinn umrauschen.
Die Nachmittagshitze wurde immer drückender. Breide eilte einem Wäldchen entgegen, dem Nerthusholz. Statt der deutschen Göttin zerbröckelte hier im tiefsten Tann eine Diana von Versailles. Dort wollte er sein Frühstück verzehren. Auf dem Plätzchen fand er Lene Benk, deren Mutter eine Zigeunerin gewesen. Sie sammelte Kräuter für ihre Großmutter. Diese war ein altes abscheuliches zahnloses Weib. Es klang wie aus einem Märchen: am Waldrand wohnte sie; das hatte ihr Breide erlaubt. Von allen andern Gütern und Dörfern wurde sie stets vertrieben. Sie stahl aber auch wie der abgefeimteste Dieb. Den Rittmeister kümmerte das wenig. Die Bauern behaupteten zwar, er dulde sie nur, weil ihr hübsches glutäugiges Tochterkind bei ihr wohne.
Lene erschrak nicht, als er in ihre Nähe kam. Sie blieb ruhig auf den Knieen liegen und suchte weiter. Aber sie kicherte und schielte nach ihm. Alle Weiber können rückwärts schauen.
Der Rittmeister schien sich nicht um sie zu bekümmern. Er setzte sich auf den Sockel der verfallnen Statue und nahm seine Eßvorräte aus der Tasche. Dann rief er leise: »Lene, komm her. Wir wollen zusammen frühstücken.« Und wie eine Eidechse huschte sie heran, kauerte sich zu seinen Füßen und blitzte ihn an. »Mach den Mund auf, Lene,« und der Rittmeister schob ihr ein eibelegtes Butterbrödchen zwischen die weißen Zähne. Sie sprachen nicht viel beim Essen. Er behandelte sie wie ein Kind. Nach beendeter Mahlzeit machte sie ihm Feuer zur Cigarre. Dann kauerte sie wieder zu seinen Füßen. Als Breide, übermüdet von seinem Wandern, einschlief, brach sie Farnkraut ab und fächelte ihm Kühlung. Sie hockte sich dicht an sein Haupt und fächelte und fächelte. Als der Baron erwachte, lachte er: »Du mußt ein rotes Tuch zu Deinen schwarzen Haaren haben,« und ihr Geld gebend, sagte er: »zeigs nicht der alten Hexe, sonst stiehlt sies Dir unterm Stroh weg.« Als er sich erhob, fiel das wunderhübsche Mädchen vor ihm nieder und küßte ihm die Hände. »Gut, gut, Lene, steh auf.« Sie aber ließ die rabenschwarzen Haare über seine Finger fließen. Und fremde Worte murmelnd, stand sie auf. Er legte ihr die Hand um die Schulter, und ohne zu sprechen, wanderten sie an den nächsten Rand des Wäldchens. Als sie dort angekommen waren, hörten sie das sanfte, pfeifende Rufen des roten Milan. Beide beschatteten mit den Händen die Augen und sahen in die Höhe. Da schwamm der herrliche Gabelweih, ohne Flügelschlag, minutendurch nur fortwährend den langen Schwanz als Steuer gebrauchend. Als hinge er an einem unendlichen Himmelsbindfaden, so sahs aus. Dann schlug er zweimal, dreimal langsam mit den starken Fittichen und verschwand im grellsten Sonnenlicht.
Der Rittmeister schritt allein in die Glut hinein. Das Mädchen beobachtete ihn, bis er hinter einer Höhe untertauchte, dann suchte sie weiter im Holz nach ihren Kräutern.
Plötzlich blieb Breide stehen, wie um sich zu vergewissern, wo er sei. Und da lag auch schon das kleine Haus, das er suchte. In zwanzig Minuten konnte er es erreichen. Von hier aus dunkelte ihm nur das Strohdach entgegen. Neben dem Gebäude streckte ein verdorrter, gestorbener Apfelbaum seine Äste in die Luft. Wie eine große Koralle machte sichs von seinem Standpunkt aus. Als er in die Kathe getreten, starrten ihn vier, fünf unendlich schmutzige Kinderchen an, die alle die Daumen in den Mäulerchen Verstecken spielen ließen. Breide fragte das älteste, ein flachshaariges Mariechen, wie es der Mutter gehe. Mariechen aber lief weg; und ihr hinterdrein flohen die Geschwister. Nun betrat er die Stube. Er kannte ja jeden Punkt auf seiner Besitzung. Im Bette, das Heilwig geschickt, lag das arme Weib in den letzten Zügen. Es war kein Mensch sonst in dem engen, dumpfigen Raum. Die Frau erkannte Breide. Sie versuchte lächelnd sich emporzurichten. Es ging nicht. Nun versuchte sies noch einmal, die abgemagerte Rechte um den Quast legend, der über ihrem Lager als Haltepunkt hing. Es ging nicht mehr. Da holte Breide alle Kinder herein und ließ sie ums Bett stehen. Das jüngste, auch schmierigste, nahm er auf den Schoß. Die Geschwister beobachteten ihn ernst, erstaunt, neugierig. Dann sprach er sanfte Worte der Sterbenden ins Ohr: sie solle ruhig sein, für ihren Mann und die Kinder würde er sorgen. Und als er das Gesangbuch auf dem Tische fand, las er ihr die herrlichen Verse:
Befiehl du deine Wege
Und alles, was dich kränkt,
Dem treuen Menschenhüter,
Dem, der die Himmel lenkt.
Und mit einem letzten dankbaren Blick auf ihre Kinder neigte die erlöste Frau das Haupt zur Seite und ging zu Gott.
In diesem Augenblick trat Pastor Tröster ein. Er und Breide hielten viel voneinander. Sie waren beide treue, gute Menschen. Der Baron ließ für die Kinder ein großes Stück Geld zurück. Der frische, werkthätige, junge Pastor bat Breide, zu gehen. Er ahnte, daß es Breides letzter Gang über sein Besitztum sei.
Und sich die Hände kräftig und verständnisvoll drückend und schüttelnd, trennten sie sich.
Noch immer war er nicht zum Schuß gekommen. Das war sonst nicht seine Art. Er übte leidenschaftlich die Jagd. Don schien auch sehr unzufrieden mit seinem Herrn zu sein. Er schob, mißmutig schon seit Stunden, hinter Breides Fersen her. Einige Male hatte er »gestanden«; sein Herr aber hatte das nicht einmal bemerkt. Unerhört. Und er kam auch im Laufe des Nachmittags nicht dazu, das Gewehr an die Backe zu ziehn.
Überall blieb er bei den Leuten stehn, die ihm begegneten. Mit allen wechselte er freundliche, gute Worte.
Nun wollte er auch noch der kleinen, rundlichen, lebhaften Frau Holsen auf Amönenhöhe und ihren schlanken Töchtern Lebewohl sagen. Frau Holsen, in Wesselburen geboren, war Witwe und hatte seit langer Zeit das Wirtshaus Amönenhöhe in Pacht von Breide. Im Sommer vermietete sie ihre Zimmer an Sommerfrischler aus Hamburg und aus den holsteinischen Städten.
Als sich der Rittmeister auf der Veranda niedergelassen hatte, ohne daß er von irgend einem der Hausgenossen bemerkt war, fand er auf dem Tisch vor sich das Januarheft 1880 der Monatsschrift »Nord und Süd«. Wahrscheinlich war es von einem Gaste bei seiner Rückkehr in die Stadt vergessen worden. Er schlug, wie in Gedanken, die Zeitschrift auf und fand in einem Aufsatz von Eduard von Hartmann: »Die Bedeutung des Leids« eine Stelle, die ihm besonders zusagte:
»Das allein weise Verhalten gegenüber dem unaufhebbaren Leid ist also: Kein Bedauern und keine Reue über Vergangnes, keine Sorge und Furcht vor Zukünftigem, und keine Ungeduld und keinen Mißmut über Gegenwärtiges.«
Er sah vom Buche auf, um über das Gelesene nachzudenken. Wie ein zureichender Trost schien ihm der eben gelesene Satz. Er beruhigte ihn.
Immer stiller wurde es um ihn her. Aus dem kleinen, von prächtigen Linden, über denen noch die Schwalben zwitschernd hin und her schossen, umgebnen Teich schwamm, die Flügel schlagend, eine weiße Ente nach der andern ans Ufer, um hier, in langer Reihe, nach ihrem Stall zu watscheln. Ein fünfjähriger Knabe bemühte sich gewaltig, alle möglichen Steinchen und Stöckchen zu sammeln, um mit diesen die Enten zu treffen. Die wackelnden Vögel schienen sich aber nicht im mindesten um den kleinen Taugenichts zu kümmern.
Plötzlich hörte Breide im Zimmer, dessen Fenster geöffnet nach der Veranda standen, eine Männerstimme:
»Nun will ich Dir zeigen, Bertha, wie ein Gedicht entsteht. Das wolltest Du ja immer gerne wissen. Als wir gestern Abend durch den Wald gingen, trat, wie Dir erinnerlich (wir erschraken beide), der alte Glasermeister Möller hinter einem Baum hervor. Er hatte sich dort seine Pfeife angebrannt. Im selben Augenblick hatte ich den Anfang des Gedichtes. Den alten Kerl hielt ich für einen Nebenbuhler.«
Das reizende junge Mädchen, dem dies erzählt wurde, lachte. »Nun, das ist ja köstlich. Bitte, bitte, wie heißt das Gedicht?«
In diesem Augenblick sah Breide hinein, ohne von den beiden gesehen zu werden. Der junge Mann, den er als Verlobten der hübschen Bertha erkannte, begann, den Kopf stolz und hochmütig zurücklegend, wie im Trotz:
Wenn Du zitterst und in Angst
Vor dem Nebenbuhler bangst,
Laß das Lieben, laß das Küssen,
Lieben heißt: aus Feuergüssen
In verschwiegne Mondesnacht
Unversehrt den Raub gebracht.
Zipfelt hinter jenem Baum
Deines Mitbewerbers Saum,
Höhnisch lach dem sich Verberger,
Daß er stickt vor Wut und Ärger;
Tigert er auf Dich hinaus,
Tatz ihn, wie die Katz die Maus.
Laß ihn liegen. Rotes Blut
Düngt die Erde gern und gut.
Dann im dunklen Frühlingsgarten
Wird Dein Mädchen Dich erwarten,
Und empfängt den stolzen Herrn –
Zärtlich scheint der Liebesstern.
Bertha lachte: »Das klingt ja wie ein Räuberhauptmannslied.« Ihr Kavalier sagte ein wenig ärgerlich: »Das verstehst Du nicht, liebes Kind.«
Dann aber zog er das Mädchen stürmisch an sich, und sie küßten sich leidenschaftlich.
Breide klopfte an Fenster, um sich bemerklich zu machen.
* * *
Es war schon völlig Abend geworden, als der Baron in Dorf Wittenfee anlangte. In »Den blauen Lappen« tretend, das kleine Wirtshaus vorm Eingang zum Parke, das stets an einen ausgedienten Schloßbedienten verpachtet war, traf er keinen Menschen in der Schenkstube. Auf dem Tisch lagen die neuesten »Föhrdener Nachrichten«. Er sah wie zufällig hinein und las:
Zwangs-Versteigerung.
Im Wege der Zwangsvollstreckung soll das im Grundbuch eingetragene, dem Freiherrn Breide von Hummelsbüttel gehörende adliche Gut Wittensee
am Montag, den 7. September 1884,
Nachmittags 2 Uhr,
von dem unterzeichneten Gericht an Ort und Stelle versteigert werden.
Die Grundstücke etc. etc.
Das Urteil über die Erteilung des Zuschlags wird am Freitag, den 11. September 1884, mittags 12 Uhr,
an Gerichtsstelle verkündet werden.
Föhrden, den 24. August 1884.
Königliches Amtsgericht, (gezeichnet) von Siechem.
Wie vom Schlage gerührt stierte Breide auf die Zeitung. Er war leichenblaß geworden. Gewiß hatte ihm das Gericht längst die Anzeige gemacht. Aber durch so viele gerichtliche Briefe und Gläubigerschreiben in große Aufregung geraten in den letzten Monaten, hatte er unverantwortlicherweise selten eine Zuschrift geöffnet.
Und nun, hier, im eignen Dorfkrug, mußte er das Schreckliche, das ihm doch längst schon bewußt sein mußte, lesen.
Er schlich sich zur Thür hinaus und stand nach wenigen Minuten vor Heilwig und Wulfhilde, die ihn ängstlich erwartet hatten. Die Damen wußten alles. Zitternd schloß er Heilwig in die Arme.
Als er sein Schlafzimmer betreten hatte, öffnete er das Fenster. Die Nacht lag weich und schwül; der Vollmond stand am Himmel und gab sein weißes Licht der schlafenden Natur. Aus dem Garten klang einmal der klagende Ruf eines in seinem Neste überfallnen Vogels. Und stumm um ihn her lag alles.
Lange stand er und schaute hinaus. Endlich sagte er: »Ich will leben. Ich will nicht untergehn. Ich will ein Mann sein.«