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Im Arbeitszimmer auf Bredenfleth saßen sich Henning und Justizrat Möllwind gegenüber.
Es war am Tage vor dem Verkauf von Wittensee.
Da Detlev Hummelsbüttel, der gewissermaßen als Zeuge bei den Vorverhandlungen erwünscht gewesen, abgereist war, hatte der Rechtsanwalt dem Gutsbesitzer von Bredenfleth den Grafen Heesten auf Heidrehm als Stellvertreter vorgeschlagen. Henning war darauf eingegangen. Aus welchem Grunde der Justizrat grade den ihm nicht sehr genehmen Herrn von Heesten ausgesucht hatte, blieb unentschieden. Der Gutsherr von Heidrehm hatte sofort, wenn er auch ein wenig sich verwunderte, daß auf ihn die Wahl gefallen, angenommen. Er hoffte Breide nützlich sein zu können. Graf Heesten war, so zu sagen, der Unparteiische.
»Ich versichere Ihnen, Herr Graf, noch vor einigen Tagen hat Baron Breide das Geld gradezu weggeschleudert, wie man Asche auf den Kehricht wirft. Das ist in der That ein Leichtsinn, der vor die Gerichte gehört. Es ist gut, daß das morgen unter allen Umständen ein Ende erreicht. Und Sie sind gewillt, um jeden Preis Wittensee zu kaufen?«
»Um jeden Preis, Herr Justizrat.«
»Aber es könnte sein, Herr Graf, daß die Schlußsumme unverhältnismäßig hoch wird. Die Gläubiger – es sind dreihundert und einundzwanzig – bis zu denen hinunter, die 20 oder 30 Pfennige zu fordern haben, sind entschlossen, den Preis zu schrauben, da ihnen bekannt ist, wie sehr Ihnen am Erwerbe Wittensees gelegen ist.«
»Wie denn sollen die Gläubiger das Geld aufbringen, wenn sie gegen mich halten wollen? Das ist ja undenkbar.«
»Sie dürften irren. Das Geld spielt bei solchen Anlässen keine Rolle. Das ist vorhanden.«
»Nun, ich verstehe das nicht. Genug, ich wünsche Wittensee zu haben. Die Gründe sind Ihnen bekannt. Außerdem habe ich beschlossen, im Herrenhaus des Gutes eine Erziehungsanstalt für junge Geistliche einzurichten, die später in die Welt hinausgehen sollen, um dem greulichen Unglauben zu steuern und die Seelen zu erwecken. Jetzt aber wollen wir beten.«
Henning schlug die Bibel auf und legte seinen Kopf hinein, lange, unverständliche, eintönige Bitt- und Klagelieder murmelnd.
Der Justizrat saß hinter ihm, die Hände auf dem Bäuchlein gefaltet, und sah mit komischer Miene über seine Brillengläser auf den Grafen. »Durchaus verrückt,« dachte er.
Graf Heesten wurde gemeldet.
Wie eine Erlösung kam es dem kleinen Rechtsanwalt. Er war nahe daran gewesen, in Angstschweiß auszubrechen.
* * *
Graf Heesten und der Justizrat hatten der Einladung Hennings Folge gegeben und blieben die Nacht auf Bredenfleth. Die Herren hatten zwei Zimmer nebeneinander, deren Verbindungsthür offen stand.
»Kommen Sie, kommen Sie, Herr Graf. Eine ausgezeichnete kalte Küche, warme Plättchen darunter, steht vor mir. Lasten Sie nicht länger auf sich warten.«
»Da bin ich schon,« sagte eintretend der Erbherr auf Heidrehm.
Die Herren gerieten bald, kräftig den vor ihnen lagernden Weinen und guten Sachen zusprechend, in ein eifriges Gespräch.
»Ist es Ihnen erklärlich,« sagte der Rechtsanwalt, »wie ein Mann von so klarem Verstande, wie ihn Graf Hummelsbüttel besitzt, so völlig sich verrennen kann in religiösen Wahnsinn? Ich versichere Ihnen, daß ich in meiner langen Praxis niemals einen Menschen wie dem Grafen begegnet bin, der in so genialer Weise ein ungeheures Vermögen verwaltet und vermehrt hat. Er hat das Genie Bleichröders. Und dabei dieser Blödsinn, dieses sich selbst aufs äußerste Peinigen und Quälen.«
»Auch mir ist die Sache ein Rätsel. Er muß es geerbt haben. Wer weiß, wer von seinen Vorvätern vor hunderten von Jahren schon dieselben Gedankengänge gehabt hat.«
»Ich begreife nicht, daß nicht die Regierung, der Oberpräsident, der Landrat des Kreises aufmerksam geworden sind. Haben Sie denn nicht von den Tubachören und Flötenschülern gehört, die der Graf auf seinen Dörfern heranbilden läßt, daß sie geistliche Gesänge begleiten. Das ist ja Gefahr für die Sittlichkeit.«
»Der Landrat des Kreises, Herr von Birkenstock, ist selbst ein außergewöhnlich frommer Mann. Trotzdem er nie aus seinem Bureau herauskommt, – der Neid muß ihm lassen, daß er der fleißigste Mensch des Weltalls ist, denn er sitzt Winters und Sommers von früh fünf Uhr am Schreibtisch –, glaube ich allerdings, daß er Kenntnis haben muß. Aber er wird im stillen sehr mit den Tubachören und Flötenschülern übereinstimmen. In seiner Beschränktheit, in seinem stark ausgeprägten Hochmut hält er diese Art von christlichem Wandel für durchaus geeignet, die mehr und mehr zunehmende Außerachtlassung des Kirchenbesuchs wieder zurückkehren zu lassen.«
»Aber der Oberpräsident.«
»Der Oberpräsident, wie der Landrat Birkenstock, ist ein außergewöhnlich fleißiger, thätiger, umsichtiger Mann. Um fünf Uhr täglich sitzt auch er am Schreibtisch. Eine große Klugheit unterstützt seinen Fleiß. Es kommt bei diesem jedoch dazu, daß er kein Einheimischer ist. Er betrachtet wahrscheinlich seinen Posten nur als Übergang zum Minister. Da gilt es, sehr vorsichtig zu segeln. Der Satrap einer Provinz muß immer in der Provinz selbst geboren sein. Er muß jeden Dachziegel, jeden Kohlkopf kennen. Er muß die Sprach- und Sprechweise des ihm unterstellten Landes genau verstehen. Vor allem: er muß Herz haben. Vincke bleibt das Muster aller Oberpräsidenten. Nein, nein, ich wiederhole: der höchste Verwaltungsbeamte muß aus den guten Familien der Provinz – gleichgiltig, ob vom Adel oder nicht – hervorgegangen sein. Und zum Schluß: er darf nicht des Geldes wegen dienen. Schwer reich soll er sein. Er muß vorstellen können.«
»Da bleiben uns nur die Gendarmen übrig.«
»Die Stellung eines Gendarmen – die unbequemste vielleicht im Deutschen Reich – steht, was Takt anbelangt, auf derselben Stufe mit unsern Botschaftern und Gesandten. Bald sollen sie sehen, bald sollen sie nicht sehen. Ich habe vor unsern Gendarmen immer die größte Achtung gehabt. In unserm Falle also nehme ich den Oberpräsidenten, die Regierung, den Landrat und die Gendarmen völlig in Schutz. Was denn ist vorgefallen bis jetzt? Daß ein reicher Mann Betstunden hält, sich »Sendboten« aus Süddeutschland verschreibt, seine Dienerschaft langweilt durch häufige Andachten, auf seinen Höfen und Dörfern Tubachöre errichtet – das alles ist doch kein Grund zum Einschreiten der Behörden?«
»Sie werden sehen, Herr Graf, die Sache nimmt kein gutes Ende.«
»Daran zweifle ich nicht einen Augenblick.«
»So müßte vorgebeugt werden …«
Die Thür öffnete sich, und der alte Kramer trat mit leichenblassem, erregtem Gesicht ein. Er vergaß auch jetzt den Kammerdiener nicht.
Nach einer tiefen Verbeugung sagte er etwas unsicher:
»Ich bitte recht sehr um Vergebung, meine Herren, daß ich in so später Nachtstunde noch erscheine, allein ich glaube, daß es mir meine Pflicht gebietet …«
Wie aus weiter Ferne klangen Posaunenstöße.
Graf Heesten und der Justizrat sprangen auf, und wie auf ein unausgesprochenes Befehlswort folgten sie Herrn Kramer, der mit einem Laternchen ihnen voranschritt durch lange Zimmerreihen und Gänge. Endlich waren sie im westlichen Teile des weitläufigen Gebäudes angekommen. Herr Kramer bat seine Begleitung mit einer Handbewegung in eine Nische und löschte sein Licht.
Mit dumpfen Tubatönen, mit Fackelträgern näherte sich ihnen ein feierlicher Aufzug. Voran ging Lesage. In jeder Hand hielt er einen dreiarmigen Leuchter mit brennenden Kerzen. Das gelbe Gesicht des Kerls mit dem gemeinen Ausdruck sah gradezu scheußlich aus. Hinter ihm wankte der Graf wie ein Betrunkner; auch seine Augen stierten wie die eines schwer Betrunknen, sein Antlitz war aschfahl. Mein Gott, mein Gott, war das der frühere »schneidige« Garde-Dragonerrittmeister?
Rechts und links wurde Henning unterstützt von dem dicken und dem dünnen Sendboten, vom Pantoffelmacher und vom Schneider. Eine infame, niederträchtige Geberde lag auf ihren Zügen.
Dann folgten dickbackige Bauernburschen, Kutscher, Käthner, Gärtner, die die abscheulichsten Töne in die Posaunen stießen. Ihnen endlich folgte eine Schar von ältern Männern, die unaufhörlich unverständliche Gesänge plärrten.
»Dieser Auszug ist der erste der Art,« flüsterte der alte Kramer.
Graf Heesten wollte wütend auf die Vorüberziehenden losspringen. Der Justizrat hielt ihn zurück: »Noch nicht.«
So watschelte, wackelte, wanderte im Grabesschritt die Gesellschaft bei ihnen vorbei.
Heesten, Möllwind und Kramer schlossen sich unbemerkt dem Zuge an. Dieser endete in einem zur Kapelle eingerichteten Eckzimmer. Immer noch unbemerkt standen die drei. Doch konnten sie alles überschauen.
Der Graf wurde in einen mit schwarzem Tuch über und über behangenen Stuhl gesetzt, der vor einem zum Altar umgewandelten Tische stand. Lesage setzte auf diesen die Leuchter und trat dann zurück. Hinter dem Sessel des Rittmeisters hatte sich die Begleitung im Bogen aufgestellt. Es paßte alles, als wären Proben vorhergegangen.
Nun betrat der Dünne die Stufen des Altars und begann eine donnernde Rede. Er sprach scharf dem armen Henning ins Gewissen. Immer frecher, immer fanatischer schmähte er auf alle, die nicht dem Glauben anhingen.
»Soll ich dem Schuft an die Gurgel?« murmelte Heesten.
»Noch nicht, noch nicht,« hielt ihn der Justizrat zurück.
Der Dünne hatte geendet, und der Dicke (der Pantoffelmacher) trat vor. Seine Predigt – er sprach nicht schlecht – klang gemäßigter. Aber auch er peinigte den vor ihm Sitzenden.
»Sind denn die Bauern, die Dienerschaft Hennings solche feige Bande, daß sie nicht vorstürzen und die Kerls zerreißen,« flüsterte wieder Heesten.
Der Pantoffelmacher, ein abscheuliches Lächeln auf dem fetten Gesicht, schloß mit einer furchtbaren Drohung auf die ewigen Höllenstrafen.
Da hielt es Herrn von Heesten nicht mehr. Mit einem gewaltigen Sprunge stand er vorm Altar. Und rechts und links die Sendboten vor die Brust packend, schleuderte er sie in die Ecken: »Schufte, verdammte, ins Gefängnis mit Euch.«
Dann winkte er den Knechten und gebot ihnen – alle gehorchten willig – die beiden Betrüger festzunehmen und sie bis zum andern Morgen ins Spritzenhaus zu stecken. Als arge Betrüger und Spitzbuben sind die beiden schon in den nächsten Wochen – von der Staatsanwaltschaft angeklagt – von den Gerichten bestraft.
Henning Hummelsbüttel wurde ohnmächtig, unterstützt vom Justizrat und vom alten zitternden Kramer, in sein Schlafzimmer getragen.